»Österreich ist ein Land der Diversität. Ich will keinen – das nenne ich auf Deutsch so – ›Einheits-Österreicher‹ schaffen. Wir sind divers, bleiben divers, aber wir sollten miteinander reden, einander zuhören.« So sprach Alexander van der Bellen, der voreilig angelobte österreichische Bundespräsidentschaftskandidat, am 25. Mai 2016. Was ist hier natura naturata und was ist natura naturans? Für van der Bellen ist die Lage klar: Die natura naturata ist die natürliche »diversity«, Österreich ein Land der multikulturellen Verschiedenheit der Menschen. Und in diesem schönen Land erstarken die Rechten und planen, einen homogenen Homunkulus zu erschaffen, auch »Einheits-Österreicher« genannt – ein sekundäres Produkt willentlichen menschlichen Eingreifens in die Natur, eben: natura naturans. Ist es nicht in Wirklichkeit ganz einfach umgekehrt? Gab es nicht vielmehr ein homogenes Volk, das erst durch jahrzehntelange Replacement migration »divers« geworden ist? Van der Bellen hat hier einen gedanklichen Wegbereiter, nämlich den Sondergesandten für Migration der Vereinten Nationen und langjährigen Aufsichtsratsvorsitzenden von Goldman Sachs, Peter Sutherland. In einer berüchtigten Rede vor dem Herrenhaus des britischen Parlaments forderte er, daß die EU »ihr Bestes« geben solle, um »die Homogenität Europas zu unterminieren«, ein Prozeß, der ohnedies »normal und natürlich« sei. Die steuernde natura naturans, das Unterminieren der »Homogenität« Europas, ist für ihn unversehens zur zweiten Natur geworden, normal und natürlich, wie sollte es auch anders sein?
Der »Einheits-Österreicher« erscheint als Homogenitäts-Phantasma, das den Diskursträgern vermutlich vor allem deswegen im Kopf herumspukt, weil ihnen der Begriff des Staats abhanden gekommen ist. Ein Staat muß stets nach innen defnieren, wer dazu gehört, und nach außen, wer nicht dazu gehört. Dazu steht ihm klassisch die Differenz Ius sanguinis/Ius solis zur Verfügung. Auf dem Territorium lebende Staatsbürger unterliegen den Gesetzen dieses Staates, und zwar gleichgültig, woher sie stammen, für das Ius solis reicht der Paß. Diese Hälfte der Differenz scheint im öffentlichen Konsens auszureichen: »Deutscher ist, wer einen deutschen Paß erhalten hat«. Differenzbegriffe haben indes die lästige Eigenschaft, ihr Gegenteil nicht abschütteln zu können: Der »Biodeutsche« provoziert den Paßinhaber. Das ius sanguinis wäre tautologisch, wenn »Abstammung« nur »Abstammung von Staatsbürgern« wäre. Blutsverwandtschaft hat ethnische Wurzeln, wir kommen um die phänomenale Evidenz nicht herum, daß es Deutsche und Österreicher gibt in einem Sinne, der nicht bloße Bevölkerung eines Territoriums meint, sondern Volk. Es ist ein folgenschwerer Kategorienfehler (K1), Gleichheit im Staate (demokratische Gleichberechtigung von Paßinhabern) als vollständigen Ersatz für eine differentiale Einheit (Ius sanguinis und Ius solis) zu nehmen, und die eine Seite der Zweiseitenform als unzulässiges Homogenitäts-Phantasma auszuschließen. Wem der Staatsbegriff entgleitet, der sucht Zuflucht bei einem Ersatz für die Substanz des Volkes – eine austauschbare Bevölkerung allein kann nicht substantiell staatstragend sein – und fndet »die Menschheit«, und damit: einen weiteren Kategorienfehler. Der zweite Fehler (K2) liegt darin, Gesetzesgleichheit mit »allgemeiner Menschengleichheit« in eins zu setzen. Damit wird eine neue Kategorie eröffnet: Weil »demokratisch Gleiche« in allen (modernen) Staaten angenommen werden, sind sie überall »demokratisch Gleiche«, und daraus wird dann »die Menschheit« mit ihren »allgemeinen Menschenrechten«.
