Wirtschaftswachstum, so die allgemeine Überzeugung, ist ein Muss. Stagnation bedeutet nach dieser Denkungsart schon Rückschritt. Nur das ständige Mehr garantiert den Wohlstand. Es fehlt zwar seit jeher nicht an Mahnern, die auf die Endlichkeit natürlicher Ressourcen und daraus resultierende Wachstumsgrenzen verweisen. Doch dem Wachstumswahn tut das keinen Abbruch – die Verkennung der Realität zeichnet ihn ja gerade als Wahn aus.
Hier geht es mir nicht nur um den Wachstumswahn der Unternehmen. Jedem hier sollte sehr bewusst sein, daß auch jeder Einzelne, sei er nun unternehmerisch tätig oder nicht, ständig mehr und ständig Besseres will: Wer ein Einzimmerapartment bewohnt, strebt in der Regel nach der Zwei- oder Dreizimmerwohnung. Wer die bewohnt, möchte wahrscheinlich bald eine Doppelhaushälfte beziehen. Und so weiter und so fort – übertragbar auf alle Lebensverhältnisse. Wo es nicht ums Wohnen geht, geht es um Urlaubsreisen, das Auto, den Vermögenszuwachs, das unterhaltungselektronische Equipment, den Freizeitsport (kaum allerdings um Bildung – hier ist der Drang nach Ausweitung seltsamerweise nur begrenzt spürbar).
Nun mag man an dieser Stelle einwenden, daß nun einmal alles Leben nach dem Mehr und der Ausweitung strebe – und hätte dieser Drang uns nicht seither beseelt, würden wir unser karges Getreide noch immer mit der Feuersteinsichel ernten und wären in langen Wintern zähneklappernd Hungersnöten ausgesetzt. Dem ließe sich entgegen, daß ein begrenztes Wachstum und auch ein gewisses Fortschreiten in Richtung Absicherung der Existenz durchaus in Ordnung ist – das komplett entgrenzte, globalisierte Wachstum unserer Tage aber entfesselt eine kaum noch beherrschbare Dynamik und ist deshalb nicht in Ordnung. Entgrenzt – weil diese Art von Wachstum keinen Halt und kein Ende kennt: der Luxus von gestern ist das Allgemeingut von heute, was heute gut genug für alle war, gilt morgen vielen schon als Zumutung. Entgrenzt – weil wir inzwischen soweit sind, daß Grenzen zwischen Ländern und Kulturen nur noch als wachstumsgefährdende Handelshemmnisse wahrgenommen und deshalb beseitigt werden. Entgrenzt – weil wir in unserem Streben nach dem Mehr gar nicht mehr auf die Folgen unseres Handelns achten, wir missachten jedes Maß. Entgrenzt auch, weil das Wachstumsstreben inzwischen zumindest der Theorie nach auch den Ausgriff auf ferne Welten umfasst und das bislang erdgebundene Menschenwesen sich außerhalb seiner bisherigen Hegung und Eingrenzung neu definiert und dabei alle Erdung verliert.
Botho Strauss hat 1993 den Begriff „Anspruchsunverschämtheit“ geprägt. Er bezieht ihn auf seine deformierten, vergnügungslärmenden Landsleute, die den Hals nicht voll kriegen können und dabei ihre Würde verlieren. Heute, ein Vierteljahrhundert später, müsste der Befund weitaus drastischer ausfallen. Der vergnügungslärmende Landsmann ist inzwischen im Endstadium seines wohlstandsverursachten Konsumdeliriums angelangt. Ist nicht allein der Begriff des Verbrauchers schon verräterisch? Der Verbraucher schafft nichts, er vermehrt nichts, er verbraucht nur. Stumpf, hirnlos, automatisch – wie ein Teil einer komplexen Konsummechanik, innerhalb deren er eine konkrete Funktion erfüllt: nämlich den Verzehr, um die Bahn freizumachen für Neues. Die dabei massenhaft produzierten Ausscheidungen taugen nicht einmal als Dünger, sondern sind Müll (teils immerhin recyclebar).
Schaut man sich die explosionsartige Vermehrung des Versandhandels an, so wird man auch hierin unschwer ein Wachstumsphänomen erkennen. Folge sind verstopfte Verkehrswege, erhöhte Emissionen, sterbende Innenstädte, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse bei den Logistikunternehmen und chronischer Bewegungsmangel bei den rund um die Uhr Belieferten. Es wächst immer auch die Kehrseite, der Schattenbereich. An diesem Beispiel kann man das schön studieren – während der Onlinehandel wächst und wächst, leiden Umwelt und soziales Gefüge, Volksgesundheit und Infrastruktur. Wer Wachstum um jeden Preis will, wird irgendwann insolvent sein.
Doch wenn man nun einmal gelten lässt, daß das Streben nach Wachstum einerseits eine anthropologische Grundkonstante und damit unvermeidbar ist, andererseits von dieser aber große Gefahren für das Menschenwesen selbst ausgehen, würde sich die Frage stellen, wie man sich denn vernünftigerweise zum Wachstum verhalten sollte. Hilft die gute alte konservative Tugend der Bescheidenheit? Das wäre ein Anfang, immerhin. Doch es sollte nicht das letzte Wort sein.
Man spricht gern vom gesunden Wachstum. Damit meint man für gewöhnlich aber leider nicht eine spezielle, eben gesunde Form des Wachstums, sondern will sagen: Wachstum als solches ist gesund, alles andere ist krank. Doch wachsen nicht auch Tumore? Wie also könnte denn eine gesunde und dann wohl spezielle Form des Wachstums aussehen? Wäre es ein bloß begrenztes Wachstum? Wer würde die Grenzen festlegen dürfen? Und wäre es ansonsten qualitativ gleich, nur eben quantitativ beschränkt? Man müsste wohl in der Tat über die Qualität des Wachstums nachdenken. Nicht die Zahlen müssen wachsen, nicht die Umsätze, nicht der Ausstoß der Fabriken, nicht die Mengen und Margen. Wachstum ist als Metapher ursprünglich dem organischen Bereich entlehnt: Pflanzen wachsen. Ameisenhügel wachsen