Erst recht, wenn es wissensgesättigte Werke sind, wenn man also davon ausgehen muß, daß der Autor tatsächlich meidet, was er kennt. Dies könnte der heimliche Dirigent sein.
In Garcias philosophischem Bestseller sind es zwei absente Namen: Husserl und Heidegger.
Garcia erzählt atem- und übergangslos die Geschichte der Intensität von der Vergangenheit bis in die Zukunft. Intensität ist ein Begriff, der bisher wenig explizite philosophische Aufmerksamkeit bekommen hat, der aber implizit, quasi als Querfront, das Denken, Fühlen und Handeln aller Observanzen seit mindestens 250 Jahren beherrscht. Er vereint die Gegensätze. Und er ist akzelerierend bis zur Selbstaufhebung: irgendwann – wir sind gerade die lebenden Zeugen – überholt die Intensität sich selbst und wird zum kalten Kaffee.
Intensität ist – so will Garcia uns weismachen – aus der Elektrizität geboren und hat das Fluidum der Uraltmetapher des Flusses trotz neuer Spannungsdifferenz zwischen zwei Polen übernommen. Sie hat eine gänzlich neue Unterscheidung ermöglicht, nämlich das Vergleichen des Selbst mit sich selbst und nicht mehr am anderen. Damit hat sie – in Marx‘ Worten – alles Ständische und Stehende verdampft.
Die alten Weisheitslehren, die „höchsten Zustände (Leben nach dem Tod, Seelenwanderung, Seligkeit, Ewigkeit)“, die „variablen Intensitäten (Erleuchtung, Nirwana, Ataraxie)“, die Transzendenz, die Tradition … alles Makulatur. Stattdessen Wechsel, Geschwindigkeit und illusionäre Jungfräulichkeit als heilige Dreifaltigkeit des Intensivtäters.
Als Geschichtsgeschichte ist Garcias Buch Pop-Philosophie á la Richard David Precht oder Alain de Botton, interessant und spannend erzählt. Die Herleitungen sind – vorsichtig ausgedrückt – riskant und überhaupt scheint er (nebst der Übersetzung) der Vieldeutigkeit der Sprache aufzuliegen: Zumindest im Deutschen kann man unter „intensité“ sowohl die Intensität, die Stärke und die Spannung (in-tense) verstehen.
Diese kleinen Unschärfen scheinen seinem Philosophieren eher entgegenzukommen, erlauben sie doch das frei-von-der-Leber-weg-Schreiben. Er liebt die begründungslose Setzung, aus der sein funkensprühender elektrifizierender Geist in rasantem Tempo und ohne Sicherungen Scheinwerfer entzündet.
So hetzt er von der Physik zur Metaphysik zur Anthropologie zur Ethik. Besonders das metaphysische Kapitel ist für den Konservativen erhellend und rechtfertigt den Kauf des Buches. Es ist auf kaum 15 gehaltvollen Seiten die spannende Erzählung, wie aus geistesgeschichtlicher Sicht die Identität an die Intensität verloren ging und verloren gehen mußte. Garcia hebt hervor, welch bahnbrechende Rolle dabei Nietzsche und Deleuze spielten („Genealogie“ und „Übermensch“ neu gesehen).
Da gibt es intensive Lesemomente, vor allem dort, wo die begriffliche und konzeptuelle Bedingtheit unseres Denkens und Wahrnehmens als Evidenz erscheint und uns als lichtvolle Einsicht das grammatische Fundament unseres Soseins entzieht. Wer Identität retten will, sollte Garcia widerlegen können!
Was fehlt, ist die Ontologie. Kein Zufall! Hier reinkarniert sich der längst tot geglaubte sich selbstgenügsame subjektive Idealismus, der Materie oder „die Gesellschaft“ nicht mehr zu brauchen scheint. Und das nennt sich auch noch „heroisches Subjekt“, denn die neuen Helden haben keine Angst vor der Veränderung, dem Werden. Heroismus ist nicht mehr Standhaftigkeit, sondern Fliehen-Können, in Bewegung und auf der Flucht sein.
