Sezession: Sehr geehrter Herr Dr. Dr. v. Waldstein, Ihr Sammelband Die entfesselte Freiheit ist ausweislich des Untertitels »wider die liberalistische Lagevergessenheit« gerichtet.
Die Berufung auf »die Lage« als Fundament politischen Denkens und Handelns findet sich bei Gottfried Benn, findet sich auch in der Arbeit des Politologen Hans-Joachim Arndt, der sich um eine Rückbesinnung der Deutschen auf ihre Eigeninteressen bemühte und dem Sie ein Porträt gewidmet haben, schlußendlich findet er sich ausdrücklich in Ihrem kaplaken-Band Metapolitik.
Worin unterscheidet sich diese »politische Lageanalyse« vom Pragmatismus, der Handeln und Ziele je nach Tagesform wechselt, um das Risiko eines Mißerfolgs zu minimieren?
v. Waldstein: Die Deutschen werden in der Sphäre des Politischen nur bestehen können, wenn es ihnen gelingt, ihre vielfach beschädigte Identität als Volk zurückzugewinnen.
Eine politische Lageanalyse, die nicht nur an den Symptomen herumdoktert, sondern Roß und Reiter benennen will, wird nicht umhin kommen, sich mit den tieferliegenden Ursachen der deutschen Tragimisere zu befassen. Umgekehrt kennzeichnet es die seit 1949 etablierten politischen Kräfte, daß sie das Wahlvolk ebenso planmäßig wie erfolgreich davon abgehalten haben, sich über die Lage der Nation im klaren zu werden.
Diese Verhältnisse scheinen aufgrund der historischen Umbrüche, deren Zeuge wir sind, derzeit ins Rutschen zu geraten, was man nur begrüßen kann. Gleichwohl stehen wir erst am Anfang einer ehrlichen Diagnose.
Wie es im Innersten des mit konsumistischem Flittergold nur mühsam bedeckten, bundesdeutschen Elends tatsächlich aussieht, entzieht sich nach wie vor dem Vorstellungsvermögen der meisten Akteure, leider auch vieler widerständiger Kräfte. Für diese nun anstehenden, wenig erbaulichen, aber unumgänglichen Detailanalysen versucht mein Buch einen ersten Orientierungsrahmen zu geben.
Daß in der Tagespolitik pragmatische Schachzüge vonnöten sein können, die entsprechend den wechselnden Gegebenheiten der Situation variieren (müssen), ist unstreitig. Über „die Kunst, aus Gelegenheiten Ereignisse zu machen“ (Politikdefinition von Helmuth Plessner), verfügt aber nur derjenige, der genau weiß, wohin er will.
Es gehört zu dem Schicksal Deutschlands, daß seit dem Abgang Bismarcks – mit wenigen Ausnahmen – Politiker die Szene bestimmen, denen solche Ziele fehlen, an denen sich der vorzitierte Pragmatismus ausrichten könnte.
Wer diese Dinge permanent durcheinander bringt, endet in dem Muddling-Through, von dem der BRD-Politikbetrieb, dem Treiben in einem Hühnerstall nicht unähnlich, unverändert gekennzeichnet ist.
Sezession: Die Lage der Parteipolitik hat sich in Deutschland mit der Wahl am 24. September von Grund auf geändert. Nicht nur haben wir jetzt das größte Parlament in der Nachkriegsgeschichte; mit der AfD hat auch eine neue, gerade einmal viereinhalb Jahre alte Partei das bundespolitische Parkett betreten, die ausdrücklich mit dem Anspruch angetreten ist, das Establishment durcheinanderzuwirbeln.
Nun haben Sie im Laufe Ihrer eigenen metapolitischen Arbeit viele neue, dissidente Parteien kommen und gehen sehen – wie schätzen Sie die neue Situation ein? Kann diese Partei ebenfalls ihr Scherflein zu einer Abkehr von der »liberalistischen Lagevergessenheit« beitragen?
v. Waldstein: Die politischen Parteien, zu deren gesetzlichen Aufgaben es u.a. gehören würde, „für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen (zu) sorgen“ (§ 1 Abs. 2 Parteiengesetz), sind in den bleierner Jahrzehnten der BRD zu monolithischen Machtblöcken geronnen, die sich systematisch gegen frischen Wind von außen abgeschirmt haben und die es seit langem gewohnt sind, untereinander die Beute zu teilen.
