Helmut Lethen: Die Staatsräte – eine Rezension

von Jörg Seidel -- Es dürfte im Umkreis dieser Zeitschrift ein mehrfaches Interesse an Helmut Lethens neuem Buch "Die Staatsräte" geben.

Das Zeit­su­jet, die Jah­re des Natio­nal­so­zia­lis­mus und ihre Ver­win­dung, gehö­ren seit je zum enge­ren Auf­merk­sam­keits­spek­trum. Carl Schmitt, Ernst Jün­ger oder Gott­fried Benn zäh­len zum spe­zi­fi­schen Kanon, aber es kommt nun ein drit­ter wesent­li­cher Punkt hinzu:

Lethen, Jahr­gang 39, 68er, eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor, Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler, einst in KPD-Krei­sen aktiv und noch immer beken­nen­der Lin­ker, ist mit Caro­li­ne Som­mer­feld ver­hei­ra­tet, die seit andert­halb Jah­ren einen kome­ten­haf­ten Auf­stieg im Sezes­si­on- und Antai­os-Milieu fei­er­te. Das führ­te zu Ver­un­si­che­run­gen, hüben wie drüben.

Tat­säch­lich geht der letz­te Dank in Lethens Buch an sei­ne Frau: „Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Caro­li­ne Som­mer­feld setz­ten das Buch unter Strom“. Aber wie?

Hel­mut Lethen ist Mono­the­ma­ti­ker oder – posi­tiv gewen­det – Modi­fi­ka­tio­nist. Seit 25 Jah­ren schreibt er das­sel­be Buch in Varia­tio­nen, ist er von einem The­ma beses­sen und durch­denkt immer wie­der die glei­chen Autoren.

Das hat Vor- und Nach­tei­le. Man kann Ken­ner­schaft vor­aus­set­zen. Ent­wick­lun­gen im Den­ken und Schrei­ben wer­den exem­pla­risch sicht­bar. Ande­rer­seits ver­ste­cken sich hin­ter den meis­ten Fäl­len von the­ma­ti­scher Beses­sen­heit indi­vi­du­el­le Krän­kun­gen oder Ängs­te – Lethen war immer­hin so frei und offen, uns in sei­ner auto­bio­gra­phi­schen Schrift, dem Hand­ora­kel (2012), Ein­blick in das gemein­hin Ver­heim­lich­te zu gewähren.

Fort­schritt in der Mono­the­ma­tik muß aller­dings meist mit Radi­ka­li­sie­rung erkauft wer­den, denn das Neue im Alten braucht die Sen­sa­ti­on, sofern man nicht den Weg in die aka­de­mi­sche kapil­la­re Ver­äs­te­lung und damit die lang­wei­li­ge Ver­san­dung des Gegen­stands geht.

Lethens Lebens­the­ma ist: Wie fühlt es sich an, in ande­ren Zei­ten zu leben, spe­zi­ell in der Zeit zwi­schen den gro­ßen Krie­gen der wei­ßen Män­ner. Und wie gerät man hin­ein in gewis­se Rol­len, für die man sich im Nach­hin­ein zu recht­fer­ti­gen hat. Hier dürf­te – wenn man die links-rechts-Ver­dre­hung wahr­nimmt – auch Lethens per­sön­li­ches Pro­blem liegen.

Er exem­pli­fi­ziert es an der Geschich­te der „Staats­rä­te“ Carl Schmitt, Gus­tav Gründ­gens, Wil­helm Furtwäng­ler und Fer­di­nand Sau­er­bruch. Die Insti­tu­ti­on des Preu­ßi­schen Staats­ra­tes wur­de 1933 sei­ner his­to­ri­schen Kon­ti­nui­tät beraubt und ihr unter Görings Füh­rung eine mehr­fa­che „sym­bo­li­sche Funk­ti­on“ über­ge­stülpt. Sie soll­te nach außen den „Erhalt eines preu­ßi­schen Staats­ge­dan­kens“ und „Staats­nor­ma­li­tät“ simu­lie­ren, füh­ren­de Ver­tre­ter der künst­le­ri­schen und intel­lek­tu­el­len Eli­te an die Macht bin­den und dien­te zugleich als Schutz­schild unter Görings beson­de­rer Auf­merk­sam­keit gegen zu erwar­ten­de Anfein­dun­gen – was eini­gen Staats­rä­ten spä­ter wohl das Leben geret­tet hat. Mit die­sen Kon­stel­la­tio­nen macht uns der Autor im ers­ten Abschnitt bekannt.

Der Clou sei­nes Buches besteht jedoch im halb­fik­tio­na­len Mit­tel­teil. Dort läßt er in „Geis­ter­ge­sprä­chen“ – eine lite­ra­ri­sche Gat­tung in lukia­ni­scher, also iro­nisch-zyni­scher Linie; per se eine heik­le Ange­le­gen­heit – die vier Prot­ago­nis­ten in ver­schie­de­nen his­to­ri­schen Pha­sen der 12 Jah­re auf­ein­an­der tref­fen und jeweils fach­spe­zi­fi­sche, aber phi­lo­so­phisch auf­ge­la­de­ne, mit zahl­rei­chen Ori­gi­nal­aus­sa­gen ver­se­he­ne Gesprä­che füh­ren, die gedan­ken­prall, beob­ach­tungs­reich und manch­mal tat­säch­lich auch humor­voll um die Fra­gen des Mit­läu­fer­tums, der Ver­ant­wor­tung und der Scham kreisen.

