„Alle reden vom Wetter. Wir nicht“. Darunter: die Portraits von Marx, Engels und Lenin.
Zum 20-jährigen Jubiläum des Ereignisses gab es ein Treffen unter dem Motto: „Prima Klima“. Der Rezensent, damals bereits seit einigen Jahren zu den Nationalrevolutionären konvertiert, ließ es sich nicht nehmen, vor dem Tagungsort ein Flugblatt zu verteilen mit dem Dutschke-Zitat „Die Spaltung Deutschlands ist die Spaltung des deutschen Proletariats“ und Rudolf Bahros provokanter Einschätzung: „Die psychisch korrupteste Klasse der Metropolis ist die intellektuelle Alternativ-Bourgeoisie, derer einziges Interesse die Expansion des eigenen Lebensstils ist.“
Tatsächlich hatten sich die 68er in kritisch-zurückhaltende Verteidiger der Massendemokratie verwandelt, ihren radikalen Utopieanspruch zugunsten einer verschämten Verfassungstreue klammheimlich zu Grabe getragen. Die Créme der 68er ließ es sich am Spucknapf der Bourgeoisie gut gehen. Immerhin nahm Daniel Cohn-Bendit grinsend das Flugblatt entgegen, während der ehemalige SDS-Vorsitzende KD Wolff, sein ergrautes Haupt schüttelnd, von dannen eilte.
Die Studentenbewegung in der Bundesrepublik hat sich interessanterweise nicht an Konflikten in der Produktionssphähre entzündet und auch kaum in diese ihr fremde Welt hineingewirkt. Ihr Wirkungsbereich war der „moralische Überbau“, die Kampagne gegen die Notstandsgesetze; die Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg, und man wollte endlich mit der Umerziehung ernst machen, da die Republik angeblich noch nicht ausreichend entnazifiziert war.
Zum Aktionsfokus der Außerparlamentarischen Opposition (APO) wurde der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), der täglich für Schlagzeilen sorgte. Seine Devise lautete: „Der Parlamentarismus ist ein Machtmittel des Kapitals. Die Waffen der Arbeiterklasse sind: Direkte Aktion! Massenkampf! Alle Macht den Räten! Nieder mit dem Parlament!“
In der Tat stammt die Idee der Stadtguerilla, den westdeutschen Zusammenhang betreffend, aus dem SDS, die theoretische Begründung lieferten Rudi Dutschke und Hans Jürgen Krahl.
Die Folgen waren die mörderischen Terroraktionen der Baader-Meinhof-Bande (RAF) und anderer terroristischer Gruppen. Die Wahl der Gebrüder KD und Frank Wolff zu neuen Bundesvorsitzenden trug entscheidend zu einer weiteren Radikalisierung des Verbandes bei.
Dutschke, Lutheraner und Marcusianer, war als „DDR-Abhauer“ in Kontakt mit den führenden Köpfen der „Subversiven Aktion“ um Frank Böckelmann, Dieter Kunzelmann, Herbert Nagel und Günter Maschke gekommen, doch fühlte er sich als christlich besessener Missionar und charismatischer Führer und versprach den „Erniedrigen und Beladenen“ nichts weniger als ein irdisches Paradies: „eine Welt, frei von Hunger, Krieg und repressiver Arbeit.“ In Wahrheit verstanden die Revolutionäre die spätkapitalistische Realität trotz intensiver Marx-Schulung nur rudimentär, führten Kämpfe der Vergangenheit und zersplitterten sich in Antiautoritäre, Anarchisten, Trotzkisten, orthodoxe DKP-Kommunisten, Maoisten und Pazifisten. Ihr Gesellschaftsbild war jedoch durchdrungen von Siegesgewißheit, der „Erziehung eines neuen Menschen“ und der blanquistischen Utopie der Diktatur. Dies mündete in die Entstehung grüner und linker Pöbelparteien, die bis heute die politische Agenda bestimmen.
