„Etwas später in dieser Nacht setzte Seehofer an, vorsichtig, denn es ging um ein heikles Thema: den Familiennachzug. Ja, man wisse, dass der nur mit den Stimmen der Grünen im Bundestag weiter ausgesetzt werden könne. Und man schätze es hoch, dass die Grünen sich beim Thema Migration bewegen würden. Also werde sich auch die CSU beim Familiennachzug bewegen. Seehofer fragte sodann die Grünen, ob sie einen Vorschlag machen wollten. Göring-Eckardt und Özdemir kamen gar nicht dazu, eine Antwort zu formulieren. Lindner grätschte dazwischen: Wenn die CSU bei diesem Thema umfalle, werde die FDP stehen. Sie übernehme dann die CSU-Position. Zu hundert Prozent.
Özdemir und Göring-Eckardt waren baff: Was ist das jetzt hier? Warum gab Lindner ausgerechnet bei diesem Thema den Hardliner? Im FDP-Wahlprogramm stand kein Wort zum Familiennachzug. Oder war Lindner einfach klargeworden: Jamaika wird nicht mehr an der CSU scheitern, so dass er das Projekt selbst an die Wand fahren musste?
Die Spitze der CDU empfand Lindners Vorstoß als „sehr krass“ und „sehr überraschend“. Alexander Dobrindt, Chef der CSU-Landesgruppe, wandte sich an Seehofer und sagte: Schau, das passiert, wenn wir uns bewegen. Die FDP holt uns rechts ein.
[…]
Was dann folgte, wird als „sehr harte halbe Stunde“ beschrieben. Man machte Lindner klar: Mit dieser Haltung kann nie etwas werden aus Jamaika. Göring-Eckardt trug noch einmal die grüne Sicht vor: Wir können einer Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs nicht zustimmen. Lindner, unter Druck, beschwichtigte schließlich. Man möge bitte diesen Teil des Gespräches streichen, vergessen. Sonst hätte man wohl abbrechen müssen. Die Runde vertagte sich auf Freitag, die Sondierungen gingen in die Verlängerung. Doch die Szene, Lindners Szene, konnte keiner vergessen.“
Überrascht waren die Verhandlungsteilnehmer also. Wie kommt Lindner nur darauf, aus heiterem Himmel zu verkünden, die FDP werde beim Familiennachzug die Position der CSU übernehmen, sollte diese gegenüber den Grünen nachgeben? Ernsthaft, so ganz nehme ich den hintergrundgesprächigen Politikern ihre Überraschung nicht ab. Zumindest die klügeren unter ihnen müssen begriffen haben, was hier gespielt wurde: Chicken Game.
Chicken Game ist eine der Standardstrukturen der Spieltheorie und der Name kommt, wie üblich, von dem Beispiel, an dem die Struktur zuerst erläutert wurde. In diesem Fall ist die Geschichte sogar lustig:
Man nehme zwei jugendliche Idioten und setze sie in zwei Sportwagen. Die Idioten rasen mit Höchstgeschwindigkeit aufeinander zu. Wer ausweicht ist das „chicken“, also der Feigling.
Natürlich wollen beide den Zusammenstoß vermeiden, aber jeder hätte es am liebsten, wenn nur der andere ausweicht und man selber der Sieger ist.
In der Matrixdarstellung, die ich hier vor einem Monat einmal erläuterte, sieht das dann so aus:
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B |
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Ausweichen |
Durchfahren |
A |
Ausweichen |
3/3 |
2/4 |
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Durchfahren |
4/2 |
1/1 |
Die Werte sind ordninalskaliert, daß bedeutet, daß sie nur die Rangfolge der Präferenzen wiedergeben, aber keine Abstände oder gar absoluten Beträge. 4 ist also besser als 3, 3 ist besser als 2 und 2 ist besser als 1. Aber 4 ist nicht doppelt so gut wie 2, so eine Aussage ist hier sinnlos. Das ist wie mit Rängen im Militär. Ein Oberleutnant ist ranghöher als ein Leutnant und ein Hauptmann ist ranghöher als ein Oberleutnant. Daraus folgt, daß ein Hauptmann auch Ranghöher ist als ein Leutnant, aber nicht, daß wahlweise drei Leutnants oder aber ein Oberleutnant und ein Leutnant zusammen einen Hauptmann ergäben. Die Silbersterne auf den Schulterstücken lassen sich nicht addieren.
Aus dieser Darstellung geht nun deutlich hervor, wo das Problem liegt. Die Lösung, die uns zunächst als die einzig Vernünftige erscheint, beide weichen aus, ist instabil. Denn von diesem Punkt aus könnte sich jeder der beiden Spieler allein durch eigenes Handeln verbessern. Er müßte nur durchfahren und erhielte sein bestes Ergebnis (4) während der andere auf sein zweitschlechtestes Ergebnis (2) gedrückt würde.
Die beiden Möglichkeiten, in denen einer durchfährt und der andere ausweicht, sind hingegen beide stabil. Von jedem dieser beiden Punkte aus kann keiner der beiden sich aus eigener Kraft, nur durch Änderung seiner eigenen Strategie, während der andere bei seiner Strategie bleibt, verbessern. Man sagt dazu, daß jeder dieser Punkte ein Nash-Gleichgewicht darstellt.
