Bis zuletzt hatte die Kanzlerin darum gekämpft, die Parteien einer ihrer berüchtigten gemeinsamen Lösungen zuzuführen. Unerwartet kam, daß es diesmal nicht klappen wollte und so Angela Merkels Kanzlerschaft ausgerechnet infolge der Bundestagswahl zu verenden droht, in der nichts sicherer erschien, außer der Fortführung ebendieser Kanzlerschaft.
Die Krisendiagnose der inhaltlich ausgehöhlten und personell von allen auch nur halbgefährlichen Köpfen gesäuberten Merkel-Union ist freilich seit Jahren immer lauter geworden und so scheint nur das Unerwartete, wenn auch nicht Überraschende schließlich eingetreten zu sein. Wenn nicht die SPD doch wieder in die Bresche springt …
Der deutsche Konservatismus liegt in den letzten Zügen. Die Substanz ist aufgebraucht. Kürzlich fiel mir die Novemberausgabe der Clubzeitschrift von Rotary in die Hände. Verfaßt nach der Bundestagswahl, lautet das Titelthema: „Herbst einer Volkspartei, Zur Krise der deutschen Christdemokratie“.
Die Rotarier, das muß der Neid ihnen lassen, geben eine hervorragende Zeitschrift heraus. Den Vereinsteil kann man ja überlesen, dann übersteigt die Qualität der Themenbeiträge deutlich die des größten Teils der am Kiosk erhältlichen Konkurrenz. Wenn man die Intelligenz der konservativen bürgerlichen Mitte sucht, so findet man sie hier. Die durch die Aufsätze hinweg lesbare Erosion des Vertrauens ist mit Händen zu greifen, nicht nur in die C‑Parteien, sondern in das ganze Konzept des deutschen Konservatismus seit Beginn der Bundesrepublik.
Die Problemanalysen sind ausgiebig und weitgehend treffend, die wenigen Lösungs- und Verbesserungsvorschläge, wirken einsam, an den Haaren herbeigezogen, manchmal grotesk. Ein Prof. Dr. Franz Walter, bis vor kurzem Leiter des Göttinger Zentrums für Demokratieforschung, schlägt etwa vor, die Union solle sich ein Vorbild an der Winzerzunft nehmen:
Ökologie, Regionalkultur, Geschichte und darin eingebundene Innovationsfreude durchaus eigensinniger wie experimentierfreudiger Winzerfamilien als konservativen Erzählstrang aufzunehmen und in eine mineralisch frische Überzeugungssprache zu überführen.
Mit dieser Kabarettnummer endet ein aufschlußreicher Aufsatz über die Auswirkungen der Milieuverschiebungen, die Deutschland seit den 50er Jahren erlebt hat und die zur mehrfachen Spaltung des bürgerlichen Lagers führten. Neben den traditionellen Kleinbürgern bildete sich erst ein Linksbürgertum im Gefolge der Werterevolution der 60er, dann „hochagile, oft nun religions‑, heimat- und familienlose junge Wirtschaftsbürger“, zuletzt eine „neue Wutbürgerlichkeit […] mit neonationalen Einstellungen“.
Angesichts der so entstandenen Heterogenitäten aber scheut die CDU entscheidungsorientierte Diskussionen über die konstitutiven und hochumstrittenen Wertfragen von Politik und Gesellschaft. Sie fürchtet die Sprengkraft, wenn sich Konservative und Liberale, Traditionalisten und Modernisierer, Globalisierer und Heimatmenschen, Verlierer und Gewinner im Klein- und Großbürgertum über Normen und Ethiken des künftigen Zusammenlebens, also gleichsam auf ein Sinnmenü einigen müssten.
Die Kernfäule des deutschen Konservatismus läßt sich am Eindringlichsten am Beispiel des Beitrags von Prof. Dr. Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte zu Mainz, aufzeigen. Seine Krisendiagnose ist auf den ersten Blick vollkommen richtig. Als die Union sich unter Merkel an die vom akademischen postmodernen Dekonstruktivismus ausgehende „Kultur des Regenbogens“ anpaßte, verlor sie die Fähigkeit zur inhaltlichen Debattenführung. Die Reaktion auf diese Regenbogenkultur trifft sie nun völlig unvorbereitet.
Nur wenn man seinen Text genauer liest – und vor allem liest was dort nicht geschrieben steht! – dann fällt einem auf, daß Rödder die Ideologie des „anything goes“ soweit internalisiert hat, daß ihm politische und gesellschaftliche Trends nichts als Moden sind, die irgendwelche gesellschaftlichen Wünsche ausdrücken, aber ohne größere Konsequenzen bleiben. „Die Kultur des Regenbogens“ kann für ihn negative Folgen haben, etwa wenn eine „kinderlose Unternehmertochter aus München-Bogenhausen“ aufgrund der Frauenquote bei der Besetzung von Aufsichtsräten einem „vierfachen Familienvater aus einer Einwandererfamilie in Berlin-Neukölln“ vorgezogen wird.