Ethnisch homogenere (der Begriff ist durchaus steigerbar!) Gruppen bergen nicht nur weniger polemogenes Potential in sich, sondern sind auf eine emphatische Weise mit sich selber identisch – »Wir sind das Volk!« hieß nicht: »Wir sind die Einwohner dieses Territoriums«, sondern »Von uns als Einheit geht alle Macht aus!«. Historisch ist jeder Staat so gewachsen, daß er das instabile Gleichgewicht von Bevölkerung/Volk bewußt aufrechterhält. Mit Carl Schmitt kann man erklären, daß die Volonté générale eines Volkes überhaupt erst möglich ist, wenn es homogen ist, d.h. mehr als nur kontingente Bevölkerung. Gesetzesgleichheit als Norm, die freilich abstrahiert von ihrem ursprünglichen Trägervolk, setzt genau dieses voraus: »Die Norm braucht ein homogenes Medium.« (Carl Schmitt) Universelle Normen wie die Menschenrechte haben partikulare Ursprünge: Sage mir, woher ein Gesetz mit verallgemeinerndem Anspruch stammt, und ich sage dir, was daran nicht zur Verallgemeinerung auf die Menschheit taugt. Rechten Denkern und Politikern wird im gegenwärtigen medialen Diskurs ständig unterstellt, einen Staat herbeizuphantasieren, in dem ein nicht nur in ethnischer Hinsicht total homogenes Volk lebt bzw. leben soll (K1). »Homogenität« als relative Gleichartigkeit eines Staatsvolkes ist jedoch kein rückwärtsgewandtes Reinheitsphantasma, sondern so elementar, daß man die Grundlagen der Gesellschaft anders kaum defnieren kann.
Carl Schmitts Bestreben, das »Gebiet des Politischen« begrifflich und real zu umhegen, ist von Niklas Luhmann weitergedacht worden. Schmitt unterscheidet am Beginn seiner Schrift Der Begriff des Politischen die Autonomien der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären: der Kunst (schön/häßlich), der Moral (gut/böse), der Ökonomie (nützlich/schädlich) und der Politik (Freund/Feind), von denen aus Zuflucht ins »Allgemeinmenschliche« genommen wird. Dem Politischen, so argumentiert er, schade das enorm. Sein genuiner Bereich ist ebenso durch Menschheitspathos gefährdet wie durch ökonomische Übergriffe. Und wenn Schmitt nun im Kern eine Systemtheorie avant la lettre vorgetragen hätte? Dann wäre Freund/Feind ein Code im systemtheoretischen Sinne, während die anderen sozialen Sphären gleichermaßen ihre systemeigenen Codes hätten. Das Politische wäre eine abgegrenzte Einheit, »total und souverän«, weil in ihr nur politisches Maß angelegt werden kann. Schmitts »Macht über das physische Leben der Menschen« wäre bei Luhmann der »symbiotische Mechanismus«, mit dem die Politik als soziales Teilsystem an den Körper als physisches Residuum gekoppelt ist. Körper sind nicht Teil der Politik, insofern Politik bei Luhmann ein »symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium« ist, das nicht aus lebendigen Menschen besteht, sondern aus Kommunikationen. Aber von der Politik und nur von ihr aus ergeht die Entscheidung über Leben und Tod. Macht/Ohnmacht ist ihr Code. Die Ultima ratio der Macht ist indes auch für Luhmann die Todesdrohung. Hier kommt, wenn man konsequent ist, in die Systemtheorie mehr Carl Schmitt hinein, als ihr lieb sein dürfte. »Wer Gleichheit sagt, sagt auch Ungleichheit«, konstatiert Luhmann in seinem rechtstheoretischen Text Der Gleichheitssatz als Form und als Norm. Die Gefahr, die aus der differenzlosen Menschheitsideologie resultiere, nämlich Unmenschen, Untermenschen, Menschenunwürdige auszuscheiden (K2), hat schon Carl Schmitt als größeres Übel als die Einhegung des Nationalstaats durch Grenzziehung erkannt.