Das zumin­dest sind die Matri­zen, die unter den the­ma­ti­schen Aben­den über den „Schein“, über „Pro­the­sen“, den „Schmerz“, den „Feind“, die „Gemein­schaft“ und die „Ent­schei­dung“ lie­gen. Mit der ver­eng­ten Fach­op­tik, dem musi­ka­li­schen Gehör, dem thea­tra­li­schen Talent, der chir­ur­gi­schen Schär­fe, der phi­lo­so­phi­schen Eris­tik und einer lei­der sehr ein­sei­ti­gen Bos­haf­tig­keit und Zän­kig­keit, wer­den die Absur­di­tä­ten der jewei­li­gen ande­ren Per­spek­ti­ve aufgedeckt.

Schon am Voka­bu­lar merkt man, daß Lethen sich ganz beson­ders Carl Schmitt vor­knöpft – ihm gebührt der Groß­teil der Auf­merk­sam­keit. Das erklärt sich recht ein­fach. Schmitt ist nicht nur die intel­lek­tu­ell kom­ple­xes­te und bedeu­tends­te Figur, deren Wer­ke noch immer weit­flä­chig rezi­piert wer­den, er dient auch als Signal­flag­ge nach rechts. Denn Lethen ima­gi­niert sich ein neu­es Lese­pu­bli­kum. Bis­her schiel­te der Autor immer nach links – das ist bei sei­nem Klas­si­ker Ver­hal­tens­leh­ren der Käl­te (1994), aber auch in sei­nem Benn-Buch Der Sound der Väter unüber­seh­bar. Dies­mal aber will er den Rech­ten was erzählen.

Dafür ändert er sogar sei­ne Spra­che. Aus den ver­schwö­rungs-theo­re­ti­schen Mor­se­si­gna­len, mit denen sich Gleich­ge­sinn­te noch bis zur Jahr­tau­send­wen­de aus der Fer­ne heim­lich zuwin­ken und ‑zwin­kern konn­ten, der her­me­ti­schen Sozio­lo­gen­spra­che, für die Haber­mas und The­we­leit die blue prints schrie­ben, wird selt­sam ein­gän­gi­ge­ses Deutsch, von dem der Ver­fas­ser offen­bar annimmt, daß es auch von erwei­ter­tem Publi­kum ver­stan­den wer­den kann.

Das ist jetzt also sei­ne neue Ziel­grup­pe, ihnen, den Rech­ten, hat er was ins Stamm­buch zu schrei­ben. Wenn sich die alten Genos­sen den­noch zuwin­ken, dann nur noch in die­ser hämi­schen Ges­te. Die Gän­ge­lung führt beim anders­den­ken­den Leser frei­lich auch zu Aversionen.

Die Bot­schaft nach rechts ist fol­gen­de: Zum einen wer­den Par­al­le­li­sie­run­gen geschaf­fen, die his­to­ri­sches mit jetzt­zei­ti­gem Gesche­hen kurz­schlie­ßen, also „erns­te Kon­se­quen­zen“ anmah­nen wol­len, des­wei­te­ren wer­den Signal­vo­ka­beln wie „Iden­ti­tät“, „Volk“, „das Frem­de“, „das Natio­na­le“ etc. ein­ge­streut und schließ­lich will Lethen sei­ne Leser davon über­zeu­gen, daß die behan­del­ten his­to­ri­schen Figu­ren tat­säch­lich tot sind und uns kaum noch etwas zu sagen haben.

Ins­be­son­de­re an Schmitt läßt er kein gutes Haar, ihn will er mora­lisch-mensch­lich und sach­lich-the­ma­tisch beer­di­gen und er nutzt dazu auch einen klei­nen Trick: Er kate­go­ri­siert die Prot­ago­nis­ten nach den Kon­sti­tu­ti­ons­ty­pen Kret­schmers: Lep­to­som, Pykni­ker, Ath­let. Sie sol­len kei­ne Köp­fe, kei­ne Geis­ter mehr sein, son­dern lächer­li­che Kör­per, die längst schon unter der Erde verrotten.

Bei allem Furor ent­geht dem Autor die Dia­lek­tik der Situa­ti­on, daß man­cher Vor­wurf – sofern man den hohen real­his­to­ri­schen Ein­satz zu rela­ti­vie­ren bereit ist – heu­te auf die mora­lis­ti­sche Lin­ke zurück­fällt. Etwa wenn „Rei­ni­gun­gen“ Ähn­lich­kei­ten zur Poli­ti­schen Kor­rekt­heit auf­zei­gen. Das Tota­li­tä­re, das der Text zu bekämp­fen sich anschickt, ist tief in ihm versenkt.

Daß das Genie auf der fal­schen Sei­te der Lethe ste­hen kann – man könn­te hier ein paar iro­ni­sche Medi­ta­tio­nen über den Namens­ge­gen­satz des unglei­chen Paa­res anfü­gen –, das will Lethen nicht akzep­tie­ren, das scheint ihm ein unbe­greif­li­cher Insult zu sein.

