Gewalt und Identität

pdf der Druckfassung aus Sezession 13/April 2006

sez_nr_13von Josef Daum

Die Unruhen in den französischen Vorstädten und die in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Rassenunruhen in Nordengland lassen das Interesse an einem Phänomen wachsen, das in der sogenannten Dritten Welt nach dem Zweiten Weltkrieg längst zu einer das politische Leben strukturierenden Größe geworden ist: spontane ethnische Massengewalt.


Der Anthro­po­lo­ge Stan­ley Tam­biah hat die­ses Phä­no­men in Süd­asi­en (Paki­stan, Indi­en und Sri Lan­ka) unter­sucht und kam zu theo­re­tisch fas­zi­nie­ren­den, poli­tisch aller­dings beun­ru­hi­gen­den Ergeb­nis­sen (Stan­ley Tam­biah: Leve­ling Crowds. Eth­no­na­tio­na­list con­flicts and Coll­ec­ti­ve Vio­lence in South Asia, Ber­ke­ley: Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia Press 1997, 417 S., kt, 27.50 $). Die Unru­hen in Bom­bay in der ers­ten Hälf­te der neun­zi­ger Jah­re sind dabei beson­ders auf­schluß­reich, weil Tam­biah Bom­bay für einen Ort hielt, der dem Eth­no­na­tio­na­lis­mus nicht beson­ders för­der­lich sei, da es sich um eine der kos­mo­po­li­tischs­ten Städ­te Indi­ens han­del­te, ein Zen­trum von Han­del und Finanz­we­sen. Der Zustrom von Ein­wan­de­rern aus ande­ren Tei­len Indi­ens ver­stärk­te jedoch die Arbeits­lo­sig­keit, und die Slums dehn­ten sich immer wei­ter aus. Infol­ge die­ser Ent­wick­lung luden sich die Kon­flik­te zwi­schen Zuge­wan­der­ten und Ein­hei­mi­schen stär­ker auf und wur­den zuneh­mend als Kon­flik­te zwi­schen Mus­li­men und Hin­dus wahr­ge­nom­men. Als die Unru­hen im Sep­tem­ber 1992 aus­bra­chen, blie­ben sie nicht auf die Armen­vier­tel beschränkt. Sie brei­te­ten sich von den süd­li­chen Zen­tral­be­zir­ken über die Vor­or­te aus und erreich­ten in der zwei­ten Pha­se die Innen­stadt und die Wohn­ge­bie­te der Mit­tel­schicht. Da auf die ört­li­chen Poli­zei­kräf­te kein Ver­laß mehr war, muß­ten die Streit­kräf­te zur Bekämp­fung der Auf­stän­de ein­grei­fen. 227 Men­schen star­ben bei den Sep­tem­ber- und 557 bei den fol­gen­den Janu­ar­un­ru­hen. Wei­te­re 317 Men­schen kamen bei Bom­ben­an­schlä­gen ums Leben. Ziel der von der hin­du-natio­na­lis­ti­schen Shev-Sena-Bewe­gung geför­der­ten Unru­hen war nach Tam­biah die „geo­gra­phi­sche Reor­ga­ni­sa­ti­on“, die Schaf­fung eth­nisch homo­ge­ner Stadt­vier­tel. Da sich Min­der­hei­ten in Bezir­ken unter einer feind­li­chen eth­ni­schen Mehr­heit nicht mehr sicher füh­len konn­ten, kam es tat­säch­lich zu einem Bevölkerungsaustausch.
Bei Ver­glei­chen mit ande­ren eth­ni­schen Mas­sen­un­ru­hen in Süd­ost­asi­en stieß Tam­biah auf den qua­si ritu­el­len Cha­rak­ter eth­ni­scher Mas­sen­ge­walt. Die von ihm unter­such­ten Aus­brü­che der Gewalt ori­en­tier­ten sich zum Bei­spiel am reli­giö­sen Kalen­der. Bestimm­te Fest­ta­ge, Pro­zes­sio­nen, regel­mä­ßig wie­der­keh­ren­de reli­giö­se Ver­samm­lun­gen und Gedenk­fei­ern sind bere­chen­ba­re Anläs­se für den Aus­bruch von Gewalt zwi­schen den Grup­pen. Tam­biah nähert sich die­sem merk­wür­di­gen Phä­no­men inter­pre­ta­to­risch mit dem Rück­griff auf zwei klas­si­sche Vor­den­ker der Sozi­al­psy­cho­lo­gie. Gust­ave Le Bon und Emi­le Durk­heim kon­zen­trier­ten sich auf die eigen­tüm­li­chen Cha­rak­te­ris­ti­ka von Kol­lek­ti­ven. Für Le Bon stan­den dabei die desta­bi­li­sie­ren­den, destruk­ti­ven Eigen­schaf­ten im Vor­der­grund, wohin­ge­gen Durk­heim sei­nen Fokus auf die Schaf­fung von Soli­da­ri­tät und Inte­gra­ti­on in die Gemein­schaft leg­te (Gust­ave Le Bon: Psy­cho­lo­gie der Mas­sen, Stutt­gart: Krö­ner 1982, 156 S., 10.30 € / Emi­le Durk­heim: Die ele­men­ta­ren For­men des reli­giö­sen Lebens, Frank­furt a.M.: Suhr­kamp 1994, 604 S., 18.00 €). Tam­biahs Poin­te ist letzt­lich, daß bei­de Sicht­wei­sen sich nicht nur nicht wider­spre­chen, son­dern zwei Sei­ten der­sel­ben Medail­le darstellen.
Bei­de die­nen letzt­end­lich der Sakra­li­sie­rung und Inten­si­vie­rung der eth­ni­schen und reli­giö­sen Zuge­hö­rig­keit. Da die poli­ti­sche Bedeu­tung der Mas­sen­psy­cho­lo­gie in direk­tem Zusam­men­hang mit der Demo­kra­ti­sie­rung der moder­nen Gesell­schaft steht, ist es nach Tam­biah auch kein Para­dox, daß eine Demo­kra­tie mit gut funk­tio­nie­ren­den demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen wie die indi­sche gera­de dem Phä­no­men eth­ni­scher Ge walt Vor­schub leis­tet. Die Demo­kra­tie ist viel­mehr eine Art Kata­ly­sa­tor für die For­mie­rung eth­nisch defi­nier­ter Mas­sen, denen in moder­nen „Massen“-Demokratien über­haupt erst die Mög­lich­keit gege­ben wor­den ist, ihre Res­sen­ti­ments und ihr kol­lek­ti­ves Iden­ti­täts­be­dürf­nis zu arti­ku­lie­ren. Der eth­ni­sche Natio­na­lis­mus sei daher kein archai­sches Phä­no­men, son­dern eine moder­ne Bewe­gung, die auf die regio­na­len Tra­di­tio­nen zurück­greift und auf natio­na­ler Büh­ne für sich nutz­bar macht.

