Die überwältigende Mehrheit der Reaktionen folgte in etwa diesem Schema: Wut über die polizeiliche Toleranz gegenüber linken Gewalttätern, Haß auf diejenigen Teile des Establishments, welche die kriminellen Elemente der Antifa heimlich oder gar offen unterstützen, hilfloser Zorn darüber, diesem Treiben untätig zusehen zu müssen, da eine rechte Reaktion auf diese Ausschreitungen, die zumindest in Halle haarscharf am versuchten Mord vorbeischrammten, selbstverständlich von der Justiz geahndet würde.
Der grundlegende Tenor ist vertraut: „Wenn wir doch nur wieder einen funktionierenden, unabhängigen Rechtsstaat hätten, der das staatliche Gewaltmonopol gegenüber allen Parteien durchsetzte.“
Das ist zunächst nicht falsch. Wir alle wären mit einem solchen Rechtsstaat besser dran, als mit der gegenwärtigen Anarcho-Tyrannei (Sam Francis). Doch gilt es die Frage zu stellen, ob wir nicht inzwischen mit Verhältnissen konfrontiert sind, in denen auch ein tadellos funktionierender klassischer Rechtsstaat aus seiner Eigenlogik heraus die Anarcho-Tyrannei beförderte, also jenen Zustand, in dem der Staat vor kriminellen und gewalttätigen Elementen immer mehr das Feld räumt und stattdessen hauptsächlich seine gesetzestreuen Bürger drangsaliert, mit der Folge, daß diese Bürger zwischen der Staatsmacht und dem Gangstertum zerrieben werden. Ich denke, daß dies inzwischen zumindest dann der Fall ist, wenn dieser Rechtsstaat versucht, streng am staatlichen Gewaltmonopol festzuhalten.
Dazu ein einfaches spieltheoretisches Modell. Die dafür notwendigen Kenntnisse finden sich allesamt in dem sehr empfehlenswerten Einführungsbuch „Spieltheorie für Nichtmathematiker“ von Morton D. Davis. Ich hoffe selbstredend, daß diese Ausführungen auch ohne weiterführende Lektüre verständlich sein werden.
Stellen wir uns eine Auseinandersetzung zwischen zwei Personen oder zwei Gruppen vor. Beide Seiten haben die Option entweder konfrontativ zu handeln, oder nachzugeben. Geben beide nach, erhalten beide nichts. Ist der eine konfrontativ und der andere nicht, so setzt sich der Konfrontative durch und erhält worum auch immer es geht. Diesem Gewinn des Konfrontativen entspricht ein Verlust des Nichtkonfrontativen.
(Gewinn- und Verlustmöglichkeiten müssen jedoch nicht zwangsläufig symmetrisch sein. Bei dem Versuch eines Raubes zum Beispiel, wird der Räuber etwas zu gewinnen, der Überfallene nur etwas zu verlieren haben, der „Gewinn“, den der Überfallene erhält, wenn er sich gegen den Räuber durchsetzen sollte, besteht in der Vermeidung des Verlustes, der Verlust des Räubers ist dann der nicht eingetretene Gewinn. Psychologisch kann das sehr wichtig sein, für die Systematik ist es irrelevant. Außerhalb der, in der Praxis seltenen, Nullsummenspiele ist es auch nicht notwendigerweise so, daß die Gewinnhöhe des einen, der Verlusthöhe des anderen entspricht.)
Nur wenn beide sich für die konfrontative Möglichkeit entscheiden (der Spieltheoretiker sagt hier, sie wählen die konfrontative „Strategie“), kommt es zu einer Auseinandersetzung, die strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht, meist zu Gewalt. Diese Annahme scheint zunächst absurd, denn das Gesetz bestraft schließlich auch die Nötigung durch Androhung von Gewalt. Doch in vielen Fällen ist diese Drohung bei Weitem nicht so explizit, wie im Falle eines Räubers, der mit vorgehaltener Pistole einen Überfall begeht.
Auf jeden Fall ist die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung bei tatsächlichen Gewalttaten größer, als bei bloß angedrohten. Das gilt vor allem bei vielen Konflikten im und um den öffentlichen Raum, bei denen es darum geht, diesen Raum zu behaupten, oder den anderen daraus zu vertreiben und bei denen eine vor Gericht verwertbare Drohung oft nicht ausgesprochen zu werden braucht. Dieser öffentliche Raum kann dabei genauso ein Vortragssaal, wie ein Straßenzug sein.
