Das Zeitsujet, die Jahre des Nationalsozialismus und ihre Verwindung, gehören seit je zum engeren Aufmerksamkeitsspektrum. Carl Schmitt, Ernst Jünger oder Gottfried Benn zählen zum spezifischen Kanon, aber es kommt nun ein dritter wesentlicher Punkt hinzu:
Lethen, Jahrgang 39, 68er, emeritierter Professor, Literaturwissenschaftler, einst in KPD-Kreisen aktiv und noch immer bekennender Linker, ist mit Caroline Sommerfeld verheiratet, die seit anderthalb Jahren einen kometenhaften Aufstieg im Sezession- und Antaios-Milieu feierte. Das führte zu Verunsicherungen, hüben wie drüben.
Tatsächlich geht der letzte Dank in Lethens Buch an seine Frau: „Auseinandersetzungen mit Caroline Sommerfeld setzten das Buch unter Strom“. Aber wie?
Helmut Lethen ist Monothematiker oder – positiv gewendet – Modifikationist. Seit 25 Jahren schreibt er dasselbe Buch in Variationen, ist er von einem Thema besessen und durchdenkt immer wieder die gleichen Autoren.
Das hat Vor- und Nachteile. Man kann Kennerschaft voraussetzen. Entwicklungen im Denken und Schreiben werden exemplarisch sichtbar. Andererseits verstecken sich hinter den meisten Fällen von thematischer Besessenheit individuelle Kränkungen oder Ängste – Lethen war immerhin so frei und offen, uns in seiner autobiographischen Schrift, dem Handorakel (2012), Einblick in das gemeinhin Verheimlichte zu gewähren.
Fortschritt in der Monothematik muß allerdings meist mit Radikalisierung erkauft werden, denn das Neue im Alten braucht die Sensation, sofern man nicht den Weg in die akademische kapillare Verästelung und damit die langweilige Versandung des Gegenstands geht.
Lethens Lebensthema ist: Wie fühlt es sich an, in anderen Zeiten zu leben, speziell in der Zeit zwischen den großen Kriegen der weißen Männer. Und wie gerät man hinein in gewisse Rollen, für die man sich im Nachhinein zu rechtfertigen hat. Hier dürfte – wenn man die links-rechts-Verdrehung wahrnimmt – auch Lethens persönliches Problem liegen.
Er exemplifiziert es an der Geschichte der „Staatsräte“ Carl Schmitt, Gustav Gründgens, Wilhelm Furtwängler und Ferdinand Sauerbruch. Die Institution des Preußischen Staatsrates wurde 1933 seiner historischen Kontinuität beraubt und ihr unter Görings Führung eine mehrfache „symbolische Funktion“ übergestülpt. Sie sollte nach außen den „Erhalt eines preußischen Staatsgedankens“ und „Staatsnormalität“ simulieren, führende Vertreter der künstlerischen und intellektuellen Elite an die Macht binden und diente zugleich als Schutzschild unter Görings besonderer Aufmerksamkeit gegen zu erwartende Anfeindungen – was einigen Staatsräten später wohl das Leben gerettet hat. Mit diesen Konstellationen macht uns der Autor im ersten Abschnitt bekannt.
Der Clou seines Buches besteht jedoch im halbfiktionalen Mittelteil. Dort läßt er in „Geistergesprächen“ – eine literarische Gattung in lukianischer, also ironisch-zynischer Linie; per se eine heikle Angelegenheit – die vier Protagonisten in verschiedenen historischen Phasen der 12 Jahre aufeinander treffen und jeweils fachspezifische, aber philosophisch aufgeladene, mit zahlreichen Originalaussagen versehene Gespräche führen, die gedankenprall, beobachtungsreich und manchmal tatsächlich auch humorvoll um die Fragen des Mitläufertums, der Verantwortung und der Scham kreisen.
Das zumindest sind die Matrizen, die unter den thematischen Abenden über den „Schein“, über „Prothesen“, den „Schmerz“, den „Feind“, die „Gemeinschaft“ und die „Entscheidung“ liegen. Mit der verengten Fachoptik, dem musikalischen Gehör, dem theatralischen Talent, der chirurgischen Schärfe, der philosophischen Eristik und einer leider sehr einseitigen Boshaftigkeit und Zänkigkeit, werden die Absurditäten der jeweiligen anderen Perspektive aufgedeckt.
Schon am Vokabular merkt man, daß Lethen sich ganz besonders Carl Schmitt vorknöpft – ihm gebührt der Großteil der Aufmerksamkeit. Das erklärt sich recht einfach. Schmitt ist nicht nur die intellektuell komplexeste und bedeutendste Figur, deren Werke noch immer weitflächig rezipiert werden, er dient auch als Signalflagge nach rechts. Denn Lethen imaginiert sich ein neues Lesepublikum. Bisher schielte der Autor immer nach links – das ist bei seinem Klassiker Verhaltenslehren der Kälte (1994), aber auch in seinem Benn-Buch Der Sound der Väter unübersehbar. Diesmal aber will er den Rechten was erzählen.