Die Repräsentanten dieser Parteien sind nicht selten geprägt von Persönlichkeitsdeformationen und sonstigen oligarchischen Abschleifeffekten, die den schönen Charakterzügen des Menschengeschlechts eher abträglich sind.
Das Spinnen von Intrigen, das Ausleben von Geltungssucht und die Pflege der sattsamen Seilschaften bestimmen viel mehr den Politikeralltag als alles andere. Im Lichte dieser strukturellen Verkrustung und personellen Negativauslese ist das Bild einer „flüssigen Demokratie“, die durch einen (teilweisen) politischen Ölwechsel von innen heraus gereinigt werden könnte, wenig realitätsbezogen.
Die Leute, die solch‘ rührende Gemeinschaftskundelyrik unter’s Volk bringen, haben von den filigranen Machtstrukturen in der BRD keine Ahnung. Wie alle alteingesessenen Eliten wird sich auch das hiesige Amalgam aus strippenziehenden Politikern und machtverliebten Journalisten mit allen zu Gebote stehenden Mitteln der eigenen Verabschiedung entgegenstemmen.
Manches spricht indes für den erfreulichen Befund, daß diese Beharrungskräfte eines obszönen selbstreferentiellen Systems angesichts der schon beschriebenen historischen Umbruchsituation mehr und mehr schwinden.
In dieser Lage ist es m.E. nicht Aufgabe der AfD, ein abgewirtschaftetes und deutsche Interessen mit Füßen tretendes Parteiensystem zu erneuern; vornehmstes Ziel sollte es stattdessen sein, auf der Basis einer stolzen zweihundertjährigen deutschen Demokratietradition erst wieder die Voraussetzungen für eine echte Volksherrschaft auf deutschem Boden zu schaffen.
Die – im Vergleich zur FPÖ, die hoffentlich aus ihren Fehlern von 1999 gelernt hat – beneidenswerte Lage der AfD als Oppositionspartei erlaubt einen beinharten Konfrontationskurs gegen diejenigen, die danach trachten, den Ausverkauf Deutschlands auch nach der Bundestagswahl 2017 fortzusetzen.
Getreu dem römischen Motto fortiter in re, suaviter in modo (Bestimmt in der Sache, umgänglich im Ton) müssen die Überlebensfragen der deutschen Nation wieder und wieder in das Zentrum der politischen Debatte gelenkt werden. Will die AfD das Schicksal von DRP, NPD, Republikanern, Schill-Partei, Bund freier Bürger usw. usf. vermeiden, muß die Partei unbedingt ihren Glutkern bewahren.
Zu keinem Zeitpunkt dürfen die AfD-Mandatare vergessen, wer sie warum gewählt hat. Das schließt die weitere Verpflichtung ein, sich von den Verlockungen auf eine harmonieselige und finanziell schmackhaft gemachte „Teilhabe“ an den Trögen der Macht konsequent fernzuhalten.
Das ist und bleibt die Gretchen-Frage des politischen Dienstes an einem Volk, an dessen „grauenhafter Anpassungsfähigkeit“ (Ernst Kantorowicz) und lebensgefährlicher Konsenssehnsucht man gelegentlich verzweifeln könnte. Ist diese Gefahr eines parteipolitischen Wärmetods gebannt und scheut man sich auch nicht, da, wo nötig, mit der erforderlichen Unversöhnlichkeit dem ancien regime gegenüberzutreten, laufen die Dinge fast automatisch auf einen weiteren, womöglich sogar stürmischeren Stimmenzuwachs für die Partei zu.
Nachdem die AfD mit dem Lucke-Abtritt 2015 und der Petry-Selbstdemontage 2017 zwei wichtige positive Häutungen vollzogen hat, sollte jetzt die Zeit gekommen sein, auf den neugewonnenen parlamentarischen Bühnen den Deutschlandabschaffern auf allen Feldern in die Parade zu fahren.