„Wie ist der Riß im men­ta­len Kör­per des Natio­nal­kon­ser­va­ti­ven zu erklä­ren?“ Aber wäh­rend sei­ne frü­he­ren Arbei­ten von einem ange­neh­men Pathos der Vor­nehm­heit und der Distanz und also auch Empa­thie getra­gen waren, scheint letz­te­re nun auf­ge­braucht. Das läßt sich nur durch eine gewis­se Panik erklä­ren, die in der lin­ken Intel­li­genz Ein­zug hält. Aus dem sub­ti­len Rech­ten­ver­ste­her, der mit Demut und Wär­me Käl­te wahr­nahm, ist selbst eine „kal­te per­so­na“ geworden.

Intel­lek­tu­el­le wie Lethen wer­den von einer Fra­ge getrie­ben und einer Sor­ge gezo­gen, und bei­des prägt das Lebens­werk. „Wie konn­te das pas­sie­ren?“ und: „Kann es wie­der pas­sie­ren?“ Letz­te­res beja­hen sie ent­ge­gen aller sozio­lo­gi­schen und gesell­schafts­ana­ly­ti­schen Evi­denz, die in der mate­ria­lis­ti­schen und mar­xis­ti­schen Spiel­art – wo das gesell­schaft­li­che Bewußt­sein vom gesell­schaft­li­chen Sein domi­niert wird – ganz beson­ders die Unmög­lich­keit der Wie­der­ho­lung unter gege­be­nen Umstän­den nach­wei­sen müß­te. Sie agie­ren angst­ge­trie­ben. Die­se Phi­lo­so­phen haben die Welt nur ver­schie­den angst­be­setzt, es kömmt dar­auf an, sie davon zu befreien.

Aber dar­in liegt der tiefs­te Wert die­ses gehalt­vol­len Buches! Es ermög­licht uns, eine gan­ze Gene­ra­ti­on zu ver­ste­hen. In Lethens Ges­te, auf her­me­ti­sche Sprach­spie­le zu ver­zich­ten und die urei­ge­nen Tex­te der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on zu pro­ble­ma­ti­sie­ren, liegt ein stil­les Gesprächs­an­ge­bot, das man unbe­dingt anneh­men sollte.

„Bücher sind nur dicke­re Brie­fe an Freun­de“, hat­te Jean Paul gesagt. In Schmitts Nach­fol­ge muß man die­sen Gedan­ken nun umfor­mu­lie­ren: Sie kön­nen auch dicke­re Brie­fe an Fein­de und Fein­din sein.

– – –

Hemuth Lethen: Die Staats­rä­te. Eli­te im Drit­ten Reich. Furtwäng­ler, Gründ­gens, Sau­er­bruch, Schmitt – hier bestel­len.

Des­wei­te­re soeben erschie­nen: Natio­nal­ma­so­chis­mus (Hrsg. von Mar­tin Licht­mesz und Micha­el Ley), dar­in von Caro­li­ne Som­mer­feld eine aus­führ­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit der Sicht­wei­se ihres Ehe­manns: “Dia­lo­ge mit H.” – hier bestel­len.

Und natür­lich von Mar­tin Licht­mesz und Caro­li­ne Som­mer­feld: Mit Lin­ken lebenhier bestel­len.

 

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Kommentare (16)

nom de guerre

28. Februar 2018 12:40

Danke für diese erhellende Rezension, die mich letztlich davon abhält, das Buch zu kaufen. Eigentlich war ich neugierig darauf, nachdem es gestern in meinen Amazon-Empfehlungen auftauchte, aber wenn es tatsächlich so sein sollte, dass der Autor sich einer Art vereinfachtem Schriftdeutsch für Nicht-Linke, Nicht-Soziologen bedient (was ich dem unbekannten Verfasser dieser Besprechung jetzt einfach mal glaube), kann ich es nicht lesen, weil ich mich auf jeder einzelnen Seite darüber ärgern würde – mehr, als ich es über wie auch immer geartete Inhalte je könnte. Sehr schade!

heinrichbrueck

28. Februar 2018 12:57

Wirft man einen demographischen Blick auf die Geschichte, haben die 68er schon längst die größere Loserkarte gezogen. In jeder Hinsicht. Moralisch sowieso.
"Wie konnte das passieren?" Die zugelassene Moslemisierung. Frühsexualisierung. Traditionslosigkeit. Bindungsängste. Drogenkrankheiten. Gott- und Volkslosigkeit. Und die Liste kann fortgeführt werden...
Diese Generation wird mit der ganzen Macht der Geschichte, der Verachtung aller folgenden Generationen anheimfallen. Sie werden das Chaos und die Zerstörung, im versäumten Aufhalten des Niedergangs der europäischen Zivilisation, nicht ihren Vorgängern in die Schuhe schieben können.
Von den Machtvorstellungen der 68er wird man sich trennen müssen. Sie besaßen nie Autorität, waren immer ausführende Marionetten. Die Aufrechterhaltung der Niedergangsstrukturen war ihr Geschäft, auch wenn sie Demokratie und Menschenrechte propagierten. Sie verlieren nicht nur gegen ihre Traumata, sie verlieren auch gegen die Natur. Wohlstandsverwahrlosung im Denken, gepaart mit einer historischen Logik, die an Verkommenheit ihresgleichen sucht. Sogar das vermeintliche Gesprächsangebot wird zu einer verbrämten Abdankung. Wahrscheinlich ist der Rechtfertigungswunsch dieses epochalen Versagens ein letztes Aufbäumen, bevor eine neue Herrschaft die Macht in Händen hält. Sie werden nichts dagegen tun können.