Die wie­der­keh­ren­de Bedro­hungs­er­fah­rung ver­stärkt dabei die Ten­denz zur Ver­drän­gung einer Viel­zahl von Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten, die sonst den All­tag bestim­men (Fami­lie, Reli­gi­on, Pro­fes­si­on, Freund­schafts­netz­wer­ke und so wei­ter), zuguns­ten einer ein­zi­gen kol­lek­ti­ven Bezugs­grö­ße. Aus der Viel­falt sozia­ler Bezie­hun­gen und gesell­schaft­li­cher Inter­es­sen­ver­bän­de wer­den im Lau­fe der Aus­ein­an­der­set­zung klar von­ein­an­der unter­scheid­ba­re Kol­lek­ti­ve. Es ent­steht eine eth­ni­sche und poli­ti­sche Ein­deu­tig­keit, die vor dem Aus­bruch des Kon­flik­tes so nicht vor­han­den war.
Die­sen Iden­ti­tät stif­ten­den Cha­rak­ter des Kon­flikts hat auch René Girard beschrie­ben. Girard behaup­tet, daß es nicht kon­kre­te ratio­na­le Zie­le sein müs­sen, die Gemein­schaf­ten dazu nöti­gen, einen Akt kol­lek­ti­ver Gewalt zu bege­hen. Sei­ner Mei­nung nach bringt der „mime­ti­sche Wunsch“, also das Stre­ben nach dem, wonach auch die ande­ren stre­ben, uns zwangs­läu­fig in Kon­flikt mit unse­rer sozia­len Umwelt. Der Kampf aller gegen alle wür­de Platz grei­fen, die Gren­zen der Zuge­hö­rig­keit wür­den ver­schwim­men und die Gemein­schaft sich auf­lö­sen, wenn nicht in Abstän­den in einer gewalt­tä­ti­gen Form kol­lek­ti­ver Kathar­sis, die nach Girard sowohl der Ursprung des Mythos als auch des Ritu­als ist, die kul­tu­rel­le Ord­nung wie­der­her­ge­stellt wer­den könn­te (René Girard: Das Hei­li­ge und die Gewalt, Düs­sel­dorf: Pat­mos 2006, 480 S., kt, 14.95 €). Bei Tam­biah ist die­ser ritua­li­sier­te Opfer­gang im Grun­de nichts ande­res als der eth­ni­sche Auf­stand, der Iden­ti­tät fes­tigt, indem er jeden ein­zel­nen zwingt, sich klar einer Gemein­schaft zuzu­ord­nen. Girard hat die­sen Pro­zeß so aus­ge­drückt: „Die von ein­an­der nicht unter­schie­de­nen, kämp­fen gegen­ein­an­der, um sich von­ein­an­der zu unter­schei­den.“ (René Girard: Der Sün­den­bock, Zürich: Ben­zi­ger 1988, 302 S.)
Bestä­tigt wer­den die­se Erkennt­nis­se durch die For­schun­gen von Peter Wald­mann. In sei­ner Stu­die zum The­ma Ter­ro­ris­mus und Eth­ni­zi­tät hat er bereits in den acht­zi­ger Jah­ren auf die ver­stär­ken­den Wir­kun­gen der Gewalt auf das kom­mu­na­le Gemein­schafts­ge­fühl hin­ge­wie­sen. Der per­ma­nen­te Druck des Nord­ir­land­kon­flik­tes habe in Uls­ter und beson­ders in Bel­fast zur Ent­ste­hung eth­nisch