Jean Raspails Patagonismus

14. Juli, um die Jahrtausendwende, Ostfrankreich. Zum letzten Mal paradiert ihr altes Kürassierregiment... 

am Natio­nal­fei­er­tag durch die Stra­ßen der Groß­stadt. Vom Kom­man­do­fahr­zeug bis zum letz­ten Pan­zer der lan­gen Kolon­ne weht die Tri­ko­lo­re: Blau-Weiß- … Grün, hori­zon­tal. Kurz vor sei­ner Abwick­lung im Zuge jener all­mäh­li­chen der Streit­kräf­te der Répu­bli­que fran­çai­se bekun­det das Regi­ment öffent­lich und geschlos­sen sei­nen »Über­tritt« zur Armee des ima­gi­nä­ren König­reichs Pata­go­ni­en und sei­ner Majes­tät Ore­lie-Antoine I., dem seit über 100 Jah­ren toten König eines Reichs, das er selbst nie zum Leben erwe­cken konn­te. Heu­te aber lebt und gedeiht es, »irgend­wo süd­lich des bri­ti­schen Humors und nörd­lich der Poesie«.

Dahin­ter steckt Jean Ras­pail. Im Mit­tel­punkt sei­ner bekann­tes­ten Roma­ne ste­hen che­va­le­res­ke Kämp­fer für ver­lo­re­ne Sachen. Ras­pail aber sagt zu sei­nen Anfän­gen, es wären weni­ger die­se »als die ver­lo­re­nen klei­nen Völ­ker, die ich seit mei­ner Kind­heit im Kopf habe«. Der dar­aus resul­tie­ren­de Fluß sei­nes Werks mün­de­te letzt­lich in den »Pata­go­nis­mus«; die Expe­di­ti­on zu des­sen Quel­len aber beginnt, um dem stets gegen den Strom rudern­den Autor zu ent­spre­chen, an der Mündung.

Im Del­ta spie­len heu­te die Boo­te Tau­sen­der Pata­go­nier das »Spiel des Königs«, ver­eint durch eine Hal­tung von »Zärt­lich­keit, Iro­nie, Stolz und Melan­cho­lie«, die sich schon in der stei­gen­den Flut von Ansu­chen um die Staats­bür­ger­schaft an die Pari­ser chan­cel­le­rie fin­det, vom Gene­ral­kon­sul Ras­pail per­sön­lich per Dekret samt Unter­schrift ver­lie­hen. Zum leit­mo­ti­vi­schen Vier­klang gesel­len sich Aben­teu­er­lust und Fern­weh, bezeugt durch den ste­ten Strom von Bild­be­rich­ten, die Wahl­pa­ta­go­nier und ihre Tri­ko­lo­re auf den Spit­zen der Anden und des Hima­la­ya, goti­scher Kathe­dra­len oder tokyo­ter Glastür­me zei­gen, am Grab Cha­teau­bri­ands, der Saha­ra, Ven­dée – und natür­lich am Kap Hoorn. Auch das Netz der Amts­trä­ger und Insti­tu­tio­nen des König­reichs erstreckt sich bis jen­seits aller Mee­re und auf alle Wis­sens­ge­bie­te: Vize­kon­sul Con­stan­tin de Slize­wicz führt, mit Juris­dik­ti­on über das Tibe­ti­sche König­reich, die Geschäf­te in Chi­na, ein Schwei­zer­gar­dist im Vati­kan, unzäh­li­ge wei­te­re von Sin­ga­pur bis Spitz­ber­gen, von Mada­gas­kar bis Tadschi­ki­stan. Man­che ste­hen allein auf ihrem Pos­ten, ande­re, in eini­gen dépar­te­ments, an der Spit­ze von hun­der­ten pata­gons, denen sich auch außer­halb des diplo­ma­ti­schen Corps ehren­vol­le Betä­ti­gungs­fel­der bie­ten: etwa in der »König­lich-pata­go­ni­schen Gesell­schaft für medi­zi­ni­sche Bild­ge­bungs­ver­fah­ren«, dem »pata­go­ni­schen Komi­tee zur Ver­tei­di­gung und Doku­men­ta­ti­on der hän­di­schen Hoch­see-Har­pu­nen­f­sche­rei« oder als »könig­li­cher Kon­su­lent in Nuklearangelegenheiten«.