Das gleiche gilt für jene Konflikte, die vor allem um die Ehre und Gesichtswahrung der Betreffenden geführt werden. Kurz: Diese Annahme gilt besonders häufig für (politischen) Statuskämpfe.
In der rechtsstaatlichen Theorie gibt es nun eine Partei, die in dem Streit im Recht ist und eine, die im Unrecht ist. Nur die im Unrecht befindliche Partei hat die vielgepriesene „Härte des Rechtsstaates“ zu fürchten. Die andere Partei handelt in Notwehr, der legalen Ausnahme vom staatlichen Gewaltmonopol.
Unter diesen Bedingungen könnte die sogenannte Auszahlungsmatrix einer Auseinandersetzung folgendermaßen aussehen:
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B (Im Unrecht befindliche Partei) |
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Konfrontation |
Nichtkonfrontation |
A (Im Recht befindliche Partei) |
Konfrontation |
-5/-100 |
10/-10 |
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Nichtkonfrontation |
-10/+10 |
0/0 |
Tabelle 1
Diese Matrix ist nicht kompliziert. Die Zeilen stellen die beiden Strategien der sich im Recht befindlichen Partei (A) dar, die Spalten die Strategien der sich im Unrecht befindlichen Partei (B). Die vier Felder mit den Zahlen stellen die möglichen Kombinationen dar und geben ihre jeweiligen Auszahlungen für beide Parteien an. Diese Auszahlungen werden in sogenannten Nutzenquanten angegeben. Das bedeutet, alle Facetten des betreffenden Ereignisses werden in einem Wert zusammengefaßt, der den Nutzen oder den Schaden wiedergibt, den dieses Ereignis für den betreffenden hat. Das dient einfach der Vergleichbarkeit.
Die Zahlen vor dem Schrägstrich geben die Auszahlungen für A und die Zahlen nach dem Schrägstrich diejenigen für B an.
Entscheiden sich beide fürs Nachgeben, so verwirklicht sich die Möglichkeit in dem Feld rechts unten. Beide erhalten also nicht. Entscheidet sich A für die Konfrontation und B für die Nichtkonfrontation, so verwirklicht sich die Möglichkeit im Feld rechts oben. A erhält 10 und B verliert 10.
Tabelle 1 zeigt eine Situation in der die körperlichen Gefahren einer gewaltsamen Eskalation, gegenüber den Verlusten im Falle des Nachgebens akzeptabel sind, die juristische Gefahr jedoch beides weit übersteigt. Das kann ein Zusammenstoß auf der Straße oder in einer Kneipe sein, bei dem nur begrenzte Gewalt zu befürchten ist.
Es kann aber auch die Situation in Halle sein, wenn wir davon ausgehen, daß die Bewohner bereit gewesen währen ihr Leben zu riskieren um den linken Terror zu brechen, jedoch von den juristischen Konsequenzen zurückgehalten wurden, die im Falle des Kampfes der gesamten Bewegung gedroht hätten.
Entscheidend für dieses Modell ist die Auszahlung im Falle des Kampfes: Die ‑5 im oberen linken Feld stellt die Gesamtheit aller Schäden dar, mit denen A im Falle eines Kampfes zu rechnen hat. Die ‑100 stellen die Gesamtheit aller Schäden dar, mit denen B im Falle des Kampfes zu rechnen hat. In unserem idealen Rechtsstaat sind diese Schäden der im Unrecht befindlichen Partei viel größer, weil sie nicht nur mit dem Kampf selbst zu rechnen hat, sondern hinterher als einzige Probleme mit der Strafjustiz bekommt.
Sehen wir uns Tabelle 1 noch einmal an, dann merken wir, daß es für A immer das Beste ist, auf seinem Recht zu bestehen und dafür auch die Eskalation in Kauf zu nehmen. Wählt A die Konfrontation, dann fährt er immer besser als wenn er sich für die Nichtkonfrontation entscheidet, gleichgültig welche Strategie B wählt (-5>-10 und 10>0).
Wenn eine Strategie in mindestens einem Falle ein besseres Ergebnis erbringt, als eine andere und in allen anderen Fällen mindestens gleich gut ist, dann sagt der Spieltheoretiker, daß diese Strategie die andere „dominiert“.
Aus denselben Gründen ist es für B in unserem idealen Rechtsstaat immer besser nachzugeben, oder noch besser, die ganze Situation erst gar nicht herbeizuführen. Denn wenn A bereit ist sein Recht durchzusetzen, dann kann er das von ihm gewünschte Ergebnis im unteren linken Feld gar nicht erreichen und ‑10 ist immer noch deutlich besser als ‑100.