Der Gehenkte

28. Februar 2018 15:06

@ nom de guerre

"einer Art vereinfachtem Schriftdeutsch für Nicht-Linke"

Vermutlich ist das nicht so gemeint gewesen, sondern eher ein Hinweis darauf, daß Lethen die üblichen linken Sprachspielchen hier vermeidet; "platt" meint hier "rein", "sauber" o.ä.

Ich lese es gerade: die Sprache ist anspruchsvoll ohne verklausuliert zu sein - es liest sich flüssig. Eher ist die Frage, ob sie das quasi-literarische Projekt entsprechend künstlerisch tragen kann. Dialogführung ist eine schwierige Sache. Für den pädagogischen Touch muß man schon sehr sensibel sein, finde ich. Ist nicht übertrieben didaktisch.

Solution

28. Februar 2018 17:48

Mich interessiert es nicht mehr, was die linken Verlierer so von sich geben. Am wenigsten interessiert mich, was sie über mich denken. Sollen sie hinter uns herhecheln.

Die Realität gibt uns recht. Wir stehen mit unseren Ansichten im Einklang mit den ewigen Gesetzen der Natur. Die Linken haben sich rettungslos in Utopia verrant. Schlimm nur, daß sie sich zunehmend in Gewalt flüchten. Gegen uns, versteht sich.

Warum also sich mit ihrer verunsicherten, wirren Nachhut beschäftigen?

Danke für die Rezension. Ein solches Buch erscheint auch mir als absolute Zeitverschwendung.

Stil-Bluete

28. Februar 2018 18:46

So wünscht man sich eine Rezension!

Zugleich hält sie mich aber auch beinahe davon ab, das Buch zu lesen. In jungen Jahren war Lethens Buch über die Kälte für mich ein Schlüsselerlebnis. Dass die Kälte (Distanz, Abstand) neben der Wärme (herzlich, lieb, gastfreundlich) ein gleichwertiges, ordnendes, unentbehrliches gesellschaftliches Maß (Distanz, Abstand) ist, erlöste mich aus der negativen Kühle der Mitteleuropäerund der Stallwärme der Familienbande.

Bei den Reisen in den Süden Europas hatte ich nicht nur Wärme erlebt, sondern eben auch, dass sie bei Konflikten urplötzlich in die 'Hitze des Gefechts', umschlagen kann (nichts anderes erleben wir heute mit den Flüchtlingen). Bestechend fand ich damals schon den flüssigen, eingängigen Stil.

Warum nun 'vereinfachtes Schriftdeutsch'? Diese Feststellung erinnert mich an die unsägliche Pädagogik. Sollten sich solche klugen Menschen wie Lethen da schon angepasst haben? Oder liegt hier ein Missverständnis vor?

Übrigens fand ich 'Verhaltenslehren der Kälte' überhaupt nicht 'links', sondern jenem Ort zugehörig, den Albert Camus als 'zwischen den Fronten' bezeichnet hat - die Mitte als ein Dazwischen, als einen Treffpunkt im Niemandsland.

Was mich außerdem vom Lesen des Buches (bisher!) abhält: Wer lässt sich schon gerne seine Ikonen nehmen, weniger Carl Schmitt, um so mehr Gustav Gründgens, Wilhelm Furtwängler. Ich möchte, nein muss, weiterhin meinen Augen (Gründgens) und meinen Ohren (Furtwängler) trauen dürfen, Und diese Sinnesorgane sagen mir, Staatsräte hin, Staatsräte her, sie waren und sind grandios, inclusive ihrer tragischen Irrtümer.

RMH

28. Februar 2018 20:47

"... weniger Carl Schmitt, um so mehr Gustav Gründgens, Wilhelm Furtwängler. Ich möchte, nein muss, weiterhin meinen Augen (Gründgens) und meinen Ohren (Furtwängler) trauen dürfen, Und diese Sinnesorgane sagen mir, Staatsräte hin, Staatsräte her, sie waren und sind grandios, inclusive ihrer tragischen Irrtümer."

@Stil-Bluete
Da passt Carl Schmitt schon mit hinein - vermutlich einer der, wenn nicht sogar "der" grandioseste juristische Schriftsteller. Nicht umsonst hat er eine sehr große, nicht-juristische Leserschaft, was die Sache nicht unbedingt einfacher macht. Und aus diesem Grund bin ich jetzt bei dieser Stelle der Rezession:

"Insbesondere an Schmitt läßt er kein gutes Haar, ihn will er moralisch-menschlich und sachlich-thematisch beerdigen und er nutzt dazu auch einen kleinen Trick: Er kategorisiert die Protagonisten nach den Konstitutionstypen Kretschmers: Leptosom, Pykniker, Athlet. Sie sollen keine Köpfe, keine Geister mehr sein, sondern lächerliche Körper, die längst schon unter der Erde verrotten."

Es nun wahrlich keine große Überraschung, dass sich einem bei Carl Schmitt schon bei der Lektüre wesentlicher Werke von ihm - ohne biografische oder geschichtliche Einordnungen dazu zu kennen oder zu berücksichtigen - der Eindruck einstellen kann, dass man es hier mit einem jener Charaktere zu tun hat, die als Kind auf dem Spielplatz zu jenen gehört haben, die, wenn es zum Streit unter Jungs kam, die Sache nicht mit den Fäusten geregelt haben, sondern die Spielanleitung hervorkramten oder Regeln ins Feld führten oder hilfsweise eben die anderen verpetzten.