Bei aller augen­zwin­kern­der Spie­le­rei segeln auch die­se klei­nen, oft
von gan­zen Fami­li­en bemann­ten fde­le­ren Käh­ne unter dem­sel­ben Wind
wie die schwe­re­ren Ein­hei­ten der Flot­te, denn, so Ras­pail: »Das Spiel erlaubt es, zwi­schen Traum und Rea­li­tät unzäh­li­ge Empfndun­gen zu le ben, die sich in unse­rer Zeit sonst längst in den Unter­grund und die Wäl­der zurück­ge­zo­gen haben. Hin­ter dem Kin­der­kram das Wesent­li­che: Jedem ist ein ver­bor­ge­ner Win­kel der See­le, ein unaus­ge­spro­che­ner Winkel
des Her­zens.« Der fast sur­rea­len Ent­le­gen­heit der Reichsgründungsidee
Anto­i­nes ent­spricht die rea­le Ent­le­gen­heit des Archi­pels im Süden Pata­go­ni­ens, men­schen­leer, eisig, sturm­um­tost – und trotz­dem: Sehnsuchtsort;
und den »ver­bor­ge­nen Win­keln des Her­zens und der See­le« die­ser ver­bor­ge­ne Win­kel der Welt, in dem sich zu ver­lie­ren oder (wie­der) zu fnden
so vie­le Schrift­stel­ler ersehn­ten: »Ich habe alle mei­ne Wet­ten ver­lo­ren, es
bleibt nur noch Pata­go­ni­en; Pata­go­ni­en, das allein mei­ner unermeßlichen
Trau­rig­keit ent­spricht«, schreibt Blai­se Cen­drars, und Pablo Neru­da: »Ich
neh­me mei­nen Abschied, ich keh­re heim, in mei­nen Träu­men – ich kehre
heim nach Pata­go­ni­en.« Weni­ger bekannt, aber noch prä­gnan­ter Alex­and­re Vial­at­te: »Der Mensch soll­te nur im Ange­sicht von Mee­ren oder
Strö­men leben, auf Ber­gen oder in der Wüs­te. In Pata­go­ni­en. Statt dessen
mie­tet er sich ein, in den Zins­häu­sern von Massy-Palaiseau.«
Wäh­rend die­se eine bloß meta­pho­ri­sche Sehn­sucht nach pata­go­ni­schen Gewäs­sern aus­drü­cken, gehen illus­tre Lini­en­schif­fe der fran­zö­si­schen Lite­ra­tur – in deren Pan­the­on, der Aca­dé­mie fran­çai­se, ver­eint – an
der Mün­dung der beken­nen­den Pata­go­nier Ras­pails vor Anker: Johannes
Paul des II. Freund André Fros­sard, der über 30 Jah­re auf der Titelseite
des kon­ser­va­ti­ven Figa­ro eine Kolum­ne unter dem sehr ras­pai­les­ken Titel
»Cava­lier seul« hielt; Michel Déon, erst Mit­strei­ter von Charles Maurras,
spä­ter trotz­dem preis­ge­krön­ter Roman­cier, den legen­dä­ren huss­ards zu
zurech­nen, die de Gaul­le von rechts atta­ckier­ten und für ihren Hang zu
ver­lo­re­nen Sachen bekannt waren; Domi­ni­que Bona, sanf­ter, aber als ein­zi­ge der erwähn­ten »Unsterb­li­chen« noch am Leben.
Dazu, jüngst ver­stor­ben und nichts weni­ger als sanft, Gene­viè­ve Dor­mann: ein Phä­no­men der Furcht­lo­sig­keit, der kei­ne Lob­by zu mächtig,
kein Eisen zu heiß war, die mit ver­kohl­ten Fin­gern wei­ter­pu­bli­zier­te und
hin­sicht­lich ihrer kon­se­quen­ten Wider­stän­dig­keit
en gros und en detail an
Mar­cel Aymé erinnerte.
In der pata­go­ni­schen Flot­te Ras­pails ist sie nicht der ein­zi­ge fliegende
Hol­län­der: Der schil­lern­de Reak­tio­när, Roman­cier und Geheim­dienst­mann Vla­di­mir Vol­koff war ihr »Bera­ter für rus­si­sche und ser­bi­sche Ange­le­gen­hei­ten« und kämpf­te davor im Alge­ri­en­krieg; eben­so, aber deut­lich expo­nier­ter Pierre Lag­ail­lar­de, der als 26jähriger Fall­schirm­jä­ger­off­zier im Zuge des »Putschs von Algier« 1958 der IV. Repu­blik mit ein Ende
setz­te und de Gaul­le mit zur Macht ver­half, sich dann als Anfüh­rer der
»Woche der Bar­ri­ka­den« eben­dort gegen eben­die­sen wand­te und später
im Exil gemein­sam mit Gene­ral Salan die berühmt-berüch­tig­te
OAS begrün­de­te.
So viel­fäl­tig sind die pata­go­ni­schen Fisch­grün­de, daß sich dort auch
Michel-Édouard Leclerc tum­melt, König des fran­zö­si­schen Einzelhandels,
100000 Ange­stell­te, 35 Mil­li­ar­den Euro Umsatz – ein Wal, oder Hai, je
nach Sichtweise …
Und als Flagg­schiff der pata­go­ni­schen Flot­te: »La Roya­le«, wie die
fran­zö­si­sche Kriegs­ma­ri­ne tra­di­tio­nell auch genannt wird, bzw. zahl­rei­che ihrer Off­zie­re bis in höchs­te Admi­rals­rän­ge.