In der Praxis gibt es jedoch folgendes Problem: Je strenger der Staat sein Gewaltmonopol wahrt, desto gefährlicher wird es für A von seinem Notwehrrecht Gebrauch zu machen. Denn je strenger das Gewaltmonopol, desto eingeschränkter das Selbstverteidigungsrecht. Es wird immer unsicherer, ob ein Gericht im Zweifelsfalle tatsächlich auf Notwehr erkennen würde, oder ob A nicht befürchten muß, zumindest eine unverhältnismäßige Reaktion angerechnet zu bekommen.
Jetzt könnte unsere Auszahlungsmatrix schon so aussehen:
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B (Im Unrecht befindliche Partei) |
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Konfrontation |
Nichtkonfrontation |
A (Im Recht befindliche Partei) |
Konfrontation |
-50/-100 |
10/-10 |
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Nichtkonfrontation |
-10/+10 |
0/0 |
Tabelle 2
Für A ist es bereits schwieriger. Die konfrontative Strategie dominiert nicht mehr die nichtkonfrontative Strategie. Wenn B konfrontativ fährt, dann ist es für A besser nachzugeben. B kann also mit Konfrontation drohen und es währe möglich, daß A diese Drohung ernst nimmt.
Das bringt uns zu einem scheinbaren Paradoxon der Spieltheorie. In Nichtnullsummenspielen (und um ein solches handelt es sich hier) kann es durchaus von Vorteil sein, selbst auf eine bestimmte Strategie festgelegt zu sein, oder dies den anderen zumindest glauben zu lassen. Denn in diesem Falle kann man vom Gegner nicht zur Wahl einer anderen Strategie gedrängt werden. Wenn der Gegner das weiß, wird er es gar nicht erst versuchen.
Nehmen wir also an, daß im Fall von Tabelle 2 sich B immer für Konfrontation entscheidet. Sei es, daß B ein Problem mit seinem Temperament hat, sei es, daß er einfach geistig zu beschränkt ist, um die Tragweite der Situation zu überreißen. Wichtig ist nur, daß A dies weiß, oder zumindest annimmt. In diesem Falle wird sich A dafür entscheiden nachzugeben. B, die im Unrecht befindliche Partei, setzt sich durch und zwar aufgrund der Drohung durch den sein Gewaltmonopol wahrenden Rechtsstaat gegen A.
Nebenbei, in der sozialen Praxis hat dies natürlich den Effekt, daß Dritte das kriminelle Verhalten von B (richtigerweise) als erfolgversprechend ansehen und nachahmen werden.
Doch wie wahrscheinlich ist es, daß A glaubt, B werde (trotz der drohenden Kosten für B) tatsächlich auf Konfrontation gehen? Das bringt uns zum letzten Problem dieser Ausführung. Die Nutzenquanten, also die Zahlen die die Auszahlung angegeben, stehen für den subjektiven Nutzen (oder Schaden), den die jeweilige Partei diesem Ergebnis zumißt.
Damit entsprechen sie einer wichtigen Realität. Bei unserem Problem ist es so, daß juristische Konsequenzen, auch wenn sie materiell identisch sind, für verschiedene Verurteilte bei weitem nicht gleich schwerwiegend sein müssen.
Nehmen wir an, A führt ein bürgerliches Leben in der normalen Gesellschaft. Eine Vorstrafe – und sei es nur auf Bewährung – würde seine soziale und berufliche Existenz möglicherweise vernichten. Nehmen wir weiter an, B stammt aus einer Parallelgesellschaft gleich welcher Art, in der damit keine, oder nur eine geringe Stigmatisierung verbunden ist. Wer in Onkel Alis Dönerbude arbeitet, oder zur Fauna der Roten Flora zählt, dem können Bewährungsstrafen weitestgehend gleichgültig sein und selbst richtige Gefängnisstrafen schrecken ihn weit weniger.
Jetzt könnte die Auszahlungsmatrix schon so aussehen:
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B (Im Unrecht befindliche Partei) |
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Konfrontation |
Nichtkonfrontation |
A (Im Recht befindliche Partei) |
Konfrontation |
-200/-25 |
10/-10 |
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Nichtkonfrontation |
-10/+10 |
0/0 |
Tabelle 3
Unter diesen Umständen ist eine Drohung von B nur allzu glaubhaft.
