Wenn trotz der Vorherrschaft der Union im deutschen Parteiensystem seit Jahrzehnten von einer „Sozialdemokratisierung“ der Bundesrepublik gesprochen wird, dann ist vor allem dieser Deutungsrahmen gemeint, innerhalb dessen in Deutschland Probleme der sozialen Gerechtigkeit überhaupt verstanden werden: Der Staat als Nikolaus, der die wirtschaftlichen Lebkuchen unter den lieben Kinderlein zu verteilen habe.
In anderen westlichen Ländern, selbst den „neoliberalen“ Vereinigten Staaten, sieht es diesbezüglich übrigens kaum besser, in den romanischen Ländern sogar eher schlechter aus. Das stilisierte Leiden am eigenen Vaterland, das in der Wendung von den „sozialdemokratisierten Deutschen“ liegt, zählt weit mehr zu den spezifisch deutschen Nationallastern als die „Sozialdemokratisierung“.
Dennoch, das Problem selbst ist vorhanden, und deshalb birgt die Sozialpolitik für populistische Bewegungen eine Falle samt Köder. Der Köder ist der Stimmengewinn vor allem an Protestwählern, der sich durch reichhaltige Sozialversprechungen erzielen läßt. Besonders verlockend ist dieser Köder, weil die Politiker populistischer Parteien einkalkulieren können, daß sie bis auf weiteres noch die Oppositionsbank wärmen und damit von der Verwirklichung ihrer Versprechen vorerst entbunden sein werden.
Die Falle besteht darin, daß die praktischen Möglichkeiten erfolgreicher Sozialpolitik viel begrenzter sind als weithin angenommen. Das betrifft zumindest die Art der Sozialpolitik, die leicht auf ein populäres Programm herunterzubrechen ist und deshalb meist von populistischen Bewegungen versprochen wird, die sich ihrer zum Stimmenfang bedienen wollen: Die Verteilung des Volkseinkommens von oben nach unten und vor allem vom Kapital zur Arbeit.
Bereits vor über hundert Jahren hat der Ökonom und langjährige österreichische Finanzminister Eugen von Böhm-Bawerk (eigtl. Eugen Böhm Ritter von Bawerk) in seinem wegweisenden Aufsatz »Macht oder ökonomisches Gesetz?« (1914) aufgezeigt, daß sich auf dem Weg politischer oder gewerkschaftlicher Macht zwar kurzfristige Änderungen der jeweiligen Anteile durchsetzen lassen, dies jedoch längerfristig im Wirtschaftsleben die schädlichsten und ungerechtesten Nebenwirkungen hervorruft.
Um hier nicht bei der bloßen Behauptung stehenzubleiben, sei das wichtigste der diesbezüglichen Phänomene kurz skizziert: Die sogenannte Grenzproduktivität sorgt dafür, daß ein Mindestlohn, der über dieser Grenzproduktivität liegt, die Arbeitslosigkeit erhöht. Wieso?
Man stelle sich einen gegebenen Kapitalstock vor, eine Fabrik mit Maschinen, Material, Fuhrpark etc. Das Kapital alleine ist nicht produktiv, es müssen also Arbeiter eingestellt werden. Zunächst wird die Mindestbelegschaft eingestellt, so viele Arbeiter, wie mindestens notwendig sind, damit der Produktionsablauf überhaupt funktionieren kann. Ab diesem Punkt ist die Fabrik produktiv.
Sie ist aber noch lange nicht ausgelastet. Also werden weitere Arbeiter eingestellt. Dabei passiert folgendes: Jeder neu eingestellte Arbeiter steigert die Produktivität der Fabrik um einen geringeren Betrag als der vor ihm eingestellte Arbeiter. Der Betrag, um den die Produktivität der Fabrik durch die Einstellung des letzten Arbeiters gesteigert wurde, nennt man Grenzproduktivität.
Sinnvollerweise kann der Lohn nicht höher sein als der Betrag ebendieser Grenzproduktivität. Denn wäre der Lohn höher, dann würde der Fabrikbesitzer mit der Beschäftigung des zuletzt eingestellten Arbeiters Verlust machen. Er würde also seine Belegschaft verkleinern, sprich: Arbeiter entlassen.
