Er hat, wie wir alle wissen, keine religiöse Grundlage mehr. Wenn Gott noch hie und da in Präambeln oder Schwurformeln erwähnt wird, so dient das bestenfalls als ein Feigenblatt, ist vermutlich aber einfach Augenwischerei.
Auch die Nation übt schon lange keine einheitsbildende Kraft mehr auf die meisten modernen Staaten aus, insbesondere nicht auf den deutschen. Der Staat, in dem wir leben, schützt in erster Linie die Rechte des einzelnen, die sogenannten Menschenrechte.
Der Tendenz und der Ideologie nach sind bei uns nur Individuen Rechtssubjekte. Gemeinschaften wie die Ehe, die Familie, die Sippe, die Gemeinde, das Volk werden nicht als naturwüchsige Gebilde aufgefaßt, die nach eigenen Regeln funktionieren und nach außen hin als Einheit mit eigenen Rechten auftreten können, sondern als freiwillige und jederzeit aufkündbare Zusammenschlüsse von einzelnen Personen.
Auf die Worte „freiwillig“ und „jederzeit aufkündbar“ wird dabei besonderer Wert gelegt. Als wirklich freiwillig zählt nur das, was der Mensch aus sich heraus und ohne Beeinflussung durch die Gesellschaft oder die Tradition tut und entscheidet. Nicht Gott, nicht die Nation, sondern der völlig selbstbestimmte und freie Mensch ist das Ziel der Staatstätigkeit.
Wenn man den modernen Staat als Korrelat des so verstandenen Individualismus versteht, lassen sich einige neuere Phänomene in der westlichen Welt zwanglos in die größeren Entwicklungslinien einordnen. Das Ziel oder zumindest das Resultat zahlreicher Gesetze und Gerichtsentscheidungen ist es, den Druck der gemeinschaftsbildenden Institutionen auf das Individuum abzubauen, auf daß letzteres frei werde von gesellschaftlichen Zwängen.
Als Beispiel aus jüngerer Zeit wäre zunächst zu nennen die Ehe für alle. Die Ehe zwischen Mann und Frau ist ja tatsächlich nur eine von vielen Möglichkeiten des Zusammenlebens, und aus individualistischer Sicht gibt es keinen Grund, warum der Staat eine einzelne davon herausgreifen und unter seinen besonderen Schutz stellen sollte. Warum sollte der Staat (oder die Kirche) darüber entscheiden dürfen, wer wen wann und wie oft heiratet? Aus Sicht des individualistischen Staates ist es ausschließlich Sache der Betroffenen, ob sie sich das Jawort geben wollen oder nicht.
Ähnlich sieht es aus bei der Frage der Anzahl und Art der Geschlechter. Zwar sind uns unsere Geschlechtschromosomen von der Natur vorgegeben; wie wir uns aber zu unserer genetischen Ausstattung verhalten sollen, das ist aus individualistischer Sicht selbstverständlich dem einzelnen zu überlassen.
Dementsprechend läßt der Staat an Universitäten im Rahmen der Geschlechterforschung (gender studies) erforschen, inwiefern unser Verhalten durch die gesellschaftliche Vorgabe von normativen Geschlechterrollen manipuliert wird, und wie die Voraussetzungen dafür geschaffen werden können, daß jeder das Geschlechtsverhalten an den Tag legen kann, das ihm persönlich auf den Leib geschnitten zu sein dünkt.
Besonders zu nennen ist hier die individualisierende und zersetzende Wirkung der Sozialpolitik, die ja den mit Abstand größten Posten der deutschen Staatsausgaben ausmacht. Man sollte sich hier nicht durch das Wort „Sozial“ täuschen lassen, das irgendwie nach Gemeinschaft, nach Solidarität klingt. Zentralisierte staatliche Sozialpolitik hat genau den gegenteiligen, nämlich einen vereinzelnden Effekt. Sie gewährt die soziale Hilfe in Form eines Rechtsanspruchs, der grundsätzlich völlig unabhängig davon ist, ob sich der Empfänger sozial oder asozial verhält.
Arbeitslosengeld bekommt auch derjenige, der seine Mutter verkauft, seine Frau betrogen und seine Kinder nicht anerkannt hat. Staatliche Sozialhilfe bindet den einzelnen nicht in die Gemeinschaft ein, sondern macht ihn vielmehr unabhängig von der Meinung, welche die Gemeinschaft von ihm hat. An die Stelle von Familie, Gemeinde oder Nachbarschaft tritt der große Frei- und Gleichmacher Staat. Das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre eignet sich darum vor allem als Kritik an der individualisierenden Wirkung moderner Sozialpolitik, auch wenn es ursprünglich eigentlich gegen die kollektivistischen Regime des nationalen und internationalen Sozialismus gerichtet war.
