Schön:
Reuel Golden (Hrsg.): Europa. In 125 Jahren um die Welt. 336 S., gebunden, 49.99 €
Im vergangenen Jahr war der opulente Bildband Deutschland um 1900 das Geschenkbuch schlechthin. Wem es angesichts der dort abgebildeten Landschaften und Stadtbilder warm ums Herz wurde, der wird nun… jauchzen? Schluchzen? Ein Rückblick auf einen wahrhaft bunten Kontinent! Diese Gesichter! Die Heringsfischer aus Dänemark! Die Kopftuchfrauen von Nazaré in Portugal, die am Strand auf die Rückkehr ihrer Männer warten! Die bulgarischen Arbeiter! Wer noch mal wissen wollte, was wir mit Ethnopluralismus meinen: hier! Das ist Reichtum, der keiner Bereicherung bedarf!
Wahr:
Rolf-Peter Sieferle: Das Migrationsproblem. Über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung. 135 S., broschiert, 16 €
Kaum überbietbar in diesem potentiellen Wendejahr und daher nochmals mit Nachdruck empfohlen: Sieferles Das Migrationsproblem. Das Buch ist sachlich (ohne dem Statistikfuror zu verfallen), argumentativ niet- und nagelfest (der social and moral overstretch wird mit allen soziologischen Methoden belegt) und am Ende heuristisch fatalistisch: was wäre daran so schlimm, wenn Europa verschwände? Aus evolutionssoziologischer Perspektive nichts, aber der mitgerissene Leser hält Sieferle ein flammendes „Nein!“ entgegen. Das also vermag ein gutes soziologisches Buch.
Gut:
Karlheinz Weißmann: Deutsche Geschichte für junge Leser. 252 S., geb., 29.90 €
Gibt es ein Geschichtsbuch, mit dessen Hilfe Kinder en passant lernen, stolz auf Deutschland zu werden? Das kapitelweise, von Arminius über Karl, Heinrich und Otto bis zur Wende 1989 die Geschichte unserer Nation erzählt, und stets in einem Ton völliger Selbstverständlichkeit auch die Größe der Deutschen zeigt? Das gibt es – Karlheinz Weißmann hat 2016 eine Deutsche Geschichte für junge Leser geschrieben. Ich las es meinem mittleren Sohn vor, der von Zeit zu Zeit in die Luft boxte und anfeuernd „Yes!“ rief, diese Deutschen wird er also schon mal nicht vergessen.
Maiordomus
Der zweite von Sommerfeld empfohlene Titel gehört meines Erachtens zu den wichtigen Sachbüchern der letztvergangenen Jahre, wobei die wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Grundlagen bei Sieferle schon Jahrzehnte früher erarbeitet wurden. Dass der Startschuss für vertiefte Auseinandersetzungen mit Demografie ausgerechnet bei einem Suhrkamp-Buch von 1990 gegeben wurde, zeigt auf, wie der Weltgeist gerade schreibt auf krummen Zeilen, um es etwas mit Hegel auszudrücken. Schön, dass es Sieferle seligen Angedenkens wohl mittelfristig zu einer Gesamtausgabe seiner Werke zu bringen scheint, so anscheinend mit dem als erstem Band präsentierten einstigen Buch, ebenfalls zuerst bei Suhrkamp erschienen, "Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts" und wohl noch mit anderen seiner Werke, nicht zu vergessen der "Rückblick auf die Natur". Gemäss Wikipedia-Stupidität hat der späte Sieferle jedoch "giftige rechtsextreme Bücher" geschrieben. So sah ihn offenbar auch Ex-Juso und heutiger "Grosshistoriker" Herfried Münkler, der mich mit seinen dümmlichen angeforderten Urteilen nun leider eher davon abhält, in nächster Zeit das möglicherweise noch brauchbare Buch über den 30jährigen Krieg aus seiner Feder zu lesen. Irgendwann werde ich es mir wohl trotzdem noch vornehmen, weil dümmliche tagespublizistische Äusserungen von Autoren nicht automatisch auf ihre Werke übertragen werden sollten.
Wie auch immer, vergleiche ich Sommerfelds neuere Beiträge etwa mit der gestrigen ZDF-Sendung von Böhmermann, in der u.a. Martin Sellner "zu Ehren" kam (es wurde am Ende der soeben abgeschlossenen Ethik-Debatte um Thesen von Sommerfeld/Wawerka darauf hingewiesen), wundere ich mich echt darüber, dass der Zwang zum Bezahlen öffentlichrechtlicher Gebühren für solche extrem paranoid stupide und sektiererische Volksverdummersendungen noch immer nicht als schwere Menschenrechtsverletzung anerkannt ist. Vielleicht bin ich auf solche Sendungen, sah sie nur aufgrund einer Verlinkung, deswegen allergisch, weil ich seit Jahrzehnten den Fernsehkonsum zugunsten der täglichen Lektüre eines Buches eingestellt habe, was angesichts der durchschnittlichen Fernsehkonsumzeit in Europa ja eigentlich ohne weiteres machbar ist und die übrigen Lebensfunktionen nicht beeinträchtigen müsste. Selber finde ich diesen Böhmermann aus meinen neandertalisch-bildungsbürgerlichen Perspektiven weniger politisch gefährlich als schon eher fast irrenhausreif, wie man früher sagte.
Kommentar Sommerfeld: Schauen Sie mal Sellners Antwortvideo an, absolut berückend (besonders die Gewandfaltmethode am Schluß): https:/youtu.beF0-uENzzq1Y