Seine kritische Auseinandersetzung mit den israelischen Streitkräften erzählt die Geschichte des Niedergangs der schlagkräftigsten konventionellen Armee seit dem Zweiten Weltkrieg (Martin van Creveld: The Sword and the Olive. A Critical History of the Israeli Defense Force, New York: Public Affairs 1998, 422 S., kt, 27.50 $). Lange Zeit war die Israeli Defense Force (IDF) die „ultimative Garantie“ für die Existenz des Staates Israel – nicht nur in den Augen der Israelis. Doch am Ende des Buches muß van Creveld konstatieren: „In der Mitte der neunziger Jahre war der Glaube Israels an seine Streitkräfte gebrochen.“ Was weder der britischen Kolonialmacht, dem Panarabischen Nationalismus noch den sowjetischen Militärexperten gelungen war, erreichten die steinewerfenden Jugendlichen in Gaza und der Westbank: die weitgehende Demoralisierung der israelischen Streitkräfte. 1995 gaben 72 Prozent der israelischen Rekruten an, der Dienst in den besetzen Gebieten sei „sehr demoralisierend“. Obwohl der Lebensstandard und die medizinische Versorgung der israelischen Bevölkerung sich in den achtziger Jahren stetig verbessert hatten, ging die Zahl der „kampftauglichen“ Wehrpflichtigen von 76 Prozent im Jahr 1986, ein Jahr vor dem Ausbruch der Intifada, auf 64 Prozent zehn Jahre später zurück. Zur gleichen Zeit bezeichnete der Generalstab die Moral der Reservisten als „kritisch“. In Israel, einem Land, in dem die Armee bis dahin einen unvergleichlichen Status eingenommen hatte, begann eine wachsende Zahl junger Männer sich dem Wehrdienst zu entziehen. Deren Zahl ging seit dem Ausbruch der Intifada in die Zehntausende, und die israelischen Streitkräfte hatten wachsende Probleme, Reservisten einzuziehen. Obwohl bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als 350 Israelis ihr Leben verloren hatten, hatte die israelische Armee nicht nur im Frieden eine Schlacht verloren, „sondern war in der Gefahr, auch ihrer Vergangenheit beraubt zu werden, einer quasi mythologischen Vergangenheit, die die Essenz der Moral jeder Armee ist, ob alt oder jung“. Es ist anzunehmen, daß van Creveld diese Entwicklung vor Augen hatte, die sich direkt vor seiner Haustür ereignete, als er das Konzept der „Neuen Kriege“, in dem die Schwachen über die Starken siegen, entwickelte.
Quasi als Pendant zur Kollektivbiographie der IDF erschien sechs Jahre später ein Porträt ihres berühmtesten Kriegers (Martin van Creveld: Moshe Dayan, London: Weidenfeld & Nicholson Military 2004, 224 S., kt, 24.50 €). Wie kein anderer wurde Moshe Dayan zur Symbolfigur des „neuen Juden“, der sich vom alten Bild des „weinerlichen“ Diasporajuden durch Unbeugsamkeit und kämpferische Selbstbehauptung abheben sollte und mit Sprüchen wie „Israel must be like a rabid dog“ berühmt wurde. Nach einer harten Kindheit auf den Farmen Degania, dem ersten kibbuz in Israel, und Nahalal sowie den militärischen Lehrjahren im Weltkrieg in der jüdischen Freiwilligeneinheit Palmach folgte der Aufstieg in der Befreiungsarmee Haganah bis zum Oberbefehlshaber der IDF ab 1953.
Für die überaus erfolgreiche Suezkampagne von 1956 wurde Dayan Ritter der französischen Ehrenlegion. Während sich der geborene Krieger als Landwirtschaftsminister bis 1964 eher schwertat, avancierte er nach seiner Rückkehr in die große Politik als Verteidigungsminister im Sechs-Tage-Krieg 1967 zum verklärten Retter der Nation und zum medialen Kultstar in der ganzen Welt. Dieses Bild bekam allerdings im Jom-Kippur-Krieg von 1973, in dessen Folge das Kabinett, dem Dayan angehörte, zurücktreten mußte, einige Risse. Der einst als „Falke“ geltende Minister hatte während des Krieges Anzeichen von Mutlosigkeit, nahe am Defätismus, gezeigt. In seinen letzten Lebensjahren entwickelte er sich immer mehr zur „Taube“, deren äußerst erfolgreiches diplomatisches Wirken als Außenminister unter Menachem Begin schließlich zu einem Abkommen mit Anwar as-Sadats Ägypten führte. Van Creveld würdigt den Mann mit der markanten Augenklappe als Markenzeichen (das Auge hatte er im Weltkrieg durch einen Heckenschützen eingebüßt) nicht nur als gefürchteten Krieger, Staatsmann und Diplomaten, sondern auch in seinen eher schillernden Facetten als notorischer Querkopf, passionierter Hobby-Archäologe und berüchtigter Frauenheld.
Dayan scheint für van Creveld dem Idealbild eines guten soldatischen Führers ziemlich nahe zu kommen, zumal er eine Prämisse mit ihm teilt, die er schon 1985 äußerte, nämlich die Auffassung von der Unmöglichkeit, das Kriegshandwerk durch die Technik zu ersetzen und auf mathematische Formeln zu reduzieren (Martin van Creveld: Command in War, London: Harvard University Press 1987, 352 S., 22.50 $). Dort wirft van Creveld auch der israelischen Führung vor, im Jom-Kippur-Krieg den modernen Informationssystemen mehr getraut zu haben als den „eigenen Augen“. Schon in Vietnam stand am Ende ein Paradox, das van Creveld Pathologie der Information nennt. Das gewaltige Kommunikationssystem brach unter seinem eigenen Überschuß an Informationen zusammen.