Sezession: Sie widmen sowohl dem bereits genannten Hans-Joachim Arndt als auch dem Philosophen Bernard Willms, der einer Ihrer beiden Doktorväter war, jeweils ein Porträt.
Nimmt man noch den Erlanger Historiker Hellmut Diwald hinzu, so lassen sich diese Wissenschaftler als das Dreigestirn einer Ende der 1970er aufkeimenden und in den 1980ern für Furore sorgenden nationalen deutschen Geisteswissenschaft bezeichnen. Alle drei sind mittlerweile verstorben; an den Universitäten scheint niemand ihr Erbe angetreten zu haben.
Wie schätzen Sie – vom metapolitischen Standpunkt aus – den Stellenwert und die Chancen einer Renationalisierung der Academia ein? Kann von dort nochmals ein prägender Einfluß auf die Gesellschaft ausgehen, wie dies vor fünfzig Jahren der Fall war? Oder ist der universitäre Betrieb inzwischen selbst ganz den Marktgesetzen unterworfen?
v. Waldstein: Das nationale Renouveau Ende der 1970er Jahre war ein zartes Pflänzchen, das schon damals nur zum Teil auf universitärem Humus aufkeimte. Den von Ihnen genannten drei Personen würde ich gerne noch die Namen Hans-Dietrich Sander und Heinrich Jordis von Lohausen zurechnen.
Von diesen fünf Männern hatte allein Arndt ein vollwertiges C4-Ordinariat (in Heidelberg). Willms und Diwald hatten wackelige, Sander und von Lohausen überhaupt keine universitären Wirkungsmöglichkeiten (mehr).
Dennoch gelang es diesen Patrioten, im Verein mit mutigen Publizisten bemerkenswerte Schneisen in ein damaliges Meinungsklima zu schlagen, in dem die deutsche Teilung als „Garant des Friedens in Europa“ abgefeiert wurde. Ich erinnere nur an den großartigen, von Wolfgang Venohr 1982 herausgegebenen Band Die deutsche Einheit kommt bestimmt, der im Establishment für einige Unruhe sorgte.
Die Lage der deutschen Universität des Jahres 2017 ist eine ganz andere: Von deren Vorlesungssälen und/oder Campusfeldern geht alles aus, nur nicht eine „Renationalisierung“. Nicht erst seit der Bologna-Reform findet dort – insbesondere an den sozialwissenschaftlichen Fakultäten – ein geistiger Niedergang statt, der historisch ohne Beispiel ist.
Allenfalls 40 Prozent der Erstsemester sind überhaupt studierfähig. Anstatt von Humboldtschen Idealen ist die heutige deutsche Universität erfüllt von konformistischen Turnübungen, Denunziantentum und einem wirklich unfaßbaren Gender-Gaga.
Gegen die Vorteilsverlogenheit, die dort tagtäglich unter dem Banner der angeblichen Freiheit der Wissenschaft zelebriert wird, erscheint Heinrich Manns Untertan noch als wahrer Wutbürger. Abgerundet wird dieses Bild durch „Junior-Professoren“, die vor lauter Drittmitteljagd kaum mehr Zeit für wissenschaftliches Arbeiten haben.
Angesichts dieser Zustände kommen einem als Steuerzahler die Tränen; als Bürger überkommt einen die Wut über den Verrat an den geistigen Potentialen der deutschen Jugend. Nein, Herr Wegner, ich bedaure: ein „nationales 1968“ an den deutschen Hochschulen halte ich leider für gänzlich ausgeschlossen.
Die Lebenslügen der BRD werden in den kommenden Jahren nicht in einem universitären, auf Gleichschaltung dressierten Binnenklima verabschiedet werden, sondern auf Straßen, Plätzen und anderen Orten, an denen das freie Wort nach Deutschland zurückkehrt.
Sezession: Zwei längere Texte in Ihrem Buch scheinen in unmittelbarer Beziehung zueinander zu stehen: »Seit wann wird Deutschland BRDigt?« und »Deutsche Entscheidungen im asiatischen Jahrhundert«.