homo­ge­ner Stadt­vier­tel geführt, deren Zusam­men­halt er damals mit der Soli­da­ri­tät vor­mo­der­ner Dorf­ge­mein­schaf­ten ver­glich. Gera­de die Gewalt nach außen stär­ke den Zusam­men­halt nach innen, was sich am Rück­gang der all­täg­li­chen Kri­mi­na­li­tät und Dro­gen­ab­hän­gig­keit, eben­so wie in der Zunah­me der Nach­bar­schafts­in­itia­ti­ve und der Nivel­lie­rung sozia­ler Unter­schie­de zei­ge. In die­sem posi­ti­ven Gefühl des sozia­len Zusam­men­halts und der Auf­wer­tung des Sta­tus von jun­gen Män­nern aus der Unter­schicht sah Wald­mann wich­ti­ge Grün­de für die Unlös­bar­keit eth­ni­scher Kon­flik­te (Peter Wald­mann: Eth­ni­scher Radi­ka­lis­mus. Ursa­chen und Fol­gen gewalt­sa­mer Min­der­hei­ten­kon­flik­te, Opla­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten 1989, 437 S.). In einem neue­ren Auf­satz Wald­manns zeigt sich, daß sei­ne Schluß­fol­ge­run­gen nach einem erfah­rungs­rei­chen Jahr­zehnt von der Rea­li­tät bestä­tigt wur­den (Peter Wald­mann: Zur Asym­me­trie von Gewalt­dy­na­mik und Frie­dens­dy­na­mik am Bei­spiel von Bür­ger­krie­gen und bür­ger­kriegs­ähn­li­chen Kon­flik­ten, in: Wil­helm Heit­mey­er und Hans-Georg Soeff­ner (Hrg.): Gewalt. Ent­wick­lun­gen, Struk­tu­ren, Ana­ly­se­pro­ble­me, Frank­furt a. M.: Suhr­kamp 2004, 560 S., 15.00 €). Im Fal­le von Nord­ir­land habe sich gezeigt, daß in Pha­sen des Waf­fen­still­stan­des der Gewalt­pe­gel kaum zurück­ge­gan­gen sei, son­dern sich ledig­lich vom Kon­flikt zwi­schen den Kon­fes­si­ons­grup­pen auf die Riva­li­tät inner­halb der reli­giö­sen Grup­pie­run­gen hin ver­la­gert habe. Was den Zwang zur Aggres­si­on nach außen zur Auf­recht­erhal­tung der Ord­nung im Inne­ren zu bestä­ti­gen scheint. Wald­mann gelangt zur pes­si­mis­ti­schen The­se von der „struk­tu­rel­len Über­le­gen­heit von Gewalt- gegen­über Frie­dens­pro­zes­sen“. Er zieht dar­aus die bit­te­re Kon­se­quenz, „daß es die zuneh­men­de Segre­ga­ti­on der Bevöl­ke­rung in mehr oder weni­ger geschlos­se­ne kon­fes­sio­nel­le oder eth­ni­sche Sied­lungs­grup­pen zu akzep­tie­ren gilt.“ Wie die Erfah­rung zei­ge, „zählt räum­li­che Distanz zu den wich­tigs­ten Prä­ven­tiv­maß­nah­men, mit denen ein­an­der nicht freund­lich geson­ne­ne sozia­le Gemein­schaf­ten dafür sor­gen, daß die Kon­flik­te und Span­nun­gen zwi­schen ihnen inner­halb kon­trol­lier­ba­rer Gren­zen bleiben“.

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