Mit der Bildungspolitik steht es nicht anders. Für die Frage, ob ein Kind studiert oder nicht, sollen nicht mehr der Bildungsgrad und der Status seiner Eltern, sondern seine individuellen Fähigkeiten bestimmend sein. Hauptsächlich deswegen besteht der Staat auf Schulpflicht und bietet kostenloses Studium an. So sehr man auch aus verschiedenen Gründen für diese Maßnahmen sein mag: Ihre direkte Konsequenz ist natürlich die Nivellierung der Herkunft der Kinder und ein Zurückdrängen des Einflusses ihrer Familien.
Es spricht einiges dafür, daß auch die zahlreichen staatlichen Ge- und Verbote der letzten Jahrzehnte im wesentlichen den Zweck haben, den Einfluß der Gesellschaft auf den einzelnen zu minimieren. Zu denken wäre hier z.B. an das Rauchverbot in Gaststätten oder die zahlreichen Eingriffe im Namen des Klimaschutzes. Auch hier geht es nicht um Stärkung des Gemeinschaftsgefühls, sondern um die Verringerung sog. „externer Effekte“. Das Ziel ist es hierbei, daß jeder Bürger die Kosten seines Handelns selber trägt und nicht anderen aufbürdet. Natürlich ist diese Denkweise nicht völlig unberechtigt, nur ist die Folge der Tendenz nach eine individualisierende.
Die Beispiele sollen demonstrieren, daß es wenig Sinn hat, sich den modernen Staat als einen Gegenspieler des Marktes vorzustellen, in etwa so, also ob der Markt die Traditionen und Gemeinschaften zerstöre und der Staat sich dem entgegenstelle. Wir sehen ja derzeit, daß der Staat vor lauter Menschenrechten noch nicht einmal mehr in der Lage ist, vernünftig zwischen Bürger, Asylbewerber, Geduldetem und Ausreisepflichtigem zu unterscheiden. Wehrhaft ist er eigentlich nur noch gegen Personengruppen, die ihm eine gemeinschaftsfördernde Aufgabe zuteilen wollen.
Ein gangbarer Weg scheint unter diesen Verhältnissen m.E. allenfalls zu sein, darauf hinzuarbeiten, daß der Staat wenigstens seine Kernaufgaben endlich wieder ernst nimmt, nämlich die der inneren und äußeren Sicherheit. Aus dieser Perspektive ergibt sich dann vielleicht auch ein Konsens zwischen Libertären und Konservativen – wenigstens in diesem Punkt.
Hesperiolus
"Der völlig selbstbestimmte und freie Mensch ist das Ziel der Staatstätigkeit" - ?! Nein, im Gegenteil, die völlig fremdbestimmte und entwurzelte, geschichts- und geschlechtslose, geradezu de-individualisierte Konsum- und Produktions-, nicht Monade, das Wort wäre zu gut, vielmehr charakterlose Funktionsinheit, als (verwaltungs-)technische Sklaven-Einheit und Feilspäne des internationalen Geldes und seiner Staat genannten Herrschaftskonstrukte ist das Ziel gegenwärtiger sog. Staatstätigkeit. Will dieser sog. Staat "freie" Menschen, im Ernst? Allenfalls "freie von", von Bindungen an Familie, Herkunft, Tradition und echter Bildung, "frei" von allem, was ihn stark, gewissenhaft, edel, gebildet und auch (markt-) widerstandsfähig machen könnte. Was der Beitrag, etwaqs putzig, Individualisierung nennt, ist längst schon weit fortgeschrittene, in der Tat von Markt und Staat betriebene Endvermassung. Nicht Individuum, sondern herkunftsloses, nicht freies, sondern verfügbares Massenpartikel. Und "schützt der Staat in dem wir leben, die (auch nur) sog. Menschenrechte (wirklich)? Dazu wäre zu erinnern, was Menschen und was Rechte sind. Abendländisch ist Mensch Bild Gottes als Mann und Frau; worum es geht haben hellsichtigere Warner, z.B. G. Nebel in einem ganz frühen Text, auf den Punkt gebracht: Insektifizierung!