Beide arbeiten die spezifisch deutsche Lagevergessenheit trennscharf heraus, sowohl im innen‑, geschichts- und kulturpolitischen Bereich wie auch vor allem auf geopolitischer Ebene; ein enorm wichtiges Themenfeld, dem sich vielleicht einzig hierzulande allerdings aus einer historisch konnotierten Büßermentalität verweigert wird.
Nun scheinen seit einigen Jahren nationale bis nationalistische und insbesondere antiglobalistische Bewegungen und Parteien in der ganzen westlichen Welt im Aufwind zu sein; insbesondere die Wahl Donald Trumps zum 45. US-Präsidenten vollzog sich unter beinahe schon isolationistischer Rhetorik, die der Neocon-Politik einer Weltbeglückung durch Democracy Absage um Absage erteilte.
Bislang hat sich die Lage als solche gleichwohl nicht spürbar verschoben – wie ist Ihre Meinung dazu, gerade im Angesicht weltwirtschaftlicher Szenarien wie der Aufzehrung fossiler Brennstoffe, die das ganze Globalisierungsgefüge zusammenbrechen lassen könnten?
Die klassische und vielbeschworene Mittellage Deutschlands in einem sich zunehmend polarisierenden Europa in Rechnung gestellt – wie sähe ein Mittelweg zwischen Amerika und Rußland aus? Oder geht es nicht ohne eine von beiden Mächten? Oder doch China?
v. Waldstein: Voraussagen über konkrete politische Entwicklungen sind schon in nationalstaatlichen Rahmen schwierig; auf internationaler Ebene halte ich sie für schlicht unmöglich.
Eine seriöse Politikbeobachtung muß sich daher darauf beschränken, wichtige Tendenzen und entstehende neue Machtpotentiale so früh wie möglich zu erfassen und zu beschreiben.
Nach meiner Überzeugung wird das Schicksal Europas und Deutschlands bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts u.a. von zwei Faktoren wesentlich bestimmt werden: Von dem (weiteren) explosionsartigen Anstieg der afrikanischen Bevölkerung, die derzeit täglich (!) netto um ca. 110 000 Menschen wächst (1900: 200 Mio.; 2000: 1,2 Mrd.; und nach vorsichtigen Schätzungen: 2050: 2,5 Mrd.; 2100: 5 Mrd. = Wachstum um das 25fache in 200 Jahren).
Und außerdem von dem (weiter) wachsenden globalen Machtanspruch Asiens, insbesondere Chinas, und der damit verbundenen, allmählichen Auflösung der pax americana.
Hinsichtlich des ersten Themas haben die Europäer die Wahl, sich nach der ungarischen Blaupause vollständig gegen die in Gang befindliche und von den Feinden der europäischen Völker befeuerte Invasion aus Afrika abzuschotten oder unterzugehen. Ein Mittelweg ist nicht denkbar.
Bei dem zweiten Thema brauchen Sie nur einen Blick auf das Südchinesische Meer werfen, um zu sehen, wie sich die Chinesen dort nach und nach ihren geopolitischen Vorhof zurückholen. Manches spricht dafür, daß sich in diesen Jahren die Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte herausbildet, die Carl Schmitt schon in seiner gleichnamigen Schrift im April 1939 skizziert hatte.
Eine solche Aufteilung des Globus in vier oder fünf solcher Großräume würde auch auf der Ebene der politischen Inhalte neuen, kleinteiligeren Konzepten jenseits von One-World-Ideologien den Weg bahnen.
Für Deutschland böte eine solche Neuordnung die Chance, sich des alten geopolitischen Widerlagers im Osten zurückzuerinnern und zusammen mit den Russen eine europäische Politik zu rekonstruieren, die sich von den transatlantischen Fesseln befreit hat und aus eigener Machtvollkommenheit für die Sicherheit des Kontinents Verantwortung trägt.
–––––
Thor v. Waldstein: Die entfesselte Freiheit. Vorträge und Aufsätze wider die liberalistische Lagevergessenheit, Schnellroda 2017. 287 S., 22 € – hier einsehen und bestellen!
Heinrich Brück
Die AfD sollte aufhören in Sachen Einwanderungsgesetz die Wähler zu veräppeln. Wir brauchen keine Einwanderung.