Wenn man dann später liest, dass Schmitt zwar Kriegsfreiwilliger war, aber um einen Fronteinsatz ob seiner Fähigkeiten offenbar herum kommen konnte (und sich im Stab eben nützlich machte), dann erklärt sich einem noch mehr, warum auf ihn der Goethe zugeschriebene Satz "Vor die Wahl gestellt zwischen Unrecht und Unordnung, entscheidet sich der Deutsche für das Unrecht.“ irgendwie zu passen scheint. Vermeintlich einfaches Spiel also, zu versuchen, Schmitt von seiner vermeintlich "erkannten" Persönlichkeit her zu desavouieren. Allein: Keiner von uns kannte ihn persönlich, auch ein Herr Lethen nicht. Und sein Werk wird durch diese Analysen eben in keiner Weise geschmälert oder widerlegt - um Nichts und eigentlich weiß das auch jeder halbwegs redliche Intellektuelle. Alleine das solche "Tricks" gespielt werden, lässt mich das Interesse an dem Buch verlieren, auch wenn ich die geschilderte Idee im "halbfiktionalen" Mittelteil die Personen in Gespräche zu verwickeln, sehr spannend finde (evtl. lese ich deshalb das Buch doch). Wer hat solche fiktionalen und doch sehr viel Inhalt transportierende Gespräche, wie sie bspw. auch zwischen Settembrini und Naphta in Manns "Zauberberg" stattfanden, nicht ernsthaft genossen? Wen hat diese Art der Literatur nicht nachhaltig "gebildet"? Ich bin gespannt ...

Waldgaenger aus Schwaben

1. März 2018 07:12

"Helmut Lethen ist Monothematiker oder – positiv gewendet – Modifikationist. Seit 25 Jahren schreibt er dasselbe Buch in Variationen, ist er von einem Thema besessen und durchdenkt immer wieder die gleichen Autoren. "

Im Radio hörte ich mal eine Reportage über eine Ausstellung von Kunstwerken von Patienten aus psychiatrischen Kliniken. Teilweise sollen recht gute Sachen dabei gewesen sein. Ein Direktor einer Klinik wurde gefragt, worin sich nun denn die Patienten von "normalen" Künstlern unterschieden.

Er sagte, dass die künstlerisch tätigen Patienten sich oft (oder immer?) jahrzehntelang mit demselben Motiv beschäftigten. Ein Insasse seiner Klinik zeichne seit Jahren immer nur halbvolle Wassergläser und hätte es darin zu einer gewissen Meisterschaft gebracht.
Möglicherweise beruht die Fixierungen vieler Linker auf die 12 Jahre auf ähnlichen Prozessen.

Das Frau Sommerfeld mit dem Autor verheiratet sein soll, hielt ich zuerst für Satire, aber es scheint zu stimmen. Ihr Buch kommt auf meine Bestellliste. Wie man mit so einem Berufs-Linken zusammen leben kann, erscheint interessant.
Ich habe auch Linke in meinem Umfeld, aber die sind gemässigt und wir vermeinen halt kritischen Themen.

cubist

1. März 2018 10:02

@Waldgaenger aus Schwaben: Ihr Vergleich mit Psychiatriepatienten ist etwas ... nun ja, unredlich. Jeder Meister seines Fachs, sei es nun ein Sushi-Meister aus Japan, ein Ofenbauer aus Tirol oder ein Literaturwissenschaftler wie Lethen, muss sich sein Leben lang mit einigen wenigen Themen (nicht Motiven) beschäftigen, um es darin zur Meisterschaft zu bringen. Ja, Besessenheit gehört gewiss dazu und mitunter mag die Grenze zur Monomanie etwas durchlässiger sein als bei normalen oder etwas weniger begabten Menschen -- aber wahnhaft ist das, erst recht bei Lethen, der sicher kein "Berufs-Linker" ist (wie eine Claudia Roth), gewiss nicht. Zum Einstieg in sein wenig wahnhaftes Leben & Werk empfehle ich immer sein schönes Büchlein "Suche nach dem Handorakel." Dann die "Verhaltenslehren", die ich im Studium auch als alles andere als links rezipiert habe. Und die mich, zumindest in der Rückschau würde ich das sagen, langfristig auf einen Lektürepfad gebracht haben, der irgendwann zum Abo der "Sezession" führte.

Im übrigen finde ich es immer ein wenig billig, wenn, egal welche politische Seite dies tut, der politische Gegner mit Vergleichen aus dem Bereich des Pathologischen belegt wird. Die "Fixierung [...] auf die 12 Jahre" kann man im Übrigen auch als Rechter leicht nachvollziehen, wenn man sieht, dass es eben einer der erregendsten, spannendsten, vielleicht auch tragischsten, aber sicherlich destruktiv-dynamischsten Zeiten in der der deutschen Geschichte war.

Zuletzt: Lethen ist doch immerhin ein linker "Gegner", der noch intellektuell satisfaktionsfähig ist. Was man leider nicht über jeden sagen kann, der sich rechts nennt (ich beziehe mich da nicht auf ihr Kommentar, dies nur nebenbei ...). Ich jedenfalls habe das Buch auf meiner Leseliste.

Der Gehenkte

1. März 2018 11:28

@ cubist @ Waldgänger

Ihre Kritik an der Monothematik-Satire des @ Waldgängers ist natürlich berechtigt - aber originell ist das Bild von "einer gewissen Meisterschaft" im Malen halbvoller Wassergläser trotzdem.