Und freilich kann sie eine Gegenbewegung provozieren, die sich auf die Themenfelder stellt, „auf denen der postmoderne Dekonstruktivismus die kulturelle Hegemonie des Regenbogens bereitet hat“. Es liegt jedoch außerhalb des Vorstellungsvermögens Herrn Prof. Dr. Rödders, daß die Kultur des Regenbogens dem deutschen Staat und Volk an die Substanz gehen könnte. Sein Vorwurf an die Merkel-Union lautet eigentlich auch nicht Anpasserei, sondern, daß sie sich so weit an den Regenbogen angepaßt habe, daß sie zur Anpassung in die andere Richtung nicht mehr fähig sei.
Dahinter steht jener Konservatismus, der politische Verantwortung gemäß dem Sprichwort auffaßt: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“ Es kommt hier gar nicht auf die Inhalte politischer Auseinandersetzungen an, sondern nur darauf, daß das Ergebnis ordnungsgemäß und ohne zu abrupte Verschiebungen umgesetzt wird.
Norbert Lammert brachte dies in der Wahlnacht unfreiwillig komisch zum Ausdruck. Den Einzug der AfD kommentierte er mit dem Satz: „Der Domestizierungseffekt des deutschen Parlaments ist beachtlich.“ Er habe schließlich auch den Grünen einmal zugerufen: „Am Ende hat der deutsche Parlamentarismus euch mehr verändert als ihr den deutschen Parlamentarismus.“
Lammert zog 1980 in den Bundestag ein und schied mit dem Ende der letzten Legislaturperiode aus. Die Grünen haben in dieser Zeit, erst nur außerparlamentarisch, dann aber auch aus den Parlamenten und Ministerien heraus, die Republik vor sich hergetrieben. Das einzige womit sie dauerhaft gescheitert sind, ist die Reform der Geschäftsordnung. Deren Erhalt und nichts anders hatte Lammert vor Augen, als der die „Erweckungsbewegungen“ verlachte, die sich im Bundestag als „laues Lüftchen“ erwiesen hatten.
Es ist dem Konservativen kaum begreiflich zu machen, daß man nicht endlos jeder Narretei um zehn Jahre hinterherhecheln und das als Stabilität verkaufen kann.
Prof. Dr. Hans Mathias Kepplinger, Emeritus – wohlgemerkt Emeritus! – für Empirische Kommunikationsforschung zu Mainz, hat dies weit besser begriffen. Er schreibt über „Die Macht der meinungsmächtigen Milieus“, so daß man ihn nahezu unverändert in jedem neurechten Periodikum abdrucken könnte. Das folgende Zitat ist die präziseste mir bekannte Kurzanalyse des Problems der politischen Korrektheit:
„In Demokratien zählen alle Stimmen gleich viel. Das ist theoretisch richtig und praktisch falsch, weil manche Menschen schon im Vorfeld von Wahlen eher bereit sind, ihre Meinung öffentlich zu vertreten als andere – Stadtbewohner eher als Dorfbewohner, Akademiker eher als Handwerker, Junge eher als Alte usw. Deshalb besitzen einige mehr Meinungsmacht als andere, und deshalb entstehen in allen Demokratien meinungsmächtige Milieus. Zu diesen Milieus gehören vor allem Politiker und Journalisten sowie mit deutlich geringerem Einfluß Unternehmer, Künstler und Wissenschaftler. Das ist unproblematisch, solange sich die Milieus deutlich voneinander unterscheiden und solange die Unterschiede zwischen ihnen und den politisch nur weniger interessierten Menschen gering sind. Problematisch wird es, wenn Werte und Ziele der meinungsmächtigen Milieus zu große Schnittmengen aufweisen und ihre Distanz zu Werten und Zielen der für sie relevanten Teile der Bevölkerung zu groß werden. In einer solchen Konstellation müssen die erfolgsverwöhnten Milieus eine offene Diskussion ihrer Überzeugungen fürchten, weil ihr Verlauf ungewiss ist.“
Soweit so gut. Kepplinger will dann aber, „den Teil der Bevölkerung, der sich anhand seiner Wahrnehmung der Realität eine eigene Meinung gebildet hat“ vom „Kern der Ideologen trennen“. Dazu empfiehlt er „die Entmoralisierung von Sachfragen und eine angemessene Berücksichtigung von Kosten-Nutzen-Überlegungen.“ Und wie stellt er sich das konkret vor? Wenn der Verlauf der offenen Diskussion ungewiß ist?
