Der Soziologe Niklas Luhmann unterschied zwischen “Beobachtung erster Ordnung” und “Beobachtung zweiter Ordnung”. In seinem Buch „Die Realität der Massenmedien“ (1996) geht er davon aus, daß „Beobachtung erster Ordnung“ normales Handeln ist: jemand spricht, schreibt, arbeitet, unterscheidet so und nicht anders. Im Mediensystem läuft ständig die Unterscheidung informativ/nichtinformativ. Massenmedien operieren in dem Modus: neue Informationen generieren, alte veralten von allein. Neue Informationen sind anschlußfähig an alte, deswegen kann man sie überhaupt verstehen. So geht alles seinen sozialistischen Gang. Das Mediensystem beobachtet die Welt mithilfe seines Codes: Was taugt als Information für die Leser‑, Hörer- und Zuschauerschaft? Mehr kann es nicht, es ist operativ geschlossen.
Hier kommt die Beobachtung zweiter Ordnung ins Spiel: die Gegenbeobachtung mithilfe systemfremder anderer Codes. Das ist ebenfalls ganz normal, haben doch Ereignisse in den Medien immer wieder juristische, finanzielle, ästhetische oder politische usw. Ursachen und Folgen. Es wird beispielsweise über einen Kriminalfall berichtet, es werden Werbeanzeigen geschaltet oder bestimmte Medien haben bestimmte politische Tendenzen oder erzieherische Absichten oder hübsche Designeraufmachungen. Kein besonderes Problem soweit, ganz gewöhnliche ausdifferenzierte moderne Gesellschaft.
Irritationen im System kommen immer von außen. Sie können innen im Mediensystem nur mit dem Zweiseiten-Code informativ/nichtinformativ aufgegriffen und weiterverarbeitet werden: zu neuen Informationen.
Doch was geschieht, wenn Informationen prinzipiell nicht mehr als informativ, sondern als falsch (aus dem Wissenschaftssystem: hier wird manipuliert und verfälscht statt informiert), als böse (aus dem Moralsystem: hier wird gelogen und betrogen statt informiert), als entmündigend (aus dem Erziehungssystem: hier wird gegängelt, pädagogisiert, das Denken betreut statt informiert) oder als feindlich (aus dem Politiksystem: hier wird agitiert und Feindschaft gesät statt informiert) beobachtet werden?
Dann reagiert das Massenmediensystem alarmiert. Es sieht sich mit den Argusaugen anderer Systeme beobachtet und sein systemimmanenter Code droht zu verschwinden.
Um den Systemkollaps zu verhindern, versucht es, das als falsch Beobachtete als wahr hinzustellen, das als böse Beobachtete als gut und das als feindlich Beobachtete als freundlich. Es macht damit aber im Sinne des eigenen Systemerhalts genau alles falsch – es öffnet sich der Gegenbeobachtung aus anderen Systemen, statt sich operativ zu schließen und auf die eigene Unterscheidung informativ/nichtinformativ zu bestehen. Fortan wird Information als wissenschaftliche, moralische und politische Frage behandelt. Informationen sind keine Informationen mehr, sondern fake news, Lügen und Krieg. Das Massenmediensystem kopiert lauter ihm äußerliche Codes in sich hinein und löst sich von innen sukzessive auf.
Nun könnte man sagen: die Beobachtung zweiter Ordnung passiert doch innerhalb des Mediensystems. Es werden einfach alle Mainstream-Informationen gegenbeobachtet und abgeklopft mit einem zusätzlichen, „kritischen“ Code, und man findet Lügen, Lücken und Lumpen. Nur zu diesem Zwecke existieren beispielshalber im Internet Portale wie PI, JouWatch, Unzensuriert oder InfoDirekt, zahlreiche Blogs und YouTube-Kanäle, „Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation“, mit Luhmann gesprochen.
Das stimmt jedoch so nicht, weil ein und dasselbe soziale System keine zwei Codes betreiben kann, etwa einen „normalen“ und einen „kritischen“. Normalerweise bewältigt ein System Kritik durch Integration der Irritation (zum Beispiel skandalisieren Medien moralische, ästhetische oder rechtliche Vergehen oder lancieren die „einseitige Berichterstattung“ des einen Mediums im konkurrierenden als Nachricht). Irritation von außen wird entweder dem Vergessen anheimgestellt („Einzelfälle“) oder der Gewöhnung („ganz normale Islamisierung“).