Nur: Welches der beiden Gleichgewichte wird verwirklicht? Darüber sagt die Matrix nichts aus, das entscheiden die stärkeren Nerven. Sofern man sich nicht beiderseits verbindlich auf Ausweichen/Ausweichen einigen kann.
Eine solche Einigung versuchte Lindner, als er die Union zum gemeinsamen Abbruch der Koalitionsverhandlungen zu überreden versuchte. Doch er scheiterte dabei und wenn die oben zitierte Geschichte auch nur im Groben der Wahrheit entspricht, dann bedeutet das, daß damit nur noch eine Frage im Raum stand: Wer muß den Stecker ziehen? Das, diese Lage, ist ein entscheidender Durchbruch des rechten Widerstandsmilieus!
Daß die CSU und die FDP hier Chicken Game gespielt haben, bedeutet nichts anders, als daß sie die Bedrohung durch die Rechte inzwischen so hoch anschlagen, daß sie deswegen mehr als nur bereit sind, eine Regierungskoalition im Bund scheitern zu lassen. Zumindest Lindner hatte offenbar ausreichend Angst vor einem möglichen Stimmenverlust an die AfD, daß er bereit war selbst den Schwarzen Peter zu ziehen, wenn ihm damit nur die Mitverantwortung für die Familiennachzugpläne der Grünen erspart bliebe.
Die Struktur des Chicken Games bedeutet auch, daß Seehofers Avancen an die Grünen keinesfalls ernst gemeint gewesen müssen. Es ist ebenso möglich, daß er einfach geblufft hat und austesten wollte, was passieren würde, wenn er sich nicht mehr als Buhmann zur Verfügung stellt. Sollte das der Fall gewesen sein, war er damit sehr erfolgreich. Angesichts der kürzlichen Nahtoderfahrung der FDP ist es keineswegs verwunderlich, daß sie zuerst die Nerven verloren hat.
Gemäß einem FDP-Gewährsmann lautete Lindners Lageeinschätzung:
Er habe sich in eine Falle gelockt gefühlt: Entweder die FDP macht mit und ist dann in einem Formelkompromiss gefangen wie 2009. Oder sie macht nicht mit und ist dann die unmenschliche Partei, die beim Familiennachzug nicht mitgespielt hat, also angesichts trauriger Kinderaugen hart geblieben ist.
Im Herbst 2015, wir wissen es spätestens seit der Recherche von Robin Alexander, haben die traurigen Kinderaugen alle in Angst und Schrecken versetzt. Die Situation war damals strukturell ähnlich. Den Verantwortlichen war durch die Bank klar, daß man die Grenzen schließen mußte. Der reine Selbsterhaltungstrieb des politischen Establishments gebot es bereits auf mittelfristige Sicht.
Aber es fand sich keiner, der bereit war, die Verantwortung zu übernehmen, also den politischen Schaden für diese Entscheidung einzustecken. Keiner war bereit auszuweichen, keiner war bereit zu sagen, „Na gut, immer noch besser ich mache es, als daß es keiner macht“, jeder hoffte, der andere würde es tun und so kam es zum Zusammenstoß.
Inzwischen hat sich die politische Konstellation geändert. Inzwischen gibt eine immer stärker werdende rechte Kraft in Deutschland. Die Grünen verfügen über eine Klientel, die jeden Wahnsinn mitträgt, ja sogar enttäuscht ist, wenn Deutschland nicht schnell genug abgeschafft wird. Aber andere Teile des Establishments müssen inzwischen Rücksicht auf uns nehmen.
Und Rücksicht nehmen bedeutet nicht mehr die Absonderung einiger herablassender Phrasen über die Ängste der Menschen da draußen im Lande, die schon länger hier leben. Die haben eine Koalition im Bund platzen lassen, ohne zu wissen wie es dann weitergehen soll! So schätzen die uns inzwischen ein.
Lindner hat nicht mit einem Lächeln und einer Phrase über die Rechte der Asylanten auf den Lippen alles gefressen, was Özdemir und Göring-Eckardt ihm in der Einwanderungsfrage aufgetischt haben. Das waren wir!
Der_Jürgen
Ein vorzüglicher Artikel von Poensgen.
Manche Leute im nationalen Lager sind des Lobes voll für Lindner, weil dieser Jamaica verhindert hat. Ich wäre da vorsichtig. Der Mann hat dies bestimmt nicht um des deutschen Volkes willen, sondern im Hinblick auf die Zukunft seiner Partei und seiner Karriere getan. Wenn es Neuwahlen geben sollte (was weniger wahrscheinlich anmutet als eine Neuauflage der Grossen Koalition), wird die FDP mit Sicherheit sehr stark zulegen, vielleicht noch stärker als die AFD, der Lindner mit seinem Entschluss natürlich Stimmen abjagen wollte und auch abjagen wird. Regiert eine Grosse Koaliton bis zu den nächsten Bundestagswahlen, wird die FDP nach dem unvermeidlichen Fiasko dieser Koalition erst recht gewaltig an Stimmen gewinnen und könnte, falls sie in der Opposition keine groben Fehler macht, sogar stärkste Partei werden.
Was von Lindner zu halten ist, geht aus seinen dümmlichen Attacken auf die AFD hervor, der er im Wahlkampf "Herzlosigkeit" vorwarf, weil sie den Familiennachzug ablehnt.
Auch der AFD steht ihre Bewährungsprobe noch bevor.
Dies alles ändert natürlich nichts daran, dass Lindners Absage an Jamaica für Deutschland objektiv gut ist.