Der hier gepflo­ge­ne nau­ti­sche Duk­tus kommt also nicht von unge­fähr, son­dern neben einer ent­spre­chen­den Nei­gung der pata­gons und der
Topo­gra­phie des König­reichs selbst auch von Ras­pails ein­schlä­gi­gen Bra­vour­stü­cken – und jenem auf­se­hen­er­re­gends­ten Pata­go­ni­ens schlechthin,
der Opé­ra­ti­on des Min­quiers: Bald nach Ende des Falk­land­kriegs ver­kün­de­te die Regie­rung Sei­ner Majes­tät Ore­lie-Antoine I., daß die umkämpfte
Insel­grup­pe weder Groß­bri­tan­ni­en noch Argen­ti­ni­en ange­hö­re, sondern
per könig­li­chem Dekret von 1860 pata­go­ni­sches Ter­ri­to­ri­um darstelle.
»Die bri­ti­sche Regie­rung such­te ihr Heil in her­ab­las­sen­dem Schweigen«,
so Ras­pail, der sich daher gezwun­gen sah, deren Bot­schaft persönlich
ein Ulti­ma­tum aus­zu­hän­di­gen, wonach die Bri­ten bin­nen Wochen­frist die
Falk­land­in­seln zu räu­men hät­ten, wid­ri­gen­falls Pata­go­ni­en sich im Wege
der völ­ker­recht­li­chen Retor­si­on gezwun­gen sähe, sei­ner­seits von einem
bri­ti­schen Ter­ri­to­ri­um Besitz zu ergrei­fen. Die Wahl fel auf die winzigen,
fast unbe­wohn­ten Min­quiers-Inseln im Ärmel­ka­nal, ohne­hin frag­wür­di­ger Zuge­hö­rig­keit zu Groß­bri­tan­ni­en, dafür mit ihren zer­klüf­te­ten Fel­sen, laby­rin­thi­schen Kanä­len und gefähr­li­chen Strö­mun­gen gleich­sam ein
nörd­li­ches Pata­go­ni­en
in nuce.
Eine 13köpfge Inva­si­ons­ar­mee lan­de­te mit zwei Schnell­seg­lern, zemen­tier­te im Sockel des pom­pö­sen bri­ti­schen Flag­gen­masts eine die Inbe­sitz­nah­me ver­kün­den­de Pla­ket­te ein und hiß­te die pata­go­ni­sche Tri­ko­lo­re –
zu den Klän­gen der Natio­nal­hym­ne, von Wil­helm Frick, einem Kom­mi­li­to­nen Bis­marcks und Augen­zeu­gen der Ein­ker­ke­rung Anto­i­nes, 1863 in
Chi­le kom­po­niert. Der resul­tie­ren­de Zorn der Eiser­nen Lady, die dem Unter­haus Rede und Ant­wort ste­hen muß­te, war gewal­tig, das Medienecho
eben­so – nur über­trof­fen bei der spä­ter erfolg­ten zusätz­li­chen Wegnahme
des Uni­on Jack, die sich selbst auf der Titel­sei­te der
Times fand.
Die ufer­lo­se Fül­le des »König­li­chen Spiels« doku­men­tiert das präch­ti­ge all­jähr­li­che Bul­le­tin, das neben Repor­ta­gen, einer Pres­se­schau, his­to­ri­schen Doku­men­ten und Literatur(hinweisen) das Mit­glieds- und Funk­ti­ons­ver­zeich­nis ent­hält, in dem auch Ver­stor­be­ne
pata­gons ange­führt blei­ben und in der Rubrik »Jen­seits der Mee­re« eine letz­te Wür­di­gung erfah­ren; alles unter der Feder­füh­rung Ras­pails, den bis­wei­len nur traurig
stimmt, daß bereits kaum Erwach­se­ne – mit mehr Ernst, als es dem Spiel
geziemt – ange­sichts ihrer pro­sa­ischen Lebens­wirk­lich­keit all­zu früh Zuflucht und Iden­ti­tät in sei­nem unwirk­li­chen König­reich suchen.
Hun­der­te Post­kar­ten hat er inzwi­schen von Pata­go­ni­ern erhal­ten, die
ihrem toten König an des­sen Grab in Tour­toirac (Dordo­gne) die Ehre erwei­sen, wo Antoine Tounens 1825 als Bau­ern­sohn zur Welt kam und 1878
aus­ge­brannt und rui­niert als Spottfgur verstarb.
Eine alte Uni­ver­sal­geo­gra­phie hat­te früh sei­ne Lei­den­schaft für Pata­go­ni­en geweckt; der Schul­meis­ter, Vete­ran Napo­le­ons Alter Gar­de, mit
sei­nen Schil­de­run­gen den Durst nach
gloire befeu­ert – und der boden­stän­di­ge Vater die bal­di­ge Obses­si­on, König am Ende der Welt zu werden,
durch eine Duld­sam­keit beför­dert, die ihren mit­lei­di­gen Ursprung wohl
in einer geni­talen Miß­bil­dung des Soh­nes gehabt haben dürf­te, die diesem
einen ein­sa­men Lebens­lauf ver­hieß. Des­sen juris­ti­sche Stu­di­en und der
Erwerb einer beschei­de­nen Anwalts­kanz­lei hat­ten der Fami­lie schwerste
Opfer abver­langt; den Rest gab ihr die Gestel­lung der »Kriegs­kas­se«, als
Antoine die Stun­de des Han­delns gekom­men sah. Die Zeit dräng­te: Schon

