Ein besonders ambitioniertes Unternehmen dieser Art verknüpft sich mit dem Namen Oswald Spengler und seinen „Umrissen einer Morphologie der Weltgeschichte“. Die verstanden sich über die Analyse der Vergangenheit hinaus sogar als Anlauf zur Vorausbestimmung der wahrscheinlichen Zukunft.
Trotz dieses spektakulären Anspruchs wußte Spengler jedoch um die Grenzen seines Konzepts. Selbst wenn es geschichtliche Zwangsläufigkeiten geben sollte, blieb die Entwicklung trotzdem immer Zufällen unterworfen und die Zukunft damit offen.
So konnte es zum Beispiel vorkommen, daß ein Krieg von den – historisch gesehen – Falschen gewonnen wurde. Spengler nannte als Beispiele etwa die aztekische Kultur, deren Blüte von den Spaniern quasi ‚en passant‘ abgehauen worden sei.
Einen weiteren Fall dieser Art stellte für ihn die Schlacht von Actium dar, als im innerrömischen Bürgerkrieg der Westen des römischen Weltreichs unter Octavian, dem späteren Imperator Augustus, den kulturell überlegenen Osten des Reichs besiegte. Es dauerte Jahrhunderte, den Fehler zu korrigieren und das Machtzentrum des römischen Reichs aus Rom ins östliche Konstantinopel zu verlegen.
Vor einhundert Jahren sah es lange Zeit so aus, als würden im Fall des Ersten Weltkriegs die 1914 angegriffenen Mittelmächte die Oberhand behalten, obwohl sich der Gang der Dinge als überaus offen erwies.
Man hatte in Europa mehrheitlich mit einem kurzen Krieg gerechnet. Es wurde ein langer. Gerüstet wurde für entscheidende Seeschlachten. Sie fanden nicht statt. In Deutschland war man sich vor dem Krieg recht sicher gewesen, Frankreich notfalls überrennen zu können. Das mißlang.
Zugleich hatte in Berlin die „russische Dampfwalze“ als militärisch unüberwindbarer Alptraum gegolten. Und nun standen deutsche Truppen Ende 1917 tief in Rußland, hatten zahlreiche deutsche Siege und zwei russische Revolutionen das erreicht, was niemand für möglich gehalten hatte: den deutsch-österreichischen Sieg über den östlichen Nachbarn.
Ab dem 7. Dezember 1917 schwiegen im Osten die Waffen. Die Weltgeschichte hielt gewissermaßen den Atem an, als sich in den Folgemonaten in Osteuropa eine neue Staatenwelt herauskristallisierte, die dann im März 1918 mit dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk ihre rechtliche Anerkennung fand.
Österreich-Ungarn, Deutschland, die Türkei und Bulgarien einerseits und Rußland andererseits schlossen dieses Abkommen als einen Vertrag alter Art. Ein Vertrag unter Feinden auf Augenhöhe, die miteinander verhandelten und tatsächlich Frieden schließen wollten.
Daher enthielt der Vertrag von Brest-Litowsk kein Wort des Vorwurfs an Rußland, 1914 den Krieg mutwillig vom Zaun gebrochen zu haben. Berechtigt wäre diese Anklage gewesen, denn niemand hatte das Zarenreich in der Vorkriegszeit von Mitteleuropa aus bedroht oder provoziert.
Aus freien Stücken wurde im Juli 1914 der Entschluß zum Krieg in Petersburg getroffen und dies so lange wie möglich geheim gehalten, damit sich Berlin noch in Sicherheit wiege. Noch heute steht in den Lehrbüchern so gut wie nie der 25. Juli 1914, das echte Datum des Beginns der zunächst noch geheimen russischen Mobilmachung, sondern wird fast immer der 30. Juli genannt, der offizielle Tag.
Bald nach Kriegsende publizierten die jetzt in Rußland regierenden Bolschewiki auch beweiskräftiges Aktenmaterial für jene russisch-französische Aggression. In den Grundzügen wußte man das im deutschen Auswärtigen Amt allerdings vorher schon und hatte deswegen zu radikalen Mitteln gegriffen.
Der Zar und die russische Regierung hätten angesichts ihrer Taten jede Schonung verwirkt, daher könne man ihnen auch Revolutionäre wie „Lenin“ ins Land schicken und sie mit entsprechenden Geldern ausstatten. „Militärisch war die Reise gerechtfertigt. Rußland mußte fallen. Unsere Regierung hatte aber darauf zu achten, daß nicht auch wir fielen“, erinnerte sich Erich Ludendorff später lakonisch an die damit verbundene Problematik.
