Damit geht auch ein Abschnitt in der Geschichte des deutschen Nachkriegskonservatismus zu Ende. In allen Würdigungen und Nachrufen wurde darauf hingewiesen, daß Schrenck-Notzing mit der Gründung der Zeitschrift Criticón die Tribüne für die rechte Intelligenz der siebziger und achtziger Jahre geschaffen hatte: von den katholischen Traditionalisten über die Adenauer-Fraktion und die Klassisch-Liberalen bis zu den Nominalisten und Nationalrevolutionären.
Geplant war das ursprünglich nicht. Datiert auf „Ammerland, im Mai 1970” ging ein hektographierter Rundbrief ins Land, der das Erscheinen der ersten Ausgabe von Criticón ankündigte. Einleitend hieß es: „Bei dem Schwimmen gegen den Strom fällt es immer schwerer, aus der Sturzflut des Gedruckten jene Publikationen herauszufinden, die für die grundlegende und laufende Orientierung über Zeitfragen wesentlich sind.” Deshalb sei es nötig, eine „Sammelstelle” zu schaffen, die das Material sichte und den Leser auch auf das hinweise, was eventuell am Rande stehe. Die Nummer 1 war denn auch ein gerade zwölf Seiten umfassendes Heft ohne Umschlag im Format DIN A 4, dessen Schwerpunktthema das Denken Arnold Gehlens bildete (einleitender Text über Moral und Hypermoral von Armin Mohler, Autorenportrait von Gehlens Schüler Hanno Kesting), während man ansonsten nur Rezensionen und kurze Hinweise auf Organisationen, Veranstaltungen oder andere Zeitschriften fand.
Seine spätere Gestalt mit den auffallend farbigen Umschlägen, auf denen eben kein deutscher Adler, sondern ein Hahn in gallischer Manier prangte, nahm Criticón allerdings schon im Laufe des zweiten Erscheinungsjahrs an. Auch die Gliederung der einzelnen Nummer ergab sich frühzeitig. Die Autorenportraits bildeten über die Zeit hinweg eine Art Enzyklopädie der konservativen Meisterdenker, wobei Schrenck-Notzing großzügig jede Fraktion der geistigen Rechten zur Geltung kommen ließ, außerdem gab es theoretische wie aktuelle Aufsätze deutscher und ausländischer Autoren, sowie ein politisch-metapolitisches Editorial, das Schrenck-Notzing unter dem Pseudonym „Critilo” – der „Kritische” verfaßte.
Critilo gehörte zu den Figuren des allegorischen Romans El Criticón des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián, nach dem Schrenck-Notzing seine Zeitschrift benannt hatte. Gracián war einer jener „Machiavellisten”, die die Freiheit liebten und deshalb die Macht der Gegen-Aufklärung einsetzten, um sich Einsicht in die tatsächlichen Weltzusammenhänge zu verschaffen. Das erklärt etwas von dem hohen analytischen und prognostischen Wert, den viele der in Criticón veröffentlichten Texte hatten. Zusammenfassend schrieb Schrenck-Notzing dazu: „Schwerpunkte von Criticón waren das russische Dissidententum (vor dem Nobelpreis für Solschenizyn), der amerikanische Konservatismus (vor der Wahl Reagans), der britische Konservatismus (vor der Wahl von Mrs. Thatcher), die Emigrationen der Ostblockstaaten (vor deren Zusammenbruch), die deutsche Identität (vor der Wiedervereinigung), Parteien und Medien (vor dem Ausufern des Parteien- und Medienstaates).”
Man muß sich dabei vergegenwärtigen, daß Criticón trotz oder gerade wegen dieser Qualität isoliert in der deutschen Zeitschriftenlandschaft stand. Selbst die Springer-Presse hatte kaum mehr als Häme für die „konservativen Standartenträger” (Die Welt) übrig. Ein Sachverhalt, der auch durch vermehrte Anstrengungen nicht zu ändern war. Das ließ sich vor allem an den Überlegungen Schrenck-Notzings in den achtziger Jahren ablesen, mit Criticón aktuell einen eigenen, alle drei Wochen erscheinenden Nachrichtendienst herauszubringen. Ein Versuch, der bereits im Ansatz scheiterte. Kurze Zeit später mußte auch die Erscheinungsweise Criticóns von zweimonatlich auf vierteljährlich umgestellt werden.
Der Einsatzbereitschaft von Schrenck-Notzing ist es zu verdanken, daß Criticón trotzdem die damalige Krise des konservativen Zeitschriftensegments überstand, dessen Publikationen nach und nach verschwanden, weil die Verlegerpersönlichkeit, die sie getragen hatte, nicht mehr da war (Herderbücherei Initiative), aufgab (Mut), sich von der CSU umarmen ließ (Zeitbühne, Epoche) oder ihr Milieu verlor (Konservativ heute). Es war deshalb tragisch, daß die Auswahl eines Nachfolgers zu einem immer drängenderen Problem wurde und Schrenck-Notzings Wahl – Gunnar Sohn, ein langjähriger Mitarbeiter von Criticón – sich als Fehlentscheidung erwies. Die gewisse Häme, mit der die Neue Zürcher Zeitung im Frühjahr 2000 einen Artikel über das „neue Criticón” betitelte mit „Kapitulation vor dem bösen alten Feind” war ein Signal dafür, daß Sohn nach kurzem Lavieren, das Erbe, das er angetreten hatte, verriet. Das hatte auch mit objektiven Schwierigkeiten zu tun, die Zeitschrift wie bisher fortzuführen, hing aber vor allem mit der Inkompetenz Sohns zusammen.
Und das ist das erstaunliche: Criticón ist eine konservative Zweimonatsschrift, ein Blatt der rechten Intelligenz, sowohl nach seinem Selbstverständnis wie im Urteil der Kritiker. – Claus Leggewie 1987
Schrenck-Notzing wird diese Entwicklung mit Bitterkeit verfolgt haben, wenngleich er sich das niemals anmerken ließ. Durch die Zeitschrift Agenda, die seine Förderstiftung von Karlheinz Weißmann (FKBF) mit einigen Nummern erscheinen ließ, versuchte er noch einmal zu den Anfängen von Criticón zurückzukehren und ein konservatives Rezensionsorgan zu schaffen. Geglückt ist das nur im Ansatz. Es war offenbar Zeit für etwas Anderes, und das Erscheinen der Sezession ist von Freund wie Feind als Versuch betrachtet worden, die Linie Schrenck-Notzings unter den gegebenen Umständen fortzusetzen.