sahen sich süd­lich der Gren­zen Chi­les und Argen­ti­ni­ens die indianischen
Stäm­me, die er unter sei­ner Herr­schaft ver­ei­nen woll­te, einer wach­sen­den Zahl von Sied­lern gegen­über; als­bald wür­de die Armee fol­gen und die
Frei­heit ein Ende haben. Inzwi­schen gericht­lich aner­kann­ter de Tounens,
brach Antoine nach Paris auf, order­te für sich Prun­k­uni­for­men und für
sein künf­ti­ges Reich Fah­nen, Mün­zen, Sie­gel, Orden, druck­te eine Ver­fas­sung und Pro­kla­ma­tio­nen in fran­zö­si­scher Spra­che zur als­bal­di­gen Ver­tei­lung an sei­ne analpha­be­ti­schen und schon des Spa­ni­schen sel­ten mäch­ti­gen Völ­ker. Er aber wähn­te sich wohl­ge­rüs­tet und stach in See.

Ende 1861, auf­grund sei­ner unzäh­li­gen tönen­den Pro­kla­ma­tio­nen bereits das Gespött der inter­na­tio­na­len Pres­se, durch­quer­te er hoch zu Roß
und in Para­de­uni­form – beglei­tet nur von sei­nem Dol­met­scher und Fah­nen­trä­ger auf einem Maul­tier … – den Rio Bio-Bio und traf erst­mals auf
»sei­ne« Stäm­me; berauscht von küh­nen Ver­spre­chun­gen, sei­ner Redegabe
und impo­san­ten Erschei­nung rie­fen sie Antoine nach­ein­an­der zum König
aus, der aus ihren Häupt­lin­gen sei­ne Regie­rung bil­det. Sei­ne Herrschaft
währ­te zwei Wochen, dann ver­riet ihn Sancho Pan­sa; nach lan­ger chi­le­ni­scher Fes­tungs­haft wur­de er trotz bzw. gera­de wegen sei­ner flammenden
Ver­tei­di­gungs­re­den für unzu­rech­nungs­fä­hig erklärt und von einem fran­zö­si­schen Kriegs­schiff 1863 repa­tri­iert.

Zurück in Paris, tum­mel­ten sich in sei­ner dor­ti­gen »Lega­ti­on« bald
Obsku­ran­ten, Defrau­dan­ten und Ver­schwö­rer; Antoine wur­de fer­ner zeit­wei­lig von der »ban­de du Chat Noir« um Rim­baud, Ver­lai­ne, Manet und
de Vil­lard als Kurio­si­tät adop­tiert. Er aber blieb von sei­ner Legitimität
über­zeug­ter denn je und wild­ent­schlos­sen, wur­de auf der zwei­ten Reise
aber zum Gefan­ge­nen sei­ner Indi­os; der drit­ter und letz­ter Anlauf endete
auf den Stra­ßen von Bue­nos Aires, bewußt­los und halb­ver­hun­gert, die
Taschen leer bis auf die wert­lo­se letz­te Mün­ze mit dem eige­nen Bildnis.
Ob sei­ne schwer­ge­prüf­te Fami­lie dem letz­ten Wunsch des Ster­ben­den ent­spro­chen hat, an sei­nem Toten­bett »Vive le Roi!« zu rufen, ist nicht über