Kein soziales System hat eine innere teleologische Drift hin zu seiner eigenen Optimierung und Vervollkommnung. Das Recht wird nicht gerechter, die Moral nicht sittlicher, die Religion nicht transzendenter, die Ökonomie nicht reicher und die Politik nicht freundlicher, je länger sie real existiert und je länger sie sich selbst dabei beobachtet. Innerhalb eines Systems ist die latente Höherbewertung des Plus-Pols des Codes (gut, gerecht, reich, schön …) der Anreiz zu weiteren, komplexeren Operationen, aber nicht notwendigerweise zu Perfektibilität. Luhmann formuliert polemisch in Richtung der Apologeten des sicheren Endsiegs des Guten in der Gesellschaft, »wenn man das Antonym«, d.h. den jeweiligen Minuspol eines Zwei-Seiten-Codes, »vergißt oder verteufelt, bleibt nur die Möglichkeit einer Idealisierung, die dann wenig Verständnis dafür aufbringt, daß die reale Welt so wenig Verständnis aufbringt für die Idealisierung«.
Luhmanns Denken opfert jedoch den Begriff des Staates auf dem Altar der Ausdifferenzierung der Systeme in der fortschreitend sich entwickelnden modernen Semantik. Der Begriff der »Nation« erfüllte eine geraume Zeit die Funktion, eine »hochplausible« Antwort auf die Frage des 18. und 19. Jahrhunderts zu geben, wie eigentlich Gesellschaft stabil funktionieren könne. Ihm gelang es, als entfaltetes Paradox nach innen hin Universalität (Gleichheit aller vor dem Gesetz) zu garantieren und nach außen hin partikular zu sein (diesen Staat von anderen zu unterscheiden), Schmitts »Welt der tausend Staaten«. Der Nationbegriff erlaubte »dem Universalismus der Funktionsorientierung Partikularismen regionaler Gemeinschaften als höherwertig entgegenzusetzen«. An dieser Stelle kommt plötzlich wieder das moderne Individuum normativ ins Spiel, obwohl Luhmann die alteuropäische Subjektsemantik mit ihrem Individualismus des »Menschen« für überholt hält. Das Ende der Nationalstaaten sei gekommen, »das Individuum ist so weit entwickelt, daß es sich national nicht mehr vereinnahmen läßt«, so daß gestrige Plausibilitäten heute notwendige Einsichten blockierten. Luhmann glaubt, man dürfe Identitäten nicht mehr national zurechnen, weil die Höherbewertung des entsprechenden Plus-Pols (plus: eigen/minus: fremd) nicht mehr unreflektiert gültig sein kann. »Identität« laufe nur noch ab, indem man paradox und tautologisch identifziere.
Allerdings ist das seit eh und je bei jedem System, mithin jeder Rede von Identität überhaupt der Fall gewesen. Beobachtung zweiter Ordnung, also daß sich Systeme selber beim Operieren auf ihre eigene Grenze schauen können, funktioniert immer paradox (Kann man sich beim Beobachten beobachten?) und immer tautologisch (Was sieht das System denn anderes und hält es für mit sich selbst identisch als sich selbst?).