Dafür ändert er sogar seine Sprache. Aus den verschwörungs-theoretischen Morsesignalen, mit denen sich Gleichgesinnte noch bis zur Jahrtausendwende aus der Ferne heimlich zuwinken und ‑zwinkern konnten, der hermetischen Soziologensprache, für die Habermas und Theweleit die blue prints schrieben, wird seltsam eingängigeses Deutsch, von dem der Verfasser offenbar annimmt, daß es auch von erweitertem Publikum verstanden werden kann.
Das ist jetzt also seine neue Zielgruppe, ihnen, den Rechten, hat er was ins Stammbuch zu schreiben. Wenn sich die alten Genossen dennoch zuwinken, dann nur noch in dieser hämischen Geste. Die Gängelung führt beim andersdenkenden Leser freilich auch zu Aversionen.
Die Botschaft nach rechts ist folgende: Zum einen werden Parallelisierungen geschaffen, die historisches mit jetztzeitigem Geschehen kurzschließen, also „ernste Konsequenzen“ anmahnen wollen, desweiteren werden Signalvokabeln wie „Identität“, „Volk“, „das Fremde“, „das Nationale“ etc. eingestreut und schließlich will Lethen seine Leser davon überzeugen, daß die behandelten historischen Figuren tatsächlich tot sind und uns kaum noch etwas zu sagen haben.
Insbesondere an Schmitt läßt er kein gutes Haar, ihn will er moralisch-menschlich und sachlich-thematisch beerdigen und er nutzt dazu auch einen kleinen Trick: Er kategorisiert die Protagonisten nach den Konstitutionstypen Kretschmers: Leptosom, Pykniker, Athlet. Sie sollen keine Köpfe, keine Geister mehr sein, sondern lächerliche Körper, die längst schon unter der Erde verrotten.
Bei allem Furor entgeht dem Autor die Dialektik der Situation, daß mancher Vorwurf – sofern man den hohen realhistorischen Einsatz zu relativieren bereit ist – heute auf die moralistische Linke zurückfällt. Etwa wenn „Reinigungen“ Ähnlichkeiten zur Politischen Korrektheit aufzeigen. Das Totalitäre, das der Text zu bekämpfen sich anschickt, ist tief in ihm versenkt.
Daß das Genie auf der falschen Seite der Lethe stehen kann – man könnte hier ein paar ironische Meditationen über den Namensgegensatz des ungleichen Paares anfügen –, das will Lethen nicht akzeptieren, das scheint ihm ein unbegreiflicher Insult zu sein.
„Wie ist der Riß im mentalen Körper des Nationalkonservativen zu erklären?“ Aber während seine früheren Arbeiten von einem angenehmen Pathos der Vornehmheit und der Distanz und also auch Empathie getragen waren, scheint letztere nun aufgebraucht. Das läßt sich nur durch eine gewisse Panik erklären, die in der linken Intelligenz Einzug hält. Aus dem subtilen Rechtenversteher, der mit Demut und Wärme Kälte wahrnahm, ist selbst eine „kalte persona“ geworden.
Intellektuelle wie Lethen werden von einer Frage getrieben und einer Sorge gezogen, und beides prägt das Lebenswerk. „Wie konnte das passieren?“ und: „Kann es wieder passieren?“ Letzteres bejahen sie entgegen aller soziologischen und gesellschaftsanalytischen Evidenz, die in der materialistischen und marxistischen Spielart – wo das gesellschaftliche Bewußtsein vom gesellschaftlichen Sein dominiert wird – ganz besonders die Unmöglichkeit der Wiederholung unter gegebenen Umständen nachweisen müßte. Sie agieren angstgetrieben. Diese Philosophen haben die Welt nur verschieden angstbesetzt, es kömmt darauf an, sie davon zu befreien.
Aber darin liegt der tiefste Wert dieses gehaltvollen Buches! Es ermöglicht uns, eine ganze Generation zu verstehen. In Lethens Geste, auf hermetische Sprachspiele zu verzichten und die ureigenen Texte der Konservativen Revolution zu problematisieren, liegt ein stilles Gesprächsangebot, das man unbedingt annehmen sollte.
„Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde“, hatte Jean Paul gesagt. In Schmitts Nachfolge muß man diesen Gedanken nun umformulieren: Sie können auch dickere Briefe an Feinde und Feindin sein.
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Hemuth Lethen: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich. Furtwängler, Gründgens, Sauerbruch, Schmitt – hier bestellen.
Desweitere soeben erschienen: Nationalmasochismus (Hrsg. von Martin Lichtmesz und Michael Ley), darin von Caroline Sommerfeld eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Sichtweise ihres Ehemanns: “Dialoge mit H.” – hier bestellen.
Und natürlich von Martin Lichtmesz und Caroline Sommerfeld: Mit Linken leben – hier bestellen.
nom de guerre
Danke für diese erhellende Rezension, die mich letztlich davon abhält, das Buch zu kaufen. Eigentlich war ich neugierig darauf, nachdem es gestern in meinen Amazon-Empfehlungen auftauchte, aber wenn es tatsächlich so sein sollte, dass der Autor sich einer Art vereinfachtem Schriftdeutsch für Nicht-Linke, Nicht-Soziologen bedient (was ich dem unbekannten Verfasser dieser Besprechung jetzt einfach mal glaube), kann ich es nicht lesen, weil ich mich auf jeder einzelnen Seite darüber ärgern würde – mehr, als ich es über wie auch immer geartete Inhalte je könnte. Sehr schade!