Offiziell erhoben wurde der Vorwurf der „Kriegsschuld“ von Seiten der Mittelmächte in den Brest-Litowsker Verhandlungen dennoch nicht. Die Vorgeschichte und die Kriegshandlungen des Großen Krieges sollten, wie traditionell üblich, „friedewirkend vergessen“ sein.
Zugleich verzichteten beide Seiten im Friedensvertrag ausdrücklich „gegenseitig auf den Ersatz ihrer Kriegskosten“ und zwar sowohl auf die Aufwendungen für die Kriegsführung selbst als auch auf Schadenersatz für zivile Staatsangehörige. Kriegsgefangene sollten umgehend von beiden Seiten in die Heimat entlassen werden.
In Sachen Gebietsabtritt fielen die Regelungen ebenfalls ganz klar aus. Der Vertrag von Brest-Litowsk zog eine Grenzlinie. Östlich davon verzichteten die Mittelmächte auf jeden Einfluß. Westlich davon versprachen die Sowjets, sich aus den inneren Angelegenheiten in diesem Gebiet herauszuhalten – wenn sie auch keine Sekunde daran dachten, sich daran zu halten.
Die Mittelmächte beanspruchten ausdrücklich „das künftige Schicksal dieser Gebiete im Benehmen mit deren Bevölkerung zu bestimmten.“ So las sich der Vertrag denn als Abschlußproklamation für den vormals sprichwörtlichen russischen „Völkerkerker“.
Als Konsequenz wurden von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstmals oder erneut Staaten wie Finnland, die baltischen Länder, Polen oder die Ukraine geschaffen. Rußland verpflichtete sich vertraglich, mit der ‚ukrainischen Volksrepublik‘ Frieden zu schließen und die Verträge der Mittelmächte mit der Ukraine anzuerkennen. Selbst im Kaukasus blickte man nach Berlin, und im Herbst 1918 sollte dann sogar noch Georgien um den Beitritt zum Deutschen Reich ersuchen.
Vom Westen aus sah man höchst ablehnend, aber machtlos auf diese Entwicklung. Großbritannien und Frankreich standen 1917 vor dem Staatsbankrott, in Frankreich meuterten zudem die Truppen. Finanziell verschlechterte sich die Situation durch den Verlust des östlichen Bündnispartners erheblich.
Rußland hatte sich zur Vorbereitung des Krieges vor 1914 in Paris ungeheure Summen geliehen, die nun als Forderung wegfielen. Die Bolschewiki weigerten sich, diese Staatsschulden anzuerkennen und verschickten statt dessen eine lange Liste mit „imperialistischen“ Abkommen des früheren Zarenreichs, die sämtlich Null und Nichtig seien. Sie reichte bis ins 18. Jahrhundert zurück und umfaßte natürlich auch die Kreditvereinbarungen der jüngsten Zeit.
Mit zu den gekündigten Verträgen gehörte auch das französisch-russische Bündnis von 1892, jener „Vertrag zur Eroberung Deutschlands und seine Aufteilung in Kleinstaaten“, wie der damalige Zar sich ausgedrückt hatte.
Allerdings hatten die Vereinigten Staaten als weitere und schließlich entscheidende westliche Macht im Frühjahr 1917 den eigenen Kriegseintritt verkündet. Der internationalen Öffentlichkeit präsentiert als angebliche Reaktion auf deutsche U‑Boot-Attacken, galt dieser Schritt vor allem der grundsätzlichen Gefahr, die man von Deutschland ausgehen sah, schon lange vor 1914.
In den Washingtoner Führungszirkeln wurde das Deutsche Reich als der eigentliche Unruheherd der Weltpolitik und eine dunkle Bedrohung des eigenen Anspruchs als einzige Weltmacht empfunden. Das britische Weltreich würde sich letztlich Stück für Stück verdrängen und übernehmen lassen, dieser Prozeß war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts längst im Gang.
Von Deutschland glaubten die Washingtoner Entscheidungsträger das nicht. Ganz im Gegenteil galt dieses Land als dynamischer Gegenentwurf zur amerikanischen Weltordnung.
Der finsteren Thematik entsprechend hatte man Deutschland deshalb in den US-Militärakten schon kurz nach der Jahrhundertwende den Code-Namen „Black“ gegeben und damit begonnen, den „Black-Plan“ zu entwickeln, jenen für den kommenden Krieg gegen Deutschland.
Als der Krieg von 1914 dann ausgebrochen war, da vertraute US-Präsident Woodrow Wilson seinem Beraterkreis an, was seiner Meinung nach auf dem Spiel stand: Ein deutscher Sieg würde den Lauf der Zivilisation ändern.
