Gut:
Charles Péguy: Das Geld, 137 S., broschiert, 12 €
Charles Péguy (1873–1914) war Sozialist, “Dreyfusard”, Publizist, Polemiker, Dichter, Nationalist und gläubiger Katholik. Sein grandioser Essay „Das Geld“ (1913) beginnt als Einleitung zu einer Abhandlung über das französische Grundschulwesen, verliert sich rasch in autobiographische Erinnerungen und mündet schließlich in eine poetische Lebensphilosophie. Er enthält mehrere von Péguys vielzitierten Sentenzen, etwa: „Der Modernismus besteht darin, nicht zu glauben, was man glaubt.“ – “Das ‘Volk’ gibt es nicht mehr. Jeder ist bürgerlich geworden. Denn jeder liest seine Zeitung.“ -„Die Welt hat sich seit Jesus Christus weniger verändert als in den letzten dreißig Jahren.“ “Das Geld” ist eine leidenschaftliche Anklage gegen die „moderne Welt“ des kapitalistischen Bürgertums, das die Welt des „alten Frankreichs“ zunichte gemacht und unter die Vorherrschaft des Mammons gestellt hat. Péguy sieht dieses alte Frankreich verkörpert in den einfachen Menschen, den Arbeitern und Bauern, die sich in einer seit der Antike ununterbrochenen Tradition in eine fromme und arbeitsame „Armut“ gefügt haben, in jene „dumme Moral“, die das tägliche Brot sicherte und ein zufriedenes Leben ermöglichte. Eine Moral, die sich für Péguy vor allem im Ethos einer (frei nach Marx) „unentfremdeten“ Arbeit manifestiert, die ihren Wert in sich selbst trägt, in der Würde und Ehre „des gut gemachten Werks“, sei dies ein mit Stroh bespannter Stuhl oder die Kathedrale von Chartres: „Die Arbeit war ihre ureigenste Freude, die tiefreichende Wurzel ihres Daseins.“ “Das Geld” ist eine mitreißende, verklärende Apologie des verwurzelten, traditionellen, asketischen Lebens!
Wahr:
Ryszard Legutko: Der Dämon der Demokratie. Totalitäre Strömungen in liberalen Gesellschaften, 188 S., gebunden, 23 €
Wer sich schon mal gefragt hat, warum gerade die lautesten Trompeter von „Demokratie“ und „Pluralismus“ so geistig verödete und prosekutorisch gesinnte Gestalten sind, der wird in diesem scharfsinnigen Buch des polnischen Philosophen Ryszard Legutko eine Menge schlagender Antworten finden. Ausgerechnet die westliche liberale Demokratie, die sich als großer Gegenentwurf zu den totalitären und autoritären Gesellschaften der Vergangenheit und Gegenwart sieht, hat sich inzwischen selbst zu einer „soften“ Variante des Totalitarismus gemausert. Der Grund liegt in der Mutation des liberalen Systems zur Utopie, die, wie Legutko systematisch nachweist, starke Wesensähnlichkeiten zur Ideologie und Praxis des Kommunismus hat. Wir haben nun einen „Erlösungsliberalismus“, dessen Ziele wie die des Kommunismus auf radikal egalitären Prämissen basieren und mit einer ähnlich krypto-religiösen Inbrunst verfolgt werden. Der ursprüngliche liberale Gedanke wird in der utopischen Form der „liberalen Demokratie“ ad absurdum geführt, da es in ihrem Machtbereich nichts mehr geben soll, was nicht „liberal“ oder „demokratisch“ oder „liberal-demokratisch“ ist, wobei diese Begriffe genauso fix kodiert und fetischisiert sind wie jener des „Sozialismus“ im Kommunismus. Ein Augenöffner, der Klarheit und Orientierung schafft!
Schön:
Emily Dickinson: Sämtliche Gedichte, 1408 Seiten, gebunden, 49.90 €
Mein Lieblingsbuch des letzten Jahres, das in mir eine regelrechte Emily-Dickinson-Obsession ausgelöst hat: Die erste vollständige zweisprachige Ausgabe der rund 1800 Gedichte der enigmatischen amerikanischen Dichterin (1830–1886) als dicker Dünndruck-Band. Zu Lebzeiten wurden nur sehr wenige Gedichte von ihr veröffentlicht, und es sollte fast ein Jahrhundert vergehen, bis sie in ihrer originalen Form publiziert wurden, samt ihren eigenwilligen, den Rhythmus zerhackenden Interpunktionen und Großschreibungen. Die exzentrische, ketzerische Puritanerin aus Amherst/Massachusetts gilt zu Recht als “eine der erstaunlichsten Gestalten der Literaturgeschichte” (so die Übersetzerin Gunhild Köbler). Zu ihrer Zeit gab es niemanden, der so schrieb wie sie, und ihr Ton ist derart unverwechselbar, daß Epigonentum schier unmöglich ist. Ihre stärksten Gedichte sind vulkanisch und eisig, tragisch und ironisch, makaber und fröhlich, stoisch und aufbegehrend, grausam und gütig zugleich. Besonderes Vergnügen bereitet es, zu sehen, wie Kübler diese oft überaus schwierige Sprache gemeistert und ins Deutsche übertragen hat. Wermutstropfen ist der häßliche Umschlag mit dämlichen Klecksen von Cy Twombly!
Hesperiolus
Umfaßt dieser Dickinson Band nicht sogar 1 408 Seiten? Die mir vorliegende ältere, zweisprachige Dünndruckausgabe von 2006 mit Übertragungen von Kübler ist nur eine Auswahl (auf 561 S.). Auch dies ein schöner Band. Sehr selten kommt Beachtliches aus Nordamerika, Dickinson gehört ohne jeden Zweifel dazu! Auch Legutko und Péguy sind wichtige Empfehlungen; auf diesem Kurs möchte man die Sezession sehen.
ML: Ah, das war ein Tippfehler, korrigiert!