Ich möchte in diesem Zusammenhang aber eine andere Frage in die Runde werfen: Lethen ist Literaturprofessor. Per Berufsdefinition produziert diese Menschenkategorie Tonnen an beschriebenem Papier. Die meisten sind Spezialisten für etwas: Schiller, Celan, Gryphius ... Steffen Dietzsch z.B. (SiN-Autor) ist Experte für Johannes Wezel, den kaum noch jemand kennt. Er hat darüber publiziert - gut versteckt in den Wezel-Jahrbüchern (ja, die gibt es!). So funktioniert das in der Regel.

Wie kommt es also, daß ein Spezialistenbuch eines emeritierten Literaturprofessors, mit doch nur eingeschränktem Interessentenkreis, plötzlich in allen großen Gazetten extensiv besprochen wird (Zeit, FAZ, SZ, TZ, TAZ, DLF ...). Die SiN kann ihr Interesse ja immerhin noch biographisch legitimieren.

Die Frage beinhaltet also auch die Teilfrage: Hat dieses Buch tatsächlich nationale Bedeutung oder wäre es nicht besser in einem Fachverlag in 500 Ex. erschienen? Wo liegt also der Streßwert dieses Fachbuches? Da muß es mehr geben als Frau Sommerfeld.

Hilfreich könnte es sein, diese kleine Liste zu meditieren:

https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistische_Partei_Deutschlands_(Aufbauorganisation)#Ehemalige_Mitglieder_bzw._Mitglieder_von_B%C3%BCndnisorganisationen

https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistische_Partei_Deutschlands_(Aufbauorganisation)

heinrichbrueck

1. März 2018 12:21

Im Hinblick auf demokratische Satisfaktionstauglichkeit wird an welcher Stelle entschieden?
Was zum demokratischen Kampf unabdingbar gehört, wenn am Ende weniger Deutsche am Leben sind.
Manche wollen ein Hauen und Stechen im Parlament sehen. Also eine gute demokratische Show. Hauptsache nicht langweilig, denn damit wird Demokratie assoziiert, schließlich soll das bessere Argument gewinnen.
Und wer trifft die Entscheidungen? Wer setzt die getroffenen Entscheidungen in die Tat um? Wer soll in diesem Zusammenhang den Bevölkerungsaustausch rückgängig machen? In demokratischer Naivität können diese Fragen dann nicht mehr beantwortet werden.
Die Rollenverteilung trägt maßgeblich zur Verschleierung der Sachverhalte bei. Die Unterstützung der anvisierten Ziele widersprechen sich zwar; wie überhaupt das ganze System an Widerlichkeit nicht zu überbieten ist. Es trägt dazu bei, dem übergroßen Teil des Volkes ein Falschverhalten aufzuzwingen, Unverständnis über ein gegen die eigenen Interessen gerichtetes Verhalten geäußert wird, anstatt die Systemfrage zu stellen. In einer solchen Lage wird immer das System dem Volk vorgezogen. An der eigenen demokratischen Gesinnung darf nicht gerüttelt werden, auch wenn der Bevölkerungsaustausch inzwischen für jeden sichtbar ist. Ein bißchen wie Selbstmord gegen nichtvorhandene Suizidgefährdung, weil sonst Ermordung unterstellt werden kann.
Nur die Demokraten glauben daran, daß in einer Demokratie gegenwärtigen Stils, die Politiker die Politik machen. Sie sind dazu gewählt, das Falschverhalten vorbildmäßig einzuspeisen, die Logik des Systems vorzugeben.
Wenn Demokraten streiten, wird es zum Ende hin immer widerlich. Und die Vorstellungen von Demokratie könnten falscher nicht sein, als sie es in einer Demokratie sind.
Die Gegenwartsbewältigung der 68er, perspektivisch weitergedacht, zeigt eine mißlungene Vergangenheitsbewältigung; und eine Machtfrage: Wer darf Macht ausüben?

Waldgaenger aus Schwaben

1. März 2018 12:28

@cubist
Über einen Autor, von dem man keine Zeile gelesen hat, so zu schreiben wie ich es tat, ist schon etwas unredlich.
Und es gibt natürlich hoch verdiente Spezialisten die sich ihr ganzes Leben nur mit einer Sache befassen.

Auf der anderen Seite mache ich im Alltag immer wieder die Erfahrung, dass ein irrationales Element durchschlägt, sobald es um die AfD geht und dass dann die 12 Jahre in's Spiel kommen. Das geht dann so:

Ich: "Die Bevölkerung Afrikas wächst um eine Million - in der Woche. Wenn wir es nicht schaffen, die Grenzen dicht zu kriegen, überrennen die uns. Wir können ja vor Ort helfen, aber aufnehmen das ist keine Lösung."

Enger Verwandter/Freund:
"Ja stimmt alles, aber wie sollen wir die Grenzen zu machen. Das halte ich für unmöglich. Die finden immer einen Weg nach Europa. Ich hoffe nur, dass meine Kinder dann mal auswandern können. "
Ich:
"In Australien geht es auch. Und die AfD hat ein paar gute Vorschläge. Die muss man nur wählen!"
Enger Verwandter/Freund:
"Afd! Das sind doch Nazis! Das hatten wir doch schon mal! Nein! Nie!"