lie­fert. Bei aller Tra­gi­ko­mik ver­langt doch die Kühn­heit sei­nes Wurfs Respekt – und die Uner­bitt­lich­keit gegen sich selbst, mit der Antoine jah­re­lang, meist in völ­li­ger Ein­sam­keit, mit bei­ßen­dem Spott als ein­zi­gem Echo
sei­ner Mühen an sei­nem Traum festhielt.
Jean Ras­pail wird 1951 durch einen Hin­weis des fran­zö­si­schen Bot­schaf­ters in Argen­ti­ni­en in den Bann die­ser trau­ri­gen Majes­tät geschla­gen, zu Beginn sei­ner ers­ten Lauf­bahn als Rei­se­schrift­stel­ler. Mehrfacher
Bann, denn Aus­gangs­punkt einer Expe­di­ti­on nach Alas­ka ist damals Pata­go­ni­en, dem er eben­so ver­fällt wie den letz­ten Alakalufs.
Deren erzwun­ge­ne Wan­de­rung hat­te in Sibi­ri­en begon­nen, immer
wie­der auf­ge­stö­bert und ver­trie­ben von stär­ke­ren Völ­kern auf ihren Fer­sen, eine Flucht über Jahr­tau­sen­de und von der Bering­stra­ße bis zum süd­ame­ri­ka­ni­schen
fnis ter­rae. Und immer wei­ter süd­wärts, nun­mehr See­no­ma­den, ver­lie­ren sie sich im Laby­rinth des lebens­feind­li­chen Archi­pels bis
zum Hoorn, aber end­lich! allein, denn wer hät­te ihnen fol­gen wol­len in
die­se Ein­öde, von Gott ver­las­sen, von allen guten Geis­tern eben­so, denn
jene drei ent­setz­li­chen, die den Ala­kalufs waren, trach­te­ten ihnen allesamt
bloß nach dem Leben, schon den Neu­ge­bo­re­nen, deren tap­fe­re Väter sich
die Nabel­schnur um den Hals wan­den, um die unaus­lösch­li­che Mordlust
Ayay­e­mas auf sich umzu­len­ken. Ihre mensch­li­chen Ver­fol­ger aber verga-
ßen sie all­mäh­lich, nann­ten sich selbst Kawes­kars, »die Men­schen«, weil
sie sich allein auf der Welt wähn­ten, »außer­stan­de sich vor­zu­stel­len, daß
jen­seits der Mor­gen­son­ne, auf der ande­ren Sei­te einer auf­ge­wühl­ten flüs­si­gen Wüs­te, nachts ein Frem­der in sei­nem Turm wacht, der begrif­fen hat,
daß die Gren­zen des Uni­ver­sums jen­seits der Abend­son­ne lie­gen«. Mit
Magel­lan kam auch ihr augen­blick­li­cher und end­gül­ti­ger mora­li­scher Zusam­men­bruch; der phy­si­sche folg­te, im Schraub­stock der Wei­ßen, zwi­schen ruch­lo­sen chi­le­ni­schen Rob­ben­jä­gern von Nor­den und rüden Wal­fän­gern aus dem Süden.