Der Historiker und Publizist Karlheinz Weißmann untersucht in seinem Buch Kulturbruch ’68 die Folgen der linken Revolte. Zwar versteht auch er die Studentenbewegung primär als Protest gegen den Vietnam-Krieg der USA (1966–1968), doch geht es ihm auch um das individuelle Lebensgefühl der revoltierenden Studenten, das in einer antiautoritären Haltung bestand und dessen gesellschaftspolitische Ausdrucksformen dem Ziel dienten die Protesthaltung gegenüber dem Durchschnittsverhalten der Bürgen sinnfällig zu machen.
Weißmanns Verdienst ist es, das „Atmosphärische“ der zwischen Chiliasmus und Terrorismus oszillierenden Bewegung zu entlarven und das Hochfahrende des idiotischen Theorems der prinzipiellen Veränderbarkeit des Menschen als romantisch, dumm und verlogen zu entzaubern. Er macht klar, daß der enthusiastische Aufbruch seine Wurzeln auch im Egoismus einzelner charismatischer Führer hatte.
Das Verspielte wich jedoch schon bald einer terroristischen Unduldsamkeit, theoretische Debatten einem erbärmlichen Doktrinarismus und einer geistigen Versteinerung, die dem Antiautoritarismus, unter dem die 68er angetreten waren, Hohn sprachen.
Der „Lange Marsch durch die Institutionen“, den der Marcusianer Dutschke propagierte, funktionierte bis in den Bereich der institutionalisierten Politik und begünstigte einen Einstellungswandel, der bis in die Kirchen, die Hochschulen, das Bildungssystem, die Armee und die Familien reichte.
Doch war die Fundamentalliberalisierung der Gesellschaft, die Veränderung der Alltagskultur bereits zuvor in der politischen und privaten Verfaßtheit der Bundesrepublik angelegt, die 68er rannten sperrangelweit offenstehende Türen ein.
Vielleicht erklärt dies, wieso gerade dort, wo die politische Machtfrage nicht gestellt wurde, im Alltag, im Umgang der Geschlechter, der Ökonomisierung und vulgären Anti-Ästhetisierung aller Lebensbereiche, der Frühsexualisierung, der Durchsetzung der Homo-Ehe und des Gender-Schwachsinns eine bleibende Revolutionierung stattgefunden hat.
So zählt die Verfestigung von Herrschaft, Täuschung, Lüge und Illusion unter dem Zeichen des „herrschaftsfreien Handelns“ (Habermas) zu jenen „Errungenschaften“ der sturmreif geschossenen, „aufgeklärten Zivilgesellschaft“, deren spätliberale Dekadenz eine der schwerwiegendsten Folgen der Kulturzerstörung von 1968 ist.
Nachtrag: Einige Anmerkungen im Buch sind dem Rezensenten zuzuschreiben. Der selbstgewählte Name der in Frankfurt agierenden Schlägerbande des Joseph Martin Fischer lautete nicht „Putzgruppe“ (S. 192 u.195), sondern – Wikipedia zum Trotz – „Putztruppe“.
Der Rezensent hatte die zweifelhafte Ehre, ein paar Tage bei den „Putztrüpplern“ („Putz“ stand für „Proletarisch Union für Terror und Zerstörung“) zu hospitieren, wechselte dann jedoch wegen seiner notorischen Abneigung gegen den Fiesling Fischer zu den „Roten Panthern“, zudem die Panther-Maiden im Gegensatz zu den „FischerInnen“ erheblich jünger, hübscher und noch nicht feministisch angehaucht waren.
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Das Buch von Karlheinz Weißmann: Kulturbruch ´68. Die linke Revolte und ihre Folgen. Berlin 2018. 252 S., 19,90 Euro kann hier bestellt werden.
RMH
"Doch war die Fundamentalliberalisierung der Gesellschaft, die Veränderung der Alltagskultur bereits zuvor in der politischen und privaten Verfaßtheit der Bundesrepublik angelegt, die 68er rannten sperrangelweit offenstehende Türen ein."
Ein Gedankengang, den man in dieser Art bzw. Ähnlich- oder Vergleichbarkeit auch bei Tocqueville in dessen Werk zur französischen Revolution "L’Ancien Régime et la Revolution" deutlich finden kann.