Dieser Rat kann nur dem nicht als billige Phrase erscheinen, der die konservative Grundüberzeugung teilt, das Sachlichkeit mit Harmlosigkeit identisch sei, die nicht Harmlosen demnach den „Kern der Ideologen“ ausmachen.
Es ist bezeichnend, daß der einzige schonungslose Lagebericht im Gewande der Außenpolitik daherkommt. Die äußere Gefahr, auch wenn sie sich im Vorgarten breitmacht, berührt nicht dieselben wunden Punkte, wie die Konzeptlosigkeit angesichts er eigenen Bürger.
So darf Freund Münkler unter dem Titel „ Zerfallende Ordnung, Über die schwindenden Trennlinien zwischen Krieg, Bürgerkrieg, Volksaufständen und Terrorismus“ eine Paraphrase des völkerrechtlichen Werks Carl Schmitts samt Ausblick auf die heutige Situation verfassen (ohne Namensnennung des Leibhaftigen versteht sich, ein linker Gelehrter hätte ihn übrigens genannt, allenfalls einen Vermerk beigefügt von wegen hat sich in der NS-Zeit kompromittiert blablabla).
Schließlich gibt es da – neben der erfreulichen Bescheinigung des dem Rotaryclub-Berlin-Brandenburger Tor angehörigen Herausgebers Johann Michael Möllers, daß die Ostdeutschen AfD-Wähler keine antidemokratischen Wendeverlierer aus dem Tal der Ahnungslosen seien – einen Beitrag von Dr. Henning von Vieregge, Autor eines Buches des Titels „Neustart mit 60. Anstiftung zum dynamischen Ruhestand“.
Er zeigt den einzigen Weg, der dem Konservatismus zumindest noch eine Gnadenfrist erkaufen kann: Die Wiederbelebung des Begriffs der Heimat. Freilich so, daß man nicht „in die Wagenburg-Falle tappt, die Heimat mit der Abwehr alles Neuen und Fremden gleichsetzt.“
Daß von Vieregge dabei auf Ernst Blochs Utopie vom „Umbau der Welt in Heimat“ bezug nimmt, daran könnte man jetzt sportsmäßige Ideologiekritik betreiben, wichtiger ist, in welchen Dimensionen er Heimat denkt. Die Antwort lautet „Region, Stadt und Kiez“. Volk, vor allem aber der politische Begriff der Nation, fehlen.
Dennoch kann die Verheimatlichung konservativer Politik diese noch eine Weile vor dem Offenbarungseid retten. Es ist das alte Spiel mit dem Bedürfnis nach Geborgenheit, das aufgrund seiner Sentimentalität vom Sicherheitsbedürfnis wohl zu unterscheiden ist und in der Politik nichts verloren hat. Mutti Merkel in anderem Kleid.
Nicht die Politisierung, sondern die bloße Propagandisierung von Heimat ist der letzte Pfeil im Köcher des deutschen Konservatismus – der freilich ebenso erfolgreich von Gefühlskonservativen, wie Winfried Kretschmann und Alexander van der Bellen gezogen werden kann.
Franz Bettinger
"... wenn nicht die SPD wieder in die Bresche springt." Das wird sie, aber anders als gedacht.
Es läuft die GGG, die Ganz Große Gaunerei: Es wird eine von der SPD tolerierte Minderheits-Regierung aus CDU und CSU geben, wobei die SPD offiziell in der Opposition bleibt, heimlich aber mit im Regierungsboot sitzt und vielleicht sogar ihre Minister behält. Wieso keine GroKo? Weil ansonsten die AfD Oppositions-Führerin wäre mit vielen Sonderrechten, z.B. dem Recht, auf jede Rede als erste Fraktion antworten zu dürfen. Die AfD hätte eine größere Bühne. Dies und Partei-Taktik sind die Gründe, weshalb die SPD sich in die Opposition zu verziehen hat.
Logisch und ganz natürlich wäre ein Rechts-Bündnis aus CDU-CSU, FDP und AFD - ohne Merkel. Das ist zum Tabu erklärt worden, wie einst Kooperationen der SPD mit den Linken. Die CDU / CSU sitzt nicht aus prinzipiell oder sachlich un-überbrückbaren, sondern aus rein partei-taktischen Gründen in der (von mir so genannten) Lafontaine- oder Ypsilanti- Falle. Es hat bis zum Herbst 2017 eine ungenutzte Linke Mehrheit gegeben. Ab diesem Zeitpunkt gibt es eine ungenutzte Rechte Mehrheit. Der Grund ist verletzter Stolz, einfach ein Teil von Dummheit.