Nun wird deutlich: Das alles ist ein negativer Kryptodialog mit Heidegger und Husserl, denn weder das Sein noch die eidetische Reduktion spielen eine Rolle und das, obwohl Garcia der Phänomenologie als Methode fast alles zu danken hat, denn auch er geht von der Erkenntnis in Bewußtseinsakten aus. Aber er unterbietet sie inhaltlich maßlos, geht vor die „Logischen Untersuchungen“, vor Husserls Psychologismuskritik zurück.
Doch zu gutem Effekt! Gut genug, um das schwache moralistische Ende auszugleichen, das für noch eine ausgleichende (und paradoxe) „Ethik“ und, und „Moral“ als Bremsklötze wirbt (mehr kann der Idealist nicht wollen können!), die sich wunderbar an den Zeitgeist anschließen – deswegen macht man Garcia zum Star. Er schreibt die neue Theologie des gepflegten Orgasmus‘ – jedoch: post coitum omne animal triste est – wogegen nur der nächste Orgasmus hilft – jedoch …
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Tristan Garcia: Das intensive Leben. Eine moderne Obsession. Berlin 2017. 215 S., 24 € – hier bestellen!
Franz Bettinger
"Ontologie." Okay, das ist die Lehre des Seins. "Der längst tot geglaubte, sich selbstgenügsame... ." Nein, es muss hier entweder heißen "selbstgenügsame" (ohne sich) oder "der sich selbst geügsame". Also der: "... subjektive Idealismus, der Materie oder die Gesellschaft nicht mehr zu brauchen scheint." Wie? Ich muss das mehrmals lesen. "Das ist ein negativer Krypto-Dialog, denn weder das Sein noch die eidetische Reduktion ... ." Echt? "Auch Garcia geht von der Erkenntnis in Bewußtseinsakten aus." Ja, was denn sonst!
Was glauben Sie, Herr Seidel, wie viele Leser auch nur ein Viertel dessen verdauen können, was Sie auftischen? Ich habe zwar schon zwei Gläschen Rosé intus, glaube trotz meiner reduzierten Hirnstamm-Aktivität aber, den Kern des Pudels erwischt zu haben. Voilà mal wieder:
Jenseits der Philosophie haben die Natur-Wissenschaften etwas zu sagen. Jenseits der Phrasen wird Farbe bekannt, werden Wirklichkeits-Teste bestanden. Was ist angeboren, was ist erworben? Solches ist längst geklärt. Zwillings-Forschung, Verhaltensforschung! Übersetzen Sie einmal ein paar Garcia-Weisheiten in verständliches Deutsch! In der Griffigkeit von Sprache liegt die Lust und der Genuss. Auch der kleine Mann will ja verstehen. Vom Glauben hat er genug. Liefern Sie! Bitte. Das Gesagte gilt natürlich nicht für die Herrschaften, die im luftleeren Raum noch atmen können, ja dort erst tiefe Lungenzüge hinbekommen, sondern für ganz normale Franzles, Lottas, Ottos und Gretls.
Stellen Sie sich die Welt einmal ohne Garcia-Wahrheiten vor. Wo wären wir dann? Nicht im vor-kopernikanischen Mittelalter. Wir wären in der Steinzeit, so macht man uns weis. Reicht das als Beleg der Größe dieser Wahrheiten? Ach so, das Rad. Nein, das Rad ist keine Erkenntnis, sondern eine Erfindung, ein Stück schaler Zivilisation. Vor 100 Jahren (schrieb Hans Ruesch) hätten die Bewohner des Nordens noch gerätselt, wer wohl die Krönung der Schöpfung sei, der Mensch oder der Eisbär. Ich? Weiß es heute noch nicht. Jedenfalls nicht die Literateure!