Ich weiß nicht, wie eine gesellschaftliche Mehrheit zu erreichen ist, das Notwendige zu tun. Dialog mit diskursfähigen Linken wäre schon eine Möglichkeit. Die Bücher Sommerfeld/Lethen könnten vielleicht schon dazu beitragen. Aber am Ende kann da kein Kompromiss stehen wie 200 000 pro Jahr nehmen wir auf. Sondern nur radikales Zumachen der Grenzen.

Ich sehe wirklich schwarz und neige dazu wie "Enger Verwandter/Freund" zu sagen:
"Ich hoffe nur, dass meine Kinder dann mal auswandern können. "

cubist

1. März 2018 12:48

@Der Gehenkte Ich persönlich mag diese Ratespiele, URL-Schnitzeljagden etc. nicht. Aber sicherlich haben Sie recht - wenn Sie das meinen -, dass Lethen davon profitiert, dass er sich gut vernetzt in einem linken, k-gruppengestählten Schreiberlingsmilieu bewegt, in dem man sich von früher kennt und sich gegenseitig empfiehlt. Aber reicht das als Begründung, das seine Bücher aus den Tiefen der Fachwelt an die populare Oberfläche perlen? Klar, es trägt dazu bei, dass diese "Meinungsmacher" Lethen überhaupt lesen. Ob dann damit auch "nationale Bedeutung" außerhalb der (unserer) Feuilletonblase verbunden ist, wage ich so oder so zu bezweifeln (von nat. Bed. ist, ob die Bw einsatzbereit ist, nicht ob Lethen ein neues Buch schreibt).

Noch was: Was ist ein "Streßwert" bei einem Fachbuch?

Der Gehenkte

1. März 2018 14:32

@ Cubist

Die Liste selbst sagt gar nichts - sie zeigt eher die Unergründlichkeit der Wege der Herrn (und Damen), von Mahler bis Lethen, von Posener bis Safranski ... Trotzdem macht sie Netze sichtbar, die vielleicht sogar negativ wirken - aber wohl wirken.

Auf die Frage habe ich keine konzise Antwort. Sicher spielt die Thematik eine Rolle. Ob nun George, Benn, Schmitt, Jünger, Heidegger ... wer auf diesem Feld publiziert und nicht gänzlich am gängigen Meinungskorridor und Durchschnittspublikum vorbei schreibt (aber selbst dann: Mehring: Carl Schmitt), hat das (linke) Feuilleton sofort auf seiner Seite. Von dort wird uns dann in der Regel vorgegeigt, daß das alles alte Hüte und sowieso nur Nazis seien. Heidegger etwa wird seit 10 Jahren gar nicht mehr philosophisch diskutiert, sondern fast nur noch biographisch mit ebenjenem Ziel, ihn zu erledigen. (Man kann aber eine Karriere starten, indem man Heideggers "Antisemitismus" festnagelt; schwieriger wird es, wenn man über seine Parmenides-Interpretation schreibt.)

Das meiste davon bleibt innerakademisch und in Jahrbüchern begraben - warum aber die Ausreißer und meist immer die gleichen?

Streßwert meinte nach Sloterdijk Erregungspotential zur nationalen Diskussion und letztlich Gruppen-Formung. Wenn alle Leitmedien ein Buch besprechen, dann ist es bereits national bedeutsam geworden und: man gehört wozu, wenn man jetzt Lethen diskutiert.

Interessant wäre zu erfahren, ob man das in linken Kreisen überhaupt tut, ihn diskutieren, oder nicht einfach ins Regal stellt?

Cacatum non est pictum

1. März 2018 18:06

@Der Gehenkte

"Das meiste davon bleibt innerakademisch und in Jahrbüchern begraben - warum aber die Ausreißer und meist immer die gleichen?"

Es steht für mich außer Frage, daß ein Buch nur dann populär werden kann, wenn es von Agenten gefördert wird, die über Reichweite verfügen; soll heißen: Veröffentlichung in einem großen Verlag oder Bewerbung durch den Feuilleton (Sieferle!), meinetwegen auch Aufnahme in ein akademisches Zitierkartell. Ist ein Autor auf jene Weise namhaft geworden, dann hat er alle Möglichkeiten, von dem nun erklommenen Sockel aus weitere Werke lukrativ unters Volk zu bringen. Und solange er sich nicht an der political corectness versündigt und ergo vom Sockel gestoßen wird, kann er aus dieser Erwerbsquelle schöpfen. Über seine literarische und fachliche Güte ist damit nicht das mindeste gesagt.

Der beste Text wird im Moor des intellektuellen Niemandslandes versumpfen, wenn er die obengenannten Kriterien nicht erfüllt. Ausnahmen bestätigen die Regel. Daran hat meines Erachtens auch das Internet bislang nichts zu ändern vermocht.

links ist wo der daumen rechts ist

6. März 2018 16:16

Naja, zu Lethen ließe sich – in aller Knappheit – doch noch einiges sagen.

