Ich will nicht behaupten, daß bei uns immer alles glattgeht mit erzieherischen Wunschblütenträumen.
Aber zumindest diesbezüglich gab es nie Nachfragen. Nur bei äußerstem Leerlauf (eh selten) gibt es mal ein ausgesuchtes Video oder irgendeine Serienfolge (Peter Lustig und so was). Hin und wieder traktieren wir die Kinder mit Literaturverfilmungen, Schimmelreiter, Wiedersehen mit Brideshead, Blechtrommel oder Zauberberg: Für unsere Jugend ist Glotzerei seit je mit ein bißchen Anstrengung und Diskussion verknüpft.
Entspannenderen Stoff wie The Avengers (Mit Schirm, Charme und Melone), Edward mit den Scherenhänden, Dead Poet‘s Society oder Ghostworld gibt es nur im Original (wenn wir gnädig sind, deutsch untertitelt). Das alles ist Stoff für die etwas Größeren. Gute Kinderfilme sind echt rar.
Durch einige vielversprechende Kurzbesprechungen bin ich nun auf Die Königin von Niendorf (Regie, Produktion, Drehbuch, Schnitt: die junge Joya Thome) gestoßen:
Die eher melancholische Lea ist befremdet davon, wie sich die Mädels in ihrer Klasse entwickelt haben. Komische Blicke, seltsame BHs. Lea trägt immer noch den ollen Lederranzen und kurze Latzhosen. Sie hat gar keine Lust, zum Sommerlager zu fahren wie jedes Jahr.
In ihrem brandenburgischen Dorf gibt es eine streng hierarchisch organisierte Jungsclique. Deren Treiben ist viel interessanter als die neueste Tanzchoreographie der Weibchen zum neusten Pophit. Lea lauert den Buben auf. Die haben wenig Bock auf Mädchen. Lea muß ungeheuerliche Mutproben bestehen, um mittun zu dürfen…
Ich habe mir den Film vor vier Tagen mit drei Mädels zwischen 7 und 12 angeguckt. Sie kommen im Gespräch immer noch auf einzelne Szenen zurück, so sehr hat er sie beschäftigt. Ich habe keine Vorstellung, wie Die Königin bei Kindern ankommt, die moderne Filme gewohnt sind. (Hier Zuhause dürfen die Kleinen manchmal eine Folge Neues aus Uhlenbusch gucken. Der hat etwa dasselbe Tempo.)
Falls einer der Leser hier diesen bezaubernden Film auch schaut, darf er mir gern schreiben, was die Kinder denn so vor sich hinplappern, als sie auf dem stillgelegten Großfahrzeug herumturnen. Ich gehe nämlich davon aus, daß ich mich verhört habe.
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26. Februar – Abermals Familienzwist zum Thema Spiel. Ausgerufen wurde, seit wir Kinder haben, die irgendwas spielen können, das Motto: „Gewinnen wollen. Verlieren können“. Ich bin im Haus definitiv die Spielerin, GK nicht so.
Ich bin von Kindheit an kompetitiv veranlagt. Spiele ohne Verlierer und Sieger mögen wir aber beide nicht. Kubitschek argwöhnt immer: „Ellen spielt nur deshalb so gern, weil sie das Gewinner-Gen hat.“ Na, vielleicht. Bei Brettspielen, sogar bei Memory, gewinne tatsächlich immer ich. Wir spielen immer mit Einsatz. Verliert ein Kind, muß es beispielsweise sämtliche Treppen im Haus fegen. Meistens fegen die Kinder.
Sportlich haben mich die Kinder im Sprint ab etwa 10 Jahren stets überflügelt, in punkto Ausdauer bislang nie. Es fuchst mich, daß unser Sohn weiter werfen kann als ich (welchen Sinn hat das wohl, evolutionär, daß Frauen im Weitwurf restringiert sind?) und daß mich – als Schwimmsportlerin – K. immer noch knapp überholt.
Unsere Tischtennisturniere sind im Dorf legendär, weil ich extrem laut und zornig werden kann, wenn mir ein Ball danebengeht. (In dieser Disziplin kämpfen wir Kopf an Kopf – wenn K. verliert, ist er mindestens eine Stunde lang nicht ansprechbar.)
Im vergangenen Herbst ist nun bei uns das Schachfieber ausgebrochen, es hält bis heute an. In jeder freien Minute werden die Felder aufgebaut, manchmal drei nebeneinander. Es hat nichts mit Kubitscheks genereller Spielunlust zu tun, daß er dort selten mittut. Es ist Zeitmangel.
Betritt er die zur Schachschlacht umgebaute Küche, ist Nervosität angesagt. Er schaut fünf Sekunden über die Bretter, erfaßt die Lage und flüstert Tips: „Dein Pferd bräuchte Bewegung“, und so was. Wir alle hassen das. Außer, wenn der Hausherr sich auf unsere Seite schlägt, klar.
Der Streit heute ging zum Thema Gerechtigkeit. Erwachsenen-„Tabu“ gegen Kinder zu spielen ist logisch ungerecht. Wettrennen eines 13jährigen gegen eine 7jährige auch, klar.
