Das Büchlein ist aus dem Jahre 1975, so alt wie ich, im Rotbuch Verlag erschienen. Der Autor Peter Schneider, Germanist, seinerzeit Maoist, als Referendar mit „Berufsverbot“ belegt, später erfolgreicher Schriftsteller, hat authentische Amtsschreiben im Zusammenhang mit dem sogenannten „Radikalenerlaß“ in eine biographische Geschichte eingefügt. Die Geschichte handelt von einem Lehrer namens Kleff, der seinem Anwalt lange Briefe schreibt, nachdem er einen Brief vom Oberschulamt bekommen hat, es lägen Zweifel vor, ob er „jederzeit die Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland und die Gesetze“ wahre und daß man ihn zu einem Gespräch einlade.
Die literarische Ausbeute ist eher mager, der dokumentarische Charakter schon etwas ergiebiger, eigentlich interessant wird es, wenn man den Text auf die gegenwärtige Situation legt. So scheint es, als bilde der „Gemeinsame Runderlaß der Ministerpräsidenten und aller Landesminister zur Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst“ vom 18. Februar 1972 die Folie, von der man sich heute aus juristischen Gründen streng distanzieren will, um moralisch zu einer umso wirkungsvolleren Durchsetzungspraxis derselben Strukturen zu gelangen.
In der Gegenwart läuft das so, daß beispielsweise im ARD-Magazin „kontraste“ ein neuerliches „Berufsverbot“ im Brustton der eigenen Rechtsstaatlichkeit weit von sich gewiesen wird, um im Beitrag dann AfD-Politiker durch nadelspitze Adjektive und Kollokationen zu entwürdigen. Richter Jens Maier (AfD Sachsen) wird mit den Worten vorgestellt: „vergeblicher Gesprächsversuch … rechtsextremer Massenmörder Breivik … Maier schlug in dieselbe Kerbe …zur Freude der rechtsextremen NPD … verpaßte dem Extremismusforscher Kallisch einen Maulkorb … Maier ficht das nicht an … kokettiert genüßlich mit der Aufregung um seine Person …“. Die Strategie der Diskreditierung des AfD-Richters bei gleichzeitigem Hochhalten der Neutralität der eigenen Normen ist bestechend schauderhaft:
“Hehe, mittlerweile dürfte ich ja Deutschlands bekanntester Richter sein …” – “Ich bin immer noch Richter, ich hoff, dass ich das auch bleibe, haha.” Warum aber ist Maier immer noch in Amt und Würden? Die Unabhängigkeit der Richter ist besonders geschützt, die Hürden für eine Entlassung sind hoch.
Meine Überlegungen sind, daß die schlechten juristischen Erfahrungen mit dem „Radikalenerlaß“, vor allem durch die Isolation Deutschlands in einem erneuten „deutschen Sonderweg“ in den 70er Jahren, inzwischen in dicken Schichten überlagert worden sind von einer rein moralischen antifaschistischen Siegergeschichte. Spätestens das Einsetzen von Vergangenheitsbewältigungsmustern aufseiten der Linken erzeugt einen blinden Fleck gigantischen Ausmaßes, der es unmöglich macht, daraus zu lernen.
Denn in Wirklichkeit diente der Adenauer-Erlaß 1950 ja bloß dazu, Altnazis in Amt und Würden zu halten, deren eingefleischter Antikommunismus sich später gegen die 68er richtete. Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“, um die es den Ämtern und Gerichten der 70er Jahre zu tun war, erscheint in diesem Bild nur als Feigenblatt für Nazimethoden. „Ehemalige Nazijuristen, die damals den Nazistaat geschützt haben, sind dabei, wenn jetzt die Verfassung vor uns geschützt werden soll. Und nichts, gar nichts passiert!“ (Peter Schneider). Dieses strukturvernebelnde Empörungsnarrativ ist 1975 schon präsent.
Was aber, wenn nach dem „Marsch durch die Institutionen“ die damaligen Opfer heute die Deutungshoheit haben, selber entsprechende Maßnahmen durchzusetzen? Oder, was damals hochgefürchtet war, deren Kinder, die in meinem Alter sind, „zu Kommunisten erzogen“ wurden und den Job für ihre linken Lehrer, Eltern und Erzieher machen? Dann erkennen sie nicht etwa Strukturen, sondern exekutieren dieselben libidinösen Besetzungen wie damals: gegen „Nazis“ sind Kündigungen, Nichtverbeamtungen, Versetzungen und Diffamierungen schließlich recht und billig.
Ich habe im folgenden Passagen aus „ … schon bist du ein Verfassungsfeind“ für sie zur geneigten Kenntnisnahme zusammengestellt, als kleine Übung im Strukturenerkennen. Dem Sezessionsleserpublikum wird die Übung eher leichtfallen.