Die frühe Phase: Gekennzeichnet durch Lethens Mitarbeit an der Zeitschrift „Alternative“ (mit einem prominenten Leser seiner Benjamin-Kritik), seine Dissertation „Neue Sachlichkeit 1924 – 1932. Studien zur Literatur des ‚Weißen Sozialismus’“ (1970) und die K-Gruppen-Zeit und Mitarbeit im Oberbaum-Verlag in den 70ern; alles ausführlich und relativ abgeklärt geschildert in dem autobiographischen Bändchen „Auf der Suche nach dem Handorakel“ (2012). Untertitel hätte auch lauten können: Wie ich vermied, Renegat zu werden und freiwillig Grenzgänger wurde.
Fazit der politischen Arbeit der 70er: Die relative Ohnmacht der K-Gruppen nach außen wurde durch Machtspielchen nach innen (Abweichlertum…) kompensiert, zudem stand man unter ständiger Ägide des VS. Lethens bildhafter Eindruck: man war Teil eines – frei nach Oskar Schlemmer – mechanischen Balletts; das Parallelogramm der Kräfte bedeutete Stabilisierung der Republik. Handlungsanleitung wurde zu Handlungslähmung, zweite Auflage.
Die verstreuten Texte aus dieser Zeit sind schwer greifbar und unterscheiden sich im Stil wesentlich von den späteren Arbeiten, mit einer Ausnahme: dem Hang zu einer gewissen Doppeldeutigkeit („Helmut, nur einen Gedanken pro Satz!“, hieß es in der Redaktion der „Argumente“).

Als Lethen Deutschland Ende der 70er Richtung Holland verließ, waren zwei Publikationen wesentlich:
1. Helmut Lethen/Hans-Thies Lehmann: Bertolt Brechts "Hauspostille". 1978 (hervorgegangen aus einem Seminar mit Lehmann und Genia Schulz – im „Handorakel" erläutert).
2. Helmut Lethen/Heinz Dieter Kittsteiner: Jetzt zieht Leutnant Jünger seinen Mantel aus. Überlegungen zur "Ästhetik des Schreckens". Berliner Hefte 1979, Heft 11.
Und zwischen diesen beiden Polen - exemplarisch an Brecht und Jünger (via Karl Heinz Bohrer) dargestellt - sollte sich Lethens Arbeit der nächsten Jahrzehnte bewegen. Späte Frucht: der Aufsatzband "Unheimliche Nachbarschaften" (2009).
Lethen nennt im „Handorakel“ Lehmann und Kittsteiner übrigens seine zwei wichtigsten Lehrer.

In den 80ern kam es zu einem Kehraus mit Adorno (die Kritik an dessen „Kippfiguren“ wurde in den „Staatsräten“ Furtwängler in den Mund gelegt) und damit verbunden zu einer - auch von Lethen mitverursachten - erstaunlichen Wiederentdeckung der Schriften Helmuth Plessners. Allgemeiner Tenor (von links!): wieder einmal Abkehr vom handlungshemmenden Jargon der Frankfurter Schule und zugleich vom Betroffenheits- und Unmittelbarkeitsgeschreibe des vergangenen Jahrzehnts. Cora Stephan galt als typische Vertreterin dieser kämpferischen Richtung. In Folge wurden dann auch Soziologen wie Sennett, Trilling, Lasch, Riesman stärker rezipiert.
Für Lethen erfuhr damit das Thema seiner Dissertation eine argumentative Zuspitzung. Aber erst die zufällige Entdeckung, welchen Einfluß Gracians "Handorakel" auf die Denker der Zwischenkriegszeit über alle ideologischen Grenzen hinweg (auch hier: Brecht und Jünger) hatte, führte zu dem Werk, das zurecht als Klassiker gilt: "Die Verhaltenslehren der Kälte". Und damit war Lethens Ruf als Grenzgänger (Eigendefinition) etabliert.
In dieser Zeit hatte er auch „mit Erschrecken“ feststellen müssen, dass der prominente Leser seiner Benjamin-Kritik in den „Argumenten“ damals niemand geringerer war als Carl Schmitt.
Sein Benn-Buch (2006) und die erwähnten „Unheimlichen Nachbarschaften“ bildeten den Abschluß eines fast 30jährigen Werkkomplexes.

Das auf den ersten Bick etwas aus dem Rahmen fallende Buch „Der Schatten des Fotografen“ (für das er den Preis der Leipziger Buchmesse Sparte Sachbuch 2014 erhielt) hatte allerdings eine zentrale Frage zugespitzt: wie steht es um den ontologischen Rang von Dokumenten im Wechselspiel von „Original“ und Deutung?
Das mag ein Mitgrund gewesen sein, im aktuellen Buch den Versuch einer Doku-Fiktion gewagt zu haben.

Relativ konstant blieben neben seinen „Lebensthemen“ im wesentlichen drei etwas verborgene Aspekte, die stichwortartig lauten: Handlungsanleitung – Ruderalfläche – Kreatur. Anders formuliert: wie reagiert der Einzelne/Vereinzelte in einer Katastrophenlandschaft als ohnmächtiges Objekt der Geschichte. Welche Spielräume bleiben, wenn die Handlungsanleitung zur –lähmung wird, die Überlebenslandschaft einem Gefängnis (oder Sperrkreis) gleicht, und das heroische Subjekt der Geschichte verabschiedet ist.
Die Antwort gibt er im Epilog der „Staatsräte“ und die lautet nicht: Moral.

Es gäbe noch viel zu sagen, daher abschließend ein Geheimtipp:
Über den „wahren“ Lethen erfährt man am ehesten etwas in seinem Essay über Siegfried Kracauer („Sichtbarkeit. Kracauers Liebeslehre“), nicht nur, wenn’s um „Altersstoizismus“ geht.

Der Gehenkte

6. März 2018 20:19

@ links ist wo der daumen rechts ist

Ihren Klarnamen hätte ich gern gewußt! So bleibt nur der Verdacht ...