Bloß darf diese Irritation quantitativ nicht überhandnehmen. Wenn der Eindruck entsteht, daß jede Information möglicherweise falsch, böse, gelenkt und feindlich ist, kann das System nicht mehr einfach so weiteroperieren und massenhaft noch mehr Informationen desselben Gehalts generieren, was ja seine genuine Aufgabe ist. So handelt es abermals nicht im Sinne des eigenen Erhalts: es reagiert physisch. Die ultima ratio der Massenmedien ist: Z e n s u r , also reales Nichtermöglichen von Information.
Soziale Systeme im modernen, ausdifferenzierten Sinne, wie sie Luhmann Ende des 20. Jahrhunderts vor Augen hatte, haben ihre alle ihre jeweilige physische Deckungsgarantie historisch gesehen immer mehr zurückgehalten: Erziehung droht latent, aber nicht mehr manifest mit Züchtigung, Religion droht latent, aber nicht mehr manifest mit der Hölle. Politik droht latent, aber nicht mehr manifest mit Krieg, Massenmedien drohen latent, aber nicht mehr manifest, mit Zensur.
Wenn jetzt Akteuren und Konsumenten der kritischen Medien der Zugang zu ihren Informationskanälen durch Sperrung, Löschung und Strafen verwehrt wird, wenn ihnen Eigentum beschädigt und zerstört wird, siehe Martin Sellner – dann ist das nicht mehr nur symbolisch, sondern auch körperlich. Dann ist es nicht mehr Kommunikation, für Luhmann der Sinn von Gesellschaft überhaupt, sondern Gewalt. Zensur hat ein massives Legitimationsproblem, das der Luhmann-Schüler Holger Arning 2009 so gefaßt hat:
Wenn Zensur vor allem auf die Tilgung von Aussagen zielt, bedeutet Öffentlichkeit für sie vor allem kontraproduktive Werbung. Setzt sie dagegen auf die Einschüchterung möglicher Produzenten und Rezipienten, ist sie darauf angewiesen, ihre Drohungen medial zu verbreiten und Strafen zur Abschreckung öffentlich zu inszenieren.
Dieses Paradox – Zensur darf nicht öffentlich werden, muß es aber – ist ein weiteres Merkmal der Unfähigkeit des Mediensystems, die Menge der Irritationen innen zu verarbeiten. Es beginnt, sich „Hilfe von außen“ zu holen, vergrößert dabei allerdings die Irritationen. Das herbeigerufene „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ ist ein Hybrid auf den Systemgrenzen von Recht (ein klassisches Gesetz ist es nicht, Heiko Maas weist seine juristische Legitimierung weit von sich), Politik (es sortiert Freund und Feind) und Moral (die Sortierung erfolgt nach gut und böse) – und erzeugt im massenmedialen System letale Übercodierung. Information/Nichtinformation war einmal.
Wenn die Ausdifferenzierung der Gesellschaft sich umkehrt, also wieder abnimmt, gelingt es einzelnen Systemen nicht mehr zuverlässig, ihre Grenze stabil zu halten. Der Code wird ständig durch Fremdcodes überlagert (informativ/nichtinformativ heißt dann eben auch immer: wahr/falsch, gut/böse usw.), die Fähigkeit der “symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien” (Recht, Politik, Kunst, Erziehung, Religion, Massenmedien usw.), nur auf der Zeichenebene symbolisch zu operieren, nimmt ab.
Massenmedien im modernen Sinne sind durch die historische Herausbildung einer politischen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert entstanden. An ihrem Anfang stand ständige Zensur. Führt mithin Zensur objektiv zu Entstehung politischer Öffentlichkeit, und, wie ich andernorts annahm, Repression aktiviert? Oder stimmt meine Diagnose der Systemimplosion (durch Fremdcodeüberlagerung und durch Freisetzung physischer Deckungsgarantien) und das Massenmediensystem wie wir es kannten ist am Ende?
Eine Gesellschaftstheorie der Entdifferenzierung, des Rückbaus sozialer Systeme, der Wiedereinsetzung physischer Mechanismen, ist noch nicht geschrieben. Luhmann ist 1998 gestorben, er hat die moderne Gesellschaft für stabil gehalten, Konservativer, der er war. Er glaubte auch, davon kündet die unergiebige Kontroverse mit Habermas, daß Gesellschaftstheorie deskriptiv bleiben („Was ist der Fall?“) müsse, und nicht ideologiekritisch eingreifen („Was steckt dahinter?“) könne. Sie muß als nötigenfalls zusehen, wie Systeme implodieren.
Der Gehenkte
Ich ziehe den Hut! (Gibt es denn hier keine Druckfunktion?)