Schon in meiner Abizeitung ging es in meinem (fremderstellten) Profil unter meinem Photo im wesentlichen um meine „Gesinnung“:
Ellen verbirgt ihre rechten Ansichten nie. Ihre Provokationen nerven zwar [u.a. hatte mir meine Jeansjacke mit Sprüchen in Edding bemalt: widerlich! EK], aber sie ist immer bereit zu intensiven Gesprächen über Bücher, Filme, Politik. Manchmal lernt man sogar etwas.
Die Jeansjackenzeit ist Jahrtausende vorbei. Längst dränge ich meine Meinung niemandem mehr auf, sehe auch wenig Sinn darin, sie herauszuposaunen. Es gibt bei uns keinen einschlägigen Aufkleber auf dem Auto, keine Motto-T-Shirts oder ähnliches.
Heute war es so: Am Vortag hatte ich ein vlog gedreht. Dazu hatte ich mir (wie versprochen, zwinker!) einen vom lieben Herr S. geschenkten Button angesteckt in Deutschlandfarben. Aufschrift: PACK.
Weil ich vormittags wie immer vergessen hatte, bei den häuslichen Tätigkeiten eine Kittelschürze anzulegen (überzeugungsmäßig hänge ich an aussterbenden Gebräuchen; in der Praxis sieht es mau aus), mußte ich mich für meine Nachmittagstour in die Stadt (Turnstunde der Kinder etc.) rasch umziehen. Ich wählte pragmatisch das Oberteil von gestern, das mit dem „Pack“. Erst, als ich das Auto verließ, bemerkte ich den Anstecker. Entfernte ihn. Dachte kurz: wieso eigentlich? – Na, weil´s nicht wirklich zu mir paßt.
In der Einkaufwagenhalle vor dem Lidl tummelten sich drei sogenannte Kids, einer trug ein T‑Shirt mit einem wahnsinnig coolen Aufdruck: # fun #like # yolo. Mich nervte das kolossal. Ich bin leider meistens genervt, wenn ich „Kids“ sehe.
Bin dann nochmal zurück zum Auto und hab mir den Pack-Anstecker wieder dran gemacht; Gott weiß, warum. Die nächsten zwei Stunden habe ich mich ein bißchen als Nicht-Ich gefühlt, es war direkt aufregend.
Der Button ist ziemlich klein, und doch hat JEDER geglotzt. Ich nahm an mir ein leicht maskenhaftes Lächeln wahr, ich versuchte, besonders grade zu gehen. Hinter mir tuschelten Mutter &Tochter, Kassiererin mit Kollegin, Turnmutter mit Turnvater. Gesagt hat, logisch, keiner was. Nie sagt jemand was, ich kenne das, nur war das Schweigen heute besonders laut.
Nur Kubitschek dann, als ich nach Hause kam und den Button längst vergessen hatte: „Meine Güte, sind Sie krass.“
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28. September 2017 – Manchmal nervt es mich, wenn mich Leute fragen, wie ich die Personalpolitik in dieser Partei beurteile und ob ich denke, daß ein vehementer Schulterschluß zwischen X und Y nicht gewinnbringend wäre. Ob nicht mit einer Stimmenmehrheit … usw.
Manchmal nervt es mich an mir selbst, daß mich das alles nicht interessiert. Es läßt mich kalt, ob A im Hinterzimmer zu B dies gesagt hat, aber dann jenes verlautbarte. Ich muß gähnen, aber mein Gähnen beschämt mich auch. Ist es nicht ein MUSS in Zeiten wie diesen, irgendwie mit der Tagespolitik abzuhängen?
Man kann halt nicht aus seiner Haut. Und so kommt es immer wieder zu solchen Gesprächen: Ich sage V., daß Friedrich Sieburg dazu alles gesagt habe, nämlich (…). Oder G., daß Jonas Lüscher genau diesen Zielkonflikt mustergültig beschreiben habe. Zu J., daß Heinrich Mann doch die perfekte Typologie geliefert habe!
Häufige Antwort: „Was für ein Luxusleben, heute noch in Romanen zu schwelgen! Ich hab überhaupt nie Zeit, irgendwas zu lesen [außer Twitter, EK]!“
Ich sehe ja täglich, was unsere Kunden bestellen. Jeden Mittag liegen die georderten Buchpakete stapelweise im Regal. Es ist fast ausschließlich anspruchsvolle Sachliteratur; viele Lektüre- und Rezensionstips habe ich daher. Belletristik macht deutlich unter 10% aus. Und wenn, dann dystopische Romane. Natürlich läuft Die Moschee Notre Dame. Anno 2048 gerade wie geschnitten Brot, ähnlich wie unser Longseller Das Heerlager der Heiligen. Unsere Leute lieben solche Lektüren: Zukunftshorrorvisionen von einem durchislamisierten Europa.