Zum weh­mü­ti­gen Chro­nis­ten ver­schwin­den­der Kleinst­völ­ker bestimm­te Ras­pail die flüch­ti­ge Wahr­neh­mung eines Kanus der letz­ten noma­di­sie­ren­den Ala­kalufs im Schnee­sturm der Magellanstraße.
Eben­falls im Kanu hat­te er kurz zuvor Nord­ame­ri­ka durch­quert, die
voll­ends unüber­wind­li­chen Fluß­ab­schnit­te auf schma­len Trampelpfaden
umgan­gen, Boot auf dem Kopf, Aus­rüs­tung auf dem Rücken, wie zuvor
fran­zö­si­sche Sol­da­ten, Pelz­jä­ger und Mis­sio­na­re – oder wie, so Raspail,
»die Pro­zes­si­on der immer tie­fer in den Dschun­gel ein­drin­gen­den Kon­quis­ta­do­ren in Wer­ner Her­zogs
Aguir­re«; wie Cave­lier de la Salle, der zur
Beherr­schung der Gro­ßen Seen die Ein­zel­tei­le eines Kriegs­schiffs über die
Nia­ga­ra­fäl­le schlepp­te, und an den wie­der­um Her­zogs Fitz­car­ral­do gemahnt – sie alle »auf der Suche nach einem König­reich, das sie in Wahr­heit in sich trugen«.
Nur die Sei­ne trennt Ras­pails Pari­ser Wohn­sitz von der Rive gau­che, aber
Mee­re von ihren meist strom­li­ni­en­för­mi­gen
intellec­tuels – neben der Auf­zäh­lung sei­ner unprä­ten­tiö­sen Lek­tü­ren u.a. auch das schnau­ben­de Bekennt­nis, »kein Phi­lo­soph, Den­ker oder Exper­te« zu sein. Dafür, ohne es
aus­zu­spre­chen: ein aben­teu­er­li­ches Herz.
Mit sei­nen ent­spre­chen­den Schrif­ten hat Ras­pail tod­ge­weih­te Völker
vor dem voll­stän­di­gen Ver­ges­sen bewahrt – nicht aber vor ihrem lan­ge zuvor besie­gel­ten Unter­gang. Mit sei­nem
Heer­la­ger als Mene­te­kel ver­ließ er
vor Jahr­zehn­ten end­gül­tig die unter aka­de­mi­schen Eth­no­lo­gen so ver­brei­te­te Gat­tung des ferns­ten­lie­ben­den, aber hei­mat­ver­ges­se­nen Nekrologs.
Mit sei­nem Pata­go­nis­mus kon­ter­ka­riert sie Jean Ras­pail: kein Abgesang
auf Unter­ge­gan­ge­ne, son­dern stolz-zärt­lich-melan­cho­lisch-iro­ni­sche Bewah­rung eines nie­mals gewe­se­nen Reichs.

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