Nun ist es möglich, den Unternehmer durch gewerkschaftlichen Druck oder durch Gesetze an Entlassungen zu hindern. In diesem Fall, so Böhm-Bawerk, wird er die Belegschaft dadurch verkleinern, daß Abgänge nicht mehr durch Neueinstellungen ersetzt werden. Mit der Gewerkschaftspolitik in der alten Bundesrepublik und vielen anderen europäischen Ländern in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg (Griechenland, aber auch Spanien waren/sind da ganz besonders harte Fälle) wurde die Probe aufs Exempel gemacht, und Böhm-Bawerk hat recht behalten.
Solange in der Wirtschaftswunderzeit ein allgemeiner Mangel auch an niedrigerqualifizierten Arbeitskräften herrschte, ging alles gut. Danach aber war das Ganze eine Bereicherung derer, die drinnen waren, einen festen Arbeitsplatz hatten, nicht auf Kosten des Kapitals oder der Reichen, sondern auf Kosten derer, die draußen waren. Vor allem eine Bereicherung der Alten auf Kosten der Jungen.
Man wird es aber immer als den größten Erfolg der Sozialdemokratie verbuchen müssen, daß der klassische, gewerkschaftlich organisierte Arbeitsplatz in breitesten Kreisen zu einem normativen Ideal geworden ist. Wenn heute in westlichen Ländern von den sozialen Problemen der weißen Bevölkerung die Rede ist, dann sind in letzter Hinsicht fast immer zwei Dinge gemeint: erstens Arbeitslosigkeit, zweitens die prekäre Situation vieler Beschäftigter, verglichen mit dem klassischen Festangestellten. Gleichzeitig läßt sich beides jedoch nur durch Wirtschaftswachstum bekämpfen, im Bereich sozialpolitischer Maßnahmen kann das eine Übel nur auf Kosten einer Verschlimmerung des anderen gemildert werden.
Aber ist die sich verschlechternde Lage der popularen Klassen wirklich nur Faktoren geschuldet, die es schicksalsergeben hinzunehmen gilt? Natürlich nicht. Doch hier ist das große politische Kunststück gefragt. Denn die tatsächliche Ausbeutung derer da unten durch die da oben findet heute durch Manipulationen der Wirtschaftsstruktur statt, die nicht so einfach aufzuzeigen und anzuprangern sind.
Zum Beispiel durch Währungsmanipulation auf dem sogenannten freien Weltmarkt, eine Politik, von der vielleicht aufstrebende Schwellenländer für eine Zeit profitieren können, weil sie dadurch überhaupt erst Industrie aufbauen, von der langfristig aber nur einige, leider oft lobbyistisch gut aufgestellte Branchen etwas haben.
Donald Trump hat hier, wenn auch unter vergleichsweise günstigen Umständen, gezeigt, wie guter Sozialpopulismus zu machen ist. Er machte das katastrophale Außenhandelsdefizit der Vereinigten Staaten zum Wahlkampfthema, und er brachte dieses Thema auf sehr geschickte Weise vor. Erstens wies er einen klaren Feind zu, diejenigen Länder, die ihre Währungen manipulieren oder sich andere illegitime Vorteile im Handel mit den Vereinigten Staaten verschaffen, vor allem China. Zweitens erklärte er das Außenhandelsdefizit zur nationalen Schmach („We don‘t win anymore!“), für die er drittens die Schlaffheit des Establishments verantwortlich machte.
Das Beste an der ganzen Sache war: Trump hatte sich das nicht aus den Fingern gesogen. Im großen und ganzen stimmt das. Die versprochene Politik, bessere Handelsverträge, läßt sich also umsetzen, auch wenn das, gerade was China betrifft, nicht einfach wird. Trump entgeht dadurch der gefährlichsten Falle für Populisten, eine Thematik als Strohmann aufzubauen, weil sich damit Wählerstimmen fangen lassen.
Einmal an der Regierung kann man dann unabhängig von den eigenen politischen Fähigkeiten schon deshalb nicht liefern, weil die ganze Problemstellung, die man den Wählern präsentiert hat, von vorne bis hinten nicht stimmt. Das Establishment macht das übrigens auch recht oft, nur steht es bei weitem nicht unter dem Erfolgsdruck frisch an die Macht gekommener Außenseiter. Für Populisten ist das tödlich.
In Deutschland wird das leider nicht so einfach sein. Die unsozialste Umverteilung in Deutschland ist die De-facto-Subvention der Exportindustrie durch die De-facto-Währungsmanipulation qua Mitgliedschaft in der Eurozone. Durch den Euro gilt in Deutschland eine Währung, die ein deutlich niedrigeres Wechselkursverhältnis hat als eine hypothetische D‑Mark.