Schlimm ist, daß manche Kollegen auf die zunehmende Kontrolle durch die Behörden so reagieren, daß sie versuchen, ihr darin zuvorzukommen. Diese Neigung der Intellektuellen, auch noch vollendete Tatsachen, vor die sie gestellt werden zum Gegenstand ihrer Entscheidung zu ernennen! Auf jeden Fall den Schein wahren, im Besitz der Initiative zu sein! Bei uns wirkt sich das so aus, daß bestimmte Anweisungen der Behörde uns gar nicht mehr überraschen, weil sie vorher als Anregung oder Vorschlag aus dem Kollegium kamen und zur Abstimmung gestellt wurden. (…)
Sicher bin ich auf Demonstrationen fotografiert worden. Und der ‘begründete Zweifel’ in der Personalakte heißt sicher nicht „Der Bewerber ist durch seinen frühzeitigen Protest gegen den verlorenen und inzwischen als fehlerhaft erkannten Krieg in Vietnam aufgefallen’, sondern: „Teilnahme an Demonstrationen, bei denen es zu Ausschreitungen kam“ (…)
Allmählich habe ich das Gefühl, daß ich zu einer neuen Gruppe von Menschen gehöre. Bis vor kurzem habe ich keinen Verfassungsfeind persönlich gekannt, jedenfalls war es mir nicht bewußt. Ich weiß nicht, wie man sich als Verfassungsfeind verhält, wie man spricht, was man denkt, wie man sich kleidet, was für Freunde man hat, ich weiß bis jetzt nur, daß entsprechende Zweifel an mir bestehen. Aber natürlich habe ich mich jetzt manchmal gefragt, ob ich jetzt vielleicht wirklich, ohne es recht zu wissen, ein Verfassungsfeind bin.(…)
… mit einem einzigen Brief, genauer gesagt, einem einzigen Satz, den ich damals geschrieben habe: ‘Der Meinung, daß es auch undemokratische Gesetze gäbe, bei denen Widerstand, nicht Gehorsam, angebracht sei, kann doch ernsthaft kein Demokrat widersprechen’. Ich habe sonstwas erwartet, aber nicht das, ich habe ja sogar vergessen, diesen Brief in die Liste möglicher Verdachtsgründe aufzunehmen.(…)
‘Hauptsache, du rettest die eigene Haut!’ rief empört eine Kollegin, Englisch und Französisch, ‘aber keine Sorge, bei dir werden sie auch etwas finden! Bist du nicht selber Mitglied einer Partei, die zwar nicht als so schlimm verfassungsfeindlich gilt, wie seine hier, als gemäßigt verfassungsfeindlich gilt sie doch auch!’ (…)
Präsident: ‘Ja, Herr Kleff, so geht das nicht. Der ganze Stil ihres Vorgehens ist gegen das Oberschulamt gerichtet. Sie haben die andere Seite nicht gehört. Sie hätten jederzeit in das Oberschulamt kommen und sich informieren können. Aber das wollten Sie und ihre Gruppe ja nicht. Dahinter steht wohl das Modell: alles gegen den Staat und die Vorgesetzten.’ (…)
Hätte ich statt vom ‘Widerstandsrecht’ vom ‘Recht zur Kritik’ an bestehenden Gesetzen sprechen sollen? Immerhin hätte ich mit diesem Begriffstausch sehr wahrscheinlich die Beamtung auf Lebenszeit einhandeln können. Ein Satz, ein einziges Wort gegen eine ganze Laufbahn – das sind ungleiche Gewichte. Andererseits: was ist das für eine Laufbahn, die man sich mit einem Satz verscherzen kann! (…)
„Trotz der klaren Unterscheidung zwischen Kritik an Gesetzen und Widerstand gegen Gesetze rücken Sie nicht von Ihrer Auffassung ab, daß es in der Bundesrepublik undemokratische Gesetze gebe, denen gegenüber Widerstand angebracht sei. Ihr daran anschließender Hinweis auf die Weimarer Republik mutet in diesem Zusammenhang wie eine Perversion an. Das Oberschulamt vermag nur festzustellen, daß Sie trotz eingehender Aussprache und Erörterung bei Ihrer verfassungswidrigen Auffassung verharren, der Sie in ihrem Rundschreiben auch durch die Tat Ausdruck gegeben haben.“ Entlassungsverfügung nennt sich das Ganze. (…)
Ich erschrecke, wie schnell sich die Menschen an einschneidende Eingriffe in ihre Freiheit gewöhnen. Hinterher heißt es dann, es habe sich um lautlose, um unmerkliche Veränderungen gehandelt, und plötzlich sei es zu spät gewesen. In Wirklichkeit beschreiben diese Eigenschaftswörter aber nicht die Eingriffe, sondern die Reaktionen der von den Eingriffen Betroffenen. (…)
