Mittenrein in die vielfach umsäuselte »Lutherdekade« kracht dieses Buch! Daß Luther ein derber Judenhasser war und sich im Bauernkrieg auf die Seiten der Obrigkeit stellte: geschenkt. Autor Hermann, Philosoph des Jahrgangs 1961, hält sich mit solchen Gemeinplätzen nicht auf. Er geht in die Vollen, und wie! Daß gewaltige Explosionen nach diesem unerhörtem Wurf bislang ausblieben, hat einen einfachen oder gerade komplizierten Grund: Über weite Strecken ist Im Moralapostolat derart voraussetzungsreich geschrieben, daß ein geisteswissenschaftliches Studium (nach heutigen Maßgaben, »Bachelor«, versteht sich) als Grundbedingung nicht ausreichen dürfte. Hier wird nicht gepoltert und kein Säbel geschwungen, hier wird hochkonzentriert an Maschen und Mäschelchen geklöppelt.
Aber wie! Das heißt: Eine hochkonzentrierte Lektüre (592 Fußnoten!) ist erforderlich. Theodor Fontane (von Hermann unerwähnt) hatte die Quintessenz in Schach von Wuthenow dem notorischen Provokateur von Bülow knapp in den Mund gelegt: »Es geht eine Sage, daß mit dem Manne von Wittenberg die Freiheit in die Welt gekommen sei, und beschränkte Historiker haben es dem Volke so lange versichert, bis man’s geglaubt hat. Aber was hat er denn in Wahrheit in die Welt gebracht? Unduldsamkeit und Hexenprozesse, Nüchternheit und Langeweile.
Das ist kein Kitt für Jahrtausende.« Herrmann nun schlüsselt von Bülows Kritik auf und schreibt sie fort, und zwar in Form von dreiunddreißig »Marginalien«, die beispielsweise so titeln: »Die Liebe in Zeiten der Reinheit« oder »Neuformatiertes Fegefeuer, uneingestandene Eingeweideschau: Das protestantische Gewissen«. Das ist wirklich harter Tobak. Der Autor folgt dem Schmittschen Diktum, wonach »alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre« de facto »säkularisierte theologische Begriffe« seien: Unsere hypermoralische Gesinnungsdikatatur, die proklamierte »Alternativlosigkeit« sowie die Erinnerungs- und Willkommenskultur unserer Tage seien herabgesunkene Sedimente eines hygienischen Glaubens, »der mit Luther die Weltbühne betrat und sich vor allem durch eines auszeichnete: Unduldsamkeit.«
Herrmann kennt den historischen Luther ebensogut wie seine zeitgenössischen Vollstrecker, jene Typen und Typinnen, die »mit einer Mischung aus branding und Sentimentalität« und zusätzlich der Zugriffsmöglichkeit auf mediale und monetäre tools sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf der Bedeutungslosigkeit zu ziehen vermögen. Was haben wir davon? Die totale und perverse Glorifizierung sämtlicher Sündenfälle der Menschheit: durch das »Patriarchat«, durch die Sklaverei, die Kreuzzüge, die Inquisition, den Kolonialismus, Rassismus, Waldsterben.
Luther habe mit seiner Ambivalenzfeindschaft die Sünderei erst großgemacht; Hermann: »Im Kern der deutschen Erinnerungskultur vollzieht sich ein reformatorisches Rechtfertigungsgeschehen ohne Gott: die Möglichkeit einer luziden Selbstrechtfertigung durch hypermoralische Bußfertigkeit, durch ›Sündenstolz‹ bis hin zum Selbsthaß.« Luthers sterile, exkludierende und angstschürende Agenda entbehre jedes integrativen, damit menschengemäßen Potentials und wäre damit das, was Fontanes von Bülow schon früh erkannte: Ein wirkmächtiges »Narrativ«, aber eben auch, vielleicht, eine Episode. Weil hier von den Wurzeln hin zu den Verästelungen gearbeitet und beschnitten wird, in ebendieser Reihenfolge, wird der moral turn des Westens (der Sieg von Habermas im Historikerstreit) erst zur Mitte dieses Feuerwerks zum Glühen gebracht.
Daß hier – von einem Katholiken – der Ostkirche Avancen gemacht werden, ist kaum verwunderlich. Autor Horst G. Herrmann ist mir übrigens auf der Frankfurter Buchmesse über den Weg gelaufen. Da kannte ich weder ihn noch das (damals noch ungedruckte) Buch. Der Herr trug eine Trainingsjacke und Adidasschuhe, mithin ziemlich das letzte, was man von einem Verfasser theologisch fundierter und katechesetauglicher Schriften erwartet. Ein Hoch auf die Ambivalenz!
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Horst G. Herrmanns Im Moralapostolat kann man hier bestellen.