Das bedeutet: Der deutsche Maschinenbauer kann seine Ware auf dem Weltmarkt günstiger anbieten, ohne daß sein Einkommen, in einheimischer Währung gerechnet, sinkt. Dafür wird der Einkauf von Importwaren für alle teurer. Das bezahlt dann auch die sprichwörtliche Putzfrau, wenn sie sich ein Mobiltelefon, eine Kamera oder einen Computer zulegt.
Nur ist das viel schwieriger anzuprangern als das amerikanischen Handelsdefizit. Schon deshalb, weil sehr viele Deutsche auf die Exportüberschüsse ihres Landes auch noch stolz sind. Der Euro war zwar nach seiner Einführung kurzzeitig als Teuro verschrien, doch inzwischen haben die Leute keinen Vergleichswert mehr. Wirklich unpopulär ist die Gemeinschaftswährung nur durch die Aussicht geworden, auf ewig und drei Tage für Griechenland zu zahlen. Doch selbst dieses Thema spielt heute bei weitem nicht mehr die Rolle wie vor fünf Jahren.
Die Abwälzung von Risiken auf die Allgemeinheit, die in der Finanzwirtschaft stattfindet, stellt den Populisten hingegen nicht vor das Problem, daß keiner das Problem versteht. Auch wenn die Details hier oft sehr komplex sind, ist das Grundproblem, daß Banken und andere Finanzmarktakteure im Erfolgsfalle die Gewinne einstreichen und die Risiken oft an den Steuerzahler weiterreichen, weitreichend verstanden worden.
Nur ist das Thema sehr saisonbedingt. Solange gerade keine Finanzkrise akut ist, läßt sich damit wenig machen, weil Fragen der Finanzmarktregulation niemanden interessieren, bis er Angst um sein Erspartes bekommt. Es geht hier um die Verteilung von Risiken, nicht um die Verteilung unmittelbaren Einkommens oder Vermögens. Solange nichts passiert, ist die Öffentlichkeit nicht daran interessiert.
Wenn man von dem absieht, was die eifrigen Extremismusforscher „Sozialchauvinismus“ nennen, nämlich der Feststellung, daß der Import zahlreicher geringqualifizierter Arbeitskräfte die Arbeitslosigkeit erhöht, die Sozialkassen belastet und die Position der eigenen Unterschicht in Lohnverhandlungen verschlechtert, dann ist Sozialpopulismus viel schwieriger zu betreiben, als gemeinhin angenommen.
Es spricht sehr vieles dafür, diese Schiene zu fahren, gerade deshalb, weil in den besser betuchten Schichten eine kosmopolitische Weltanschauung immer noch ein Statusobjekt ist, mit dem man sich vom Pöbel abgrenzen kann, freilich ohne selbst in einem kulturbereicherten Viertel zu leben.
Langfristig wäre es jedoch sehr gefährlich, einfach das Parteiprogramm der Linken abzuschreiben und das Gefasel über „soziale Gerechtigkeit“ zu übernehmen. Ein Sozialpopulismus von rechts kann nur funktionieren, wenn er sich konkrete, behebbare Mißstände heraussucht und deren Problemlage massenwirksam vermittelt. Solche Fälle überhaupt erst zu finden und dann politisch zu bearbeiten, wird die große Herausforderungen rechter Sozialpolitik sein.
Als im neunzehnten Jahrhundert die sozialistische Agitation gefährliche Ausmaße annahm, bestand das wichtigste Mittel, um die Klassenkämpfe zu entschärfen, in der Absicherung der Arbeiterschaft durch ein entsprechendes Versicherungswesen. Das war ein ebenso populärer wie praktikabler Schritt. Heute stehen wir vor der Situation, daß diesem Versicherungswesen die demographische Grundlage unter den Füßen dahinschwindet.
Damit hier mehr als nur Kritik steht, also ein Vorschlag zum Schluß: Im Bundeshaushalt für das Jahr 2017 sind über 98 Milliarden Euro als Zuschuß für die Rentenversicherung vorgesehen. Es ist höchste Zeit, Kinderlosigkeit zu besteuern.
Fredy
Und, Meister Poensgen. Ich komm gerade von der Arbeit. Wzbw. Sicher, reden, schreiben und lesen geht sich gut aus. Ich nehm Sie demnächst mal zur Arbeit mit. Wohlwissend, dass ich Ihren Teil werd mitleisten müssen. Habe die Ehre.