Den Schritt von der Analyse der Fehler der Vergangenheit zur Handlungsempfehlung für die Zukunft ging van Creveld aufgrund einer Bitte seiner besorgten Ehefrau. In Defending Israel plädiert er für einen, wenn nötig unilateralen, Rückzug der Armee aus den besetzten Gebieten (Martin van Creveld: Defending Israel. A controversial Plan towards Peace, New York: St. Martin’s Press 2004, 224 S., 21.95 $). Van Creveld argumentiert pragmatisch: Nach dem gewonnenen Sechs-Tage-Krieg hatte Israel die Palästinensergebiete besetzt, um die strategische Tiefe zu vergrößern. Bezüglich einer dauerhaften Kontrolle über die feindlich gesinnte palästinensische Bevölkerung in der Westbank war schon Moshe Dayan äußerst skeptisch. Dayan, vertraut mit der arabischen Wesensart und gut befreundet mit Arabern, erwartete in zwei bis vier Jahren die ersten Aufstände. Daß diese dann erstaunlich lange ausblieben, lag zum Teil an Dayans schonender Verwaltungspraxis, zum Teil am allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung dieser Jahre, von dem auch die Palästinenser profitierten. Mit größter Skepsis betrachtet van Creveld in diesem Kontext die mit allen staatlichen Mitteln geförderte Siedlungspolitik. Angesichts der sehr ungleichen demographischen Entwicklung argumentiert er auch hier pragmatisch: Wenn man nicht genügend Leute hat, um ein anderes Volk zu kolonisieren, dann sollte man es eben lassen. Dies hat ihm – wenig überraschend – starke Antipathien auf seiten der rassisch oder religiös motivierten Siedlerlobby eingebracht. Denjenigen Linken dagegen, die von einem friedlichen, mulitikulturellen Zusammenleben von Israelis und Palästinensern phantasieren, paßt sein Plan von einer Segregation der Völker durch eine Mauer, die so hoch ist, daß „kein Vogel darüber fliegen kann“, erkennbar ebenfalls nicht ins Konzept.
Für den Rückzug und die Mauer spricht aus israelischer Sicht indes einiges. Zunächst ist die „strategische Tiefe“ durch die überwältigende konventionelle Überlegenheit der IDF im Nahen Osten nur noch von sekundärem Interesse, während die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen relativ unabhängig vom konkreten Verlauf der Grenzen besteht. Schon 1993 provozierte van Creveld zudem mit der These: „Die Proliferation hat die Stabilität im Verhältnis der Staaten, die Nuklearwaffen besitzen oder mit ihnen konfrontiert sind, vergrößert und nicht verringert.“ Selbst Diktatoren wie Stalin, Chrustchev oder Mao sind offensichtlich niemals ernsthaft in die Versuchung gekommen, ihre Nuklearwaffen tatsächlich einzusetzen. Nuklearwaffen erscheinen van Creveld als die großen „Spielverderber“, wie er es jüngst in einem Potsdamer Vortrag ausdrückte. Sie beenden das Zeitalter der großen Strategie. Er sagte bereits damals voraus, daß sich die Austragung der Konflikte von Staaten auf nichtstaatliche Organisationen verlagern würde, da selbst zutiefst verfeindete Staaten sich gegenseitig durch ihre nukleare Rüstung neutralisieren würden. Dies ist eine Sichtweise, die in der aktuellen Debatte im Blick auf den Iran sicher besondere Brisanz besitzt, zumal geäußert von einem Israeli, der in diesem Buch auch die immer noch geleugnete Nuklearrüstung seines eigenen Staates beschreibt. (Martin van Creveld: Nuclear Proliferation and the Future of Conflict, New York: The Free Press 1994, 180 S., 22.95 $).
Während also die besetzten Gebiete strategisch nicht mehr viel Wert haben, verursachten die fortgesetzten Sicherheitsbemühungen für die Juden in diesen Gebieten so enorme psychologische und ökonomische Kosten (die van Creveld im einzelnen vorrechnet), daß durch eine Bereinigung der Situation und die Umlenkung der menschlichen und wirtschaftlichen Ressourcen in Industrie und Forschung dem Land ein veritabler Wirtschaftsaufschwung blühen könnte. Durch die Mauer wäre die Grenze kürzer, und somit besser zu kontrollieren und zu verteidigen. Die Mehrzahl der Palästinenser bliebe außerhalb der Grenzen ihrem Schicksal überlassen, während die Araber mit israelischer Staatsangehörigkeit sich stärker zur Assimilierung genötigt sehen könnten. Van Creveld diskutiert im Detail die dann noch verbleibenden Aufgaben, eine fortgesetzte „Revolution in Military Affairs“ beispielsweise oder das Anlegen von Entsalzungspflanzenplantagen, um ausfallendes Wasser aus der Westbank zu ersetzen. Was bei Umsetzung dieses Planes mit den verbliebenen jüdischen Siedlern geschehen würde, kann man sich leicht ausrechnen. Van Creveld wäre offenbar bereit, dieses Opfer zu bringen, um das Ganze zu retten. Und offensichtlich gewinnt diese Vorstellung in der israelischen Gesellschaft zunehmend an Attraktivität. Die Mauer ist gebaut, der Gazastreifen bereits geräumt. Das jüdische Volk bewegt sich in die Richtung, die van Creveld weist, und wird sich dadurch vielleicht über die nächste Jahrhundertwende retten. Es ist die Tragik der Deutschen, daß sie bisher weder einen Wegweiser vom Kaliber van Crevelds hervorgebracht, geschweige denn die Kraft für die harten aber notwendigen Schritte zum Überleben gefunden haben.