‘Sehr geehrte Frau …! Uns ist bekannt, daß Sie seit Anfang 1972 in der …str. in einer Wohngemeinschaft mit Anhängern der Neuen Linken zusammenleben. Bei den Anhängern der Neuen Linken bestehen erhebliche Zweifel, ob sie die vom Bundesverwaltungsgericht geforderten Voraussetzungen erfüllen. Wir bitten Sie deshalb, uns detailliert darzustellen, wie Sie Ihre politische Überzeugung und Zielsetzung mit den vom Bundesverwaltungsgericht geforderten Pflichten vereinbaren wollen …’. (…)
Übrigens fällt mir auf: noch nie ist so oft von der ‘freiheitlich-demokratischen …’ die Rede gewesen. Gibt es die erst seit zwei Jahren? Oder spricht man erst von ihr, seitdem man dabei ist, sie abzuschaffen? (…)
Wenn ich das richtig verstehe: ich soll widerrufen, dann wird man sich gütlich mit mir einigen. ‘Wem schadest du denn,’ fragte er, ‘wenn du einmal kein Held bist und dafür weiter guten Unterricht machst? Sicher, du wirst kein gutes Beispiel abgeben für andere, die in die gleiche Lage geraten. Aber einmal ein Beispiel abgeben, und dann für unabsehbare Zeit arbeitslos? Gut, du wirst Sympathie ernten, Resolutionen auslösen, kannst ein, zwei Jahre von einer Versammlung zur anderen reisen, man wird deinen Mut beklatschen, aber kannst du davon leben?’ (…)
Im Januar 1972 schrieb Herbert Wehner, kurz bevor er dem Beschluß zustimmte: Wenn man hier einmal anfängt, wo wird man enden? Wann wird die nächste Gruppe fällig sein und die übernächste? Ich sehe keinen Sinn darin, die freiheitliche Grundordnung durch den ersten Schritt zu ihrer Beseitigung schützen zu wollen. Kampf gegen Kommunismus darf nicht als Verdächtigung und Schmähung von allem, was nicht konservativ ist, gebraucht werden.’
Der_Jürgen
Da heute viele Konservative die BRD bis, sagen wir, 1990 als Freiheitsparadies verklären, lohnt es sich darauf hinzuweisen, dass die Unterdrückung abweichender Meinungen nicht erst damals begann. Es ist nur eben drastisch schlimmer geworden, besonders unter der Rautenfrau.
In einem wirklich demokratischen Staat dürften keine Parteien verboten werden, es sei denn, sie wendeten Gewalt an oder riefen zu solcher auf. Doch die von Generalmajor Otto Ernst Rehmer gegründete Sozialistische Reichspartei, die bei Wahlen Ergebnisse von immerhin bis zu 11% erzielte, wurde Mitte der fünfziger Jahre verboten, und bald darauf ereilte dieses Schicksal auch die KPD.
"Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit" ist ein Bumerang-Slogan, der sich nach einem Paradigmenwechsel gegen seine Urheber wenden kann.
"In einem kommunistischen Staat gibt es keine Freiheit für Antikommunisten. In einem faschistischen Staat gibt es keine Freiheit für Antifaschisten. In einem demokratischen Staat gibt es keine Freiheit für Antidemokraten. Der Vergleich hinkt nicht", schrieb Hans Dietrich Sander in den "Staatsbriefen" (paraphrasiert, nicht wörtlich zitiert).
Der Einwand, in der demokratischen BRD habe man ja immerhin zwischen Union, FDP und SPD wählen können, zieht nur sehr bedingt, denn die Unterschiede zwischen diesen Parteien waren schon damals weit geringer, als es ihre Phraseologie ahnen liess. Keine dieser Systemparteien dachte je auch nur im entferntesten daran, die BRD zu einem echt souveränen Staat zu machen; die amerikanische Vorherrschaft wurde von allen diskussionslos anerkennt. Gab es zwischen Strauss und Wehner aber immerhin noch erkennbare Unterschiede, so besteht der Unterschied zwischen Merkel und Schulz allenfalls noch darin, dass letzterer Haare im Gesicht hat. Die hohlen, verlogenen Phrasen, die beide dreschen, sind jederzeit austauschbar.
Zu schlechter Letzt sei darauf hingewiesen, dass die Verfolgung von Menschen wegen ihrer Ansichten zur Zeitgeschichte lange vor der Merkel-Ära begann.