Daneben: pff. In der vergangenen Woche war einmal der Radetzkymarsch und einmal Simon Strauß darunter.
Ich will werbend noch einmal auf Carl Aderholts Die Roten zurückkommen, Motto: „Wer Sophie Dannenbergs Das bleiche Herz der Revolution mochte, dem wird Die Roten gefallen!“ Aderholds (großartig übersetzter) Roman ist wie der von Dannenberg literarisch von allererster Güte, und auch das Thema eint beide: Wie ist es für ein Kind, einen Heranwachsenden, durch-und-durchindeoligisiert unter der Diktatur strammlinker Eltern aufzuwachsen?
Aderholds Familiensaga hat es dermaßen in sich: Der Uropa (gebürtig in Koblenz) war zunächst ein frommer, artiger Katholik, dann ist er nach einem schlimmen Vorfall desertiert und nach Frankreich geflohen. Von seiner Herkunft sollte nichts übrigbleiben. Fortan werden über die nächsten hundert Jahre in der Familie Aderhold Deutschenhaß und Kommunismus gepriesen und gepflegt.
Carl, der Urenkel, ist wie seine Schwester unter den Portraits von Marx und Lenin gezeugt worden. Als Kinder dachten sie, es handele sich bei den Bildern um entfernte Verwandte. Der Vater, ein Schauspieler, wird ein bißchen aufgerieben zwischen intensivstem politischem Engagement, Suff, Jähzorn (die Hand sitzt verdammt locker) und außerehelichen Affären. Genug Zeit für die ausweglose Politisierung der Kinder bleibt immer.
Der junge Carl liebt den Vater (so sehr, wie er posthum abrechnet mit ihm); er weiß, daß er bei seinen Kinderspielen niemals die Rolle der Cowboys einnehmen darf (obwohl seine heimlichen Sympathien auf der Seite der amerikanischen Kavallerie liegen), daß Tim & Struppi-Lektüre unverzeihlich ist (er liest’s unter der Bettdecke mit schweren Gewissensbissen) und daß er die „antispießbürgerliche“ (de facto extrem übergriffige) Sexualaufklärung hinzunehmen hat.
Später verfaßt er als Geschenk für den Vater ein angestrengtes „Manifest eines jungen Kommunisten“. Erst Jahrzehnte später, da liegen Psychotherapien hinter ihm, begreift er, was für einer gigantischen Lebenslüge er aufgesessen ist.
Für mich: die Lektüre im Zeitalter des kollektiven Lebenslügen!
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29. September 2017 – Vor Jahren hatte ich mit meiner Tochter einen OP-Termin im örtlichen Krankenhaus. Es ging um die Entfernung eines Muttermals am Kopf. Der Chirurg, ein Araber, sprach nur marginal deutsch.
Ich hatte noch zwei, drei wichtige Fragen. Er verstand nicht. Die OP-Schwester versuchte in „leichtes Deutsch“ zu übersetzen, es mißlang. Wir sind dann einfach gegangen.
Als ich irgendwo davon erzählte, meinte einer augenzwinkernd: … naja, ein klitzekleines bißchen Rassismus sei von meiner Seite sicher dabeigewesen. Da konnte ich mich gleich noch mal empören!
Heute hatte ich einen orthopädischen „Notfall“ und mußte im gleichen Krankenhaus vorstellig werden. „Guten Tag“ ging noch so, der Rest war extrem schwierig. Auf meine zwei, drei Fragen antwortete der junge Dr. nach mehrmaliger Wiederholung schüchtern „ja“, worauf die Schwestern mir nachher sagten, daß er „nein“ gemeint habe, mich nur nicht verstanden habe.
Mir wurde eine Orthese ans Knie angepaßt und ein Rezept in die Hand gedrückt: Säureblocker, wie ich in der Apotheke feststellte. Ich versichere, dieser Herr Doktor hatte schneeweiße Haut. Ich hasse niemanden; ich hasse diese Zustände!
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Ellen Kositzas gesammelte Wochenrückblicke der Jahre 2014–2016 sind in Buchform erhältlich! Ellen Kositza: Das war’s. Diesmal mit: Kindern, Küche, Kritik, Schnellroda 2017. Hier einsehen und bestellen!
Franz Bettinger
Liebe Frau Kositza, ich will unbedingt auch so einen Sticker ("Pack" unterlegt mit den Farben Deutschlands). Wo kann man ihn kaufen? Zehn Stück bitte!