Ich erinnere daran, daß dieses Modell keinerlei Voreingenommenheit der staatlichen Stellen beinhaltet. Diese könnten natürlich dazukommen, doch hier setzt der Staat nur rigoros sein Gewaltmonopol durch. Allerdings hat dieser Staat es mit einer Bevölkerung zu tun, in der einige Gruppen sich deutlich weniger um die „Härte des Rechtsstaates“ kehren, als andere.
Könnte die Lösung in der Liberalisierung des Waffen- und Selbstverteidigungsrechtes liegen? Leider nicht ohne Nebenwirkungen. Solange der Staat nämlich weiterhin ein Rechtsstaat ist, der allen die gleichen Rechte zusichert, kann er das Notwehrrecht nicht für bestimmte Gruppen ausdehnen, für andere hingegen einschränken.
In einigen amerikanischen Bundesstaaten gibt es sogenannte stand your ground laws. Das bedeutet, daß man als Angegriffener nicht verpflichtet ist, nach Möglichkeit zu fliehen, sondern sich selbst dann verteidigen darf, wenn man sich auch anderweitig in Sicherheit bringen könnte. Die Gefahr wegen unverhältnismäßiger Notwehr verurteilt zu werden, ist in diesen Staaten gering. Doch stand your ground führt auch oft genug zu Freisprüchen bei Bandenkriegen. Der staatlich garantierte Rechtsfriede erodiert so oder so.
Selbstverständlich, die in diesen drei Auszahlungsmatrizen verwendeten Zahlen sind von mir rein willkürlich gewählt, um die Logik des Problems zu illustrieren. Die Messung der Auszahlungen und ihre Umrechnung in einheitliche Nutzenquanten ist bei wirklich vorkommenden Fällen nur ganz schwer möglich. Doch bedeutet das Meßbarkeitsproblem nicht, daß die Theorie weniger zutreffend wäre, sondern nur, daß wir uns überlegen müssen, welche Matrix der heutige Situation wohl am ehesten entspricht.
Hinweis:
Die Nutzenquanten müssen kein sicheres Ergebnis ausdrücken, das mit Gewissheit in dem betreffenden Falle eintrifft. Sie können auch die Wahrscheinlichkeit verschiedener Ereignisse darstellen. In diesem Falle geben die Nutzenquanten den Nutzen dieser „Lotterie“ an, der davon abhängt, welche Ereignisse mit welcher Wahrscheinlichkeit eintreten.
Coriolan
Bitte um Entschuldigung, wenn ich mir aus diesem Aufsatz nur einzelne Passagen rausschneide, aber das meiste von dem Geraffel interessiert mich nicht. Es geht wieder weit an der Realität vorbei, das Wahre wird verklärt. Wohlwollend könnte man von Feingebäck für ( rechte ) Intellektuelle sprechen, wie bei Pâtisserie.
Mir kommt es vordererst auf dieses Wortungetüm an:
"Doch gilt es die Frage zu stellen, ob wir nicht inzwischen mit Verhältnissen konfrontiert sind, in denen auch ein tadellos funktionierender klassischer Rechtsstaat aus seiner Eigenlogik heraus die Anarcho-Tyrannei beförderte, also jenen Zustand, in dem der Staat vor kriminellen und gewalttätigen Elementen immer mehr das Feld räumt und stattdessen hauptsächlich seine gesetzestreuen Bürger drangsaliert, mit der Folge, daß diese Bürger zwischen der Staatsmacht und dem Gangstertum zerrieben werden."
Sehr geehrter Herr Poensgen,
haben Sie jemals den Spielfilm "Falling Down" von Joel Schmumacher mit Michael Douglas in der Hauptrolle gesehen? Falls nicht, holen Sie es bitte schleunigst nach. Den ganzen Film sollte man sich mit dem Hintergedanken ansehen, daß dort wo die Gesichte spielt, Demokratie herrscht.
Die von Ihnen beschriebenen Zustände sind urdemokratisch. Brauchen Sie wirklich einen Amerikaner, der Ihnen dafür einen Ersatzbegriff an die Hand gibt? Mal daran gedacht, daß Leute wie Sam Francis sich selbst belügen, da sie ihre eigene Weltanschaung nicht mit Dreck besudeln wollen?
Ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, daß sich bei Ihnen noch eine wahrhaftige Erkenntnis über das Wesen der Demokratie einstellt.
"Könnte die Lösung in der Liberalisierung des Waffen- und Selbstverteidigungsrechtes liegen?"
Die Lösung liegt in der Bereitschaft, den Demokraten den Absatz von den Schuhen zu treten. Dafür braucht man nicht unbedingt Maschinenpistolen.