Heute ging es drum, daß die Jüngste „natürlich“ (und angeblich „unfair“) im Hauptstädtequiz gewinnen mußte, weil die ja „in jeder freien Minute“ über der Weltkarte hocke und studiere. Ich zur Motzerin: „Na komm. Es steht Dir frei, Deine freien Minuten ebenfalls über der Weltkarte hockend zu verbringen!“, entgegnete ich dem Kind, das nun Treppenfegen mußte, „Du faulenzt halt lieber. So ist es eben!“ – „Ich faulenze nie!!“ – „Aha. Sondern?“ – „Ich denke nach. Beispielsweise über Gerechtigkeit.“ Okay, ich will ihr zwei Stufen erlassen.
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27. Februar – Meine übergroße Freude darüber, zur Buchmesse ein Werk von Camille Paglia zu veröffentlichen, muß man mir nachsehen! Keine andere Autorin hat mein Denken so sehr geprägt, seit ich vor etwa 22 Jahren (sehr zufällig: am Grabbeltisch im Karstadt) auf Paglia gestoßen war. Man wird sich kaum vorstellen können, wie groß der Jubel war, als wir die Übersetzungsrechte erworben hatten!
Nun war Paglia zum Thema #metoo, eigentlich Ihrem Thema, erstaunlicherweise ruhig geblieben. Dabei ist sie in den USA ein echte Nummer. Eine Nachfrage ergab das Naheliegende: Sie habe sich jahrzehntelang mit genau diesen Querelen beschäftigt und dazu längst alles geschrieben, was dazu zu sagen ist. Was stimmt!
Nun hat sie nach vielfachen Anfragen dennoch Stellung bezogen. Ein längerer Text von Paglia dazu wird morgen in The Hollywood Reporter erscheinen. Wir dürfen jetzt schon spoilern und eine der Antworten zitieren, die diese Ikone unserem Interviewer Martin Lichtmesz für die Sezession gegeben hat:
Camille Paglia:
Meine Haltung ist folgende: Echte sexuelle Belästigung ist eine Verletzung der Menschenwürde. Sie muß wie jeder andere körperliche Übergriff verurteilt werden, und zwar unabhängig vom Geschlecht. Es kommt aber definitiv den betroffenen Frauen selbst zu, unangemessenes Verhalten zurückzuweisen und anzuzeigen, und zwar genau dann, wenn der Vorfall geschehen ist – einerlei, wie unangenehm und peinlich die Sache erscheinen mag. Sich viel später bei irgendwelchen Autoritäten zu beklagen (vor allem, wenn die Sache eine Ewigkeit her ist), zeugt gerade nicht von weiblicher Stärke und Unabhängigkeit.
Nach meiner Lesart eines “straßentauglichen” Amazonen-Feminismus obliegt jeder Frau die Pflicht, ihre eigene Würde zu verteidigen und ihren eigenen Kampf auszutragen. Wie können wir erwarten, daß Männer Frauen achten , wenn diese Frauen zu schüchtern oder zu unschlüssig sind, sich selbst zu ermächtigen? Was für eine Demutsgeste, wenn Frauen jetzt die Regierung oder Universitäts-Ausschüsse oder Arbeitsrechtler beauftragen, die Rolle des schützenden Vaters oder Ehemanns zu übernehmen! Das ist ein reaktionärer Rückzug, der uns in vormoderne Zeiten zurückführt, wo der Schutz und das Überleben von Frauen von der Protektion durch Väter oder Gatten abhängig war. Berufstätige Frauen der Mittelschicht müssen ihr bürgerliches Etepetete-Geteue einfach mal hinter sich lassen und endlich zu einer eigenen starken Stimme und echter Selbstbehauptung finden- egal, ob es um private oder öffentliche Händel geht.
Das Interview mit Paglia erscheint in der 83. Sezession. Unser Paglia-Buch kann man bereits bestellen. Frauen bleiben, Männer werden. Sex, Gender, Feminismus – hier vormerken. Paglia lesen! Hilft in allen Lebenslagen!
Caroline Sommerfeld
Heute auch einem Gerechtigkeitsfanatiker zugehört und dabei an Paglia denken müssen. Der Mittlere quält sich damit, daß es eine offensichtliche Diskrepanz zwischen der Art und Weise gibt, wie Buben ihre Streitigkeiten regeln, und der, die Mädchen pflegen und Lehrer wünschen. "Konfliktlösungsgespräche" vs. "Der sekkiert mich dermaßen, da hilft nur ein Tritt in die Eier, und dann sind wir quitt und spielen am nächsten Tag wieder zusammen". Wie wehrt man sich gegen Mädchen, außer petzengehen und damit seine Ehre verraten? "Schwächere Gegner sind echt ein unlösbares Problem". Sprach das Kind, und mir fiel auch keine Lösung ein, ich schlug vor, wir müßten einfach ein paar Männer fragen. Meint das Kind: "Schwule." Ich stand auf der Leitung, wieso Schwule? "Ja, die waren erst Männer, und dann sind sie Mädchen geworden. Die kennen beide Perspektiven." Gerechtigkeit war schon immer eine perspektivische Angelegenheit.