Ganz ähnlich verhält es sich mit der »Komplexität«, einmal als systemfunktionales generelles Konzept verstanden (jedes System ist innen weniger komplex als seine nicht-systemische und außer-systemische Umwelt, innen kann ein System stets nur seinen eigenen Code anwenden, reduziert dadurch mit anderen Worten die Komplexität der Umwelt, die aus seiner Perspektive völlig überkomplex und ungeordnet »alles andere« ist), und einmal als Spezifkum der funktional ausdifferenzierten Moderne. Diese Doppelrolle des Komplexitätsbegriffs hat Luhmanns Schüler Armin Nassehi in einen veritablen Kategorienfehler umgemünzt. Nassehis Buch Die letzte Stunde der Wahrheit basiert über weite Strecken auf der fixen Idee, die Rechte schrecke davor zurück, die Komplexität der Welt sehen zu wollen. Dieser Topos der rechten Komplexitätsreduktion hat es inzwischen ins Feuilleton geschafft, so verglich etwa Alan Posener die Neue Rechte dahingehend mit der 68er-Bewegung, daß beide »die Komplexität reduzieren, einen Gegner haben« wollten. Nassehi hält rechtes Denken für »ein Denken in Konkretionen«, wo in Wirklichkeit Abstraktion geboten sei, er hält die moderne Welt für »digital« und »analoge« Reaktionen darauf für unzulässige Beschreibungen, die noch mit nacktem Finger auf reale Migranten zeigen und sagen: Das sind sie und da sind sie. Was soll man stattdessen sagen? »Der Migrant« sei ein mediales Konstrukt, das schleunigst dekonstruiert gehörte, um auf der Höhe der soziologischen Theorie zu bleiben? Jede politische Reaktion auf Umweltphänomene ist notwendigerweise Komplexitätsreduktion, egal, ob die einen sich von Körpern als Masse bedroht fühlen oder jemand es schafft, zu glauben, daß diese Angstvollen nur »an Gruppen simulieren, man könne das Andere wirklich sehen« (Nassehi). Komplexitätsreduktion ist die Antwort auf eine sonst nicht beherrschbare und übersehbare Fülle unbestimmter Möglichkeiten. Luhmanns Heuristik ist die: Wie ist es überhaupt möglich, daß die totale Kontingenz der Welt bewältigbar gemacht wird?
Sie taugt nun in ihrem Kern eben gerade nicht dazu, die Idee der Komplexitätsreduktion normativ gegen das vermeintlich allzu schlichte Denken der anderen zu wenden. Nassehis Kategorienfehler besteht darin, daß er eine strukturfunktionale Kategorie (Komplexität) normativ am Plus-Pol der Differenz (komplex/unterkomplex) ansiedelt und damit bestimmte Komplexitätsreduktionen als unzulässig vereinfachend oder irreal kategorisiert. Komplexitätsreduktion kann jedoch nie als Norm, sondern immer nur als Form funktionieren. Formen erlauben aber ausschließlich die »Unterscheidung von Konformität und Devianz«, und eben gerade keine »Operationsanweisung«, wie politisch gedacht oder entschieden werden soll im Sinne des Systemerhalts. Eine politische Entscheidung für mehr relative Homogenität ist dann eben keine unterkomplexe Kapitulation vor der digitalen Realität, auch keine »Gefahr«, sondern funktionserhaltende »Devianz«. Politik als System stabilisiert sich permanent selber, indem sie ihre Grenze rekursiv beobachtet, damit sie eben z.B. nicht aus dem Wirtschaftssystem, der Wissenschaft oder dem Massenmediensystem heraus »entschieden wird«.
Der Witz systemtheoretischen Denkens ist jedoch eigentlich der, nicht-normativ Funktionen zu beobachten, statt »kritisch« mit der Theorie in die Praxis zu intervenieren. Systemtheorie ist eine deskriptive Theorie und keine normative Anpassungstherapie. Mehr kann sie nicht leisten, und mehr braucht sie auch nicht zu leisten. Luhmann und Nassehi, ersterer en passant, letzterer dezidiert, halten der normativen Drift modernen Denkens nicht ganz stand: Luhmanns Vorbehalt gegen nationale Identität, zu der »das« moderne Individuum als Kollektivsingular anscheinend nicht mehr zu verführen sei wie noch im 19. Jahrhundert, folgert aus dem Sein das Sollen, denn immerhin gibt es empirisch noch genug moderne Individuen, denen das Festhalten an dieser Identität als plausibel und praktikabel erscheint. Nassehi glaubt, sich steigernde Komplexität in der modernen Gesellschaft erzeuge »höhere Variabilität und bessere Anpassung an beschleunigte Zeitläufte«, man könne überkommene Lebensformen eben nicht mehr konservieren, denn »dafür ist die Gesellschaft zu plural geworden«. Hier schließt sich der Kreis: Was ist die natura naturans, und was ist die natura naturata? Die historisch gewordene Natur in Form von Gesellschaft liefert aus sich heraus keinen Maßstab, daß sie so sein solle. »Normen sind kontrafaktische Verhaltenserwartungen«, defniert Luhmann bündig, und denen muß sich per se weder die Welt, noch das Denken, noch die Politik unterwerfen.