Daran ist höchstwahrscheinlich wenigstens so viel zutreffend: Ein deutscher Sieg oder das Vermeiden einer deutschen Niederlage hätte das zwanzigste Jahrhundert in Europa zu einem weitaus angenehmeren Zeitraum werden lassen, als dies der tatsächliche Geschichtsverlauf später zuließ.
Zwar ließen sich die Streitigkeiten zwischen Ukrainern, Polen, Juden und Litauern nicht nach einem einfachen Schema schlichten. Die verwickelte Lage und die gegenseitigen Ansprüche ließen nur Regelungen zu, die von den einen oder anderen erst einmal jeweils als unrecht empfunden worden wären.
Wie immer jedoch die im deutschen Machtbereich vieldiskutierte Neuordnung der Völkerschaften schließlich im Detail geregelt worden wäre, sie hätte kaum Platz für jene Radikalisierung gelassen, die dann die totalitäre Ära erst möglich werden ließ.
Das eigentliche deutsche Kriegsziel, vor weiteren französisch-russischen Angriffskriegen einen weiten Pufferraum als Schutz anzulegen und ihn zugleich als Raum wirtschaftlicher Durchdringung zu kreieren, hätte sich mit dem natürlichen Interesse der osteuropäischen Völker verbunden, Deutschland als Garanten der eigenen Unabhängigkeit zu verpflichten.
Überdies gehörte es nicht zur Praxis deutschen politischen Denkens, das Verhältnis zu früheren Gegnern mit erfundenen Behauptungen über politische Schuld, dem verhandlungslosen Diktieren von Bedingungen und der Auferlegung von untilgbaren Schulden dauerhaft zu vergiften. Dies hätte sich, wenn man sich diesen Gedanken gestatten will, auch bei einer Friedensregelung gen Westen positiv ausgewirkt.
Aus der Perspektive des Vertrages von Brest-Litowsk wirken das Jahr 1989 und der nachfolgende Zusammenbruch der Sowjetunion daher ganz und gar nicht wie „die größte geopolitische Katastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts“ (Wladimir Putin).
Es scheint eher so zu sein, als habe die List des Geschichtsverlaufs einen 1918/19 begangenen Irrtum wenigstens teilweise korrigiert und ihn wieder näher an die natürliche Form herangebracht. Für Europa und für Deutschland kann sich daraus eine Zukunft als ein sich gegenseitig stützendes Europa der Völker und Vaterländer in einer zunehmend multipolaren Weltordnung ergeben.
Aber dies wäre, wie alles in Geschichte und Politik, kein Selbstläufer. Es müßte von Personen in Macht und Amt gewollt und praktisch umgesetzt werden.
Oswald Spengler hätte dies gewußt, seine Bemühungen galten nicht zuletzt der Herausbildung einer politikfähigen Generation junger Deutscher aus der Kenntnis historischer Zusammenhänge heraus.
Franz Bettinger
Mich hat immer verwundert, dass trotz des Friedens von Brest-Litowsk (1917) und der so möglich gewordenen Verlegung gewaltiger Mengen an Kriegsmaterial und Soldaten vom Osten an die Westfront der Krieg verloren ging. Wirklich wegen der Amerikaner? Und warum man sich einseitig zurückzog, ohne vorher einen Friedens-Vertrag ausgehandelt zu haben. Der Knebel-Vertrag von Versailles war die logische Folge. - Die Weltkriege (WW1 und 2) erinnern mich immer an die 3 Punischen Kriege (264-146 v. Chr. Hannibals Sieg von Cannae, 216 v. Chr.)
"Hannibal ist der größte Feind Roms gewesen, das größte militärische Genie, das je gegen die Weltmacht antrat. Aber wie unfeindlich, wie eiferfrei schreibt der zur Zeit Cäsars lebende Römer Cornelius Nepos über ihn!" So schreibt Michael Klonovsky in seinen Acta diurna. Auch der Vertrag von Brest-Litowsk enthielt keine Schuld-Zuweisungen an das besiegte Russland. "Jeder deutsche Journalist, der heute über Putin oder Trump schreibt," so fährt Klonovsky fort, "behandelt diese Männer, die ja nicht mal Feinde im kriegerischen Sinne, sondern bloß in jenem einer elenden Hypermoral sind, mit einer Unfairness und Geiferei, von der Traktierung unserer Wehrmachts-Generäle und anderer Altvorderen ganz zu schweigen. Die Wendung vom "gerechten zum perfiden Feind" und die daraus folgende Feind-Erklärungs-Kirmes der Anständigen und Trend-Konformen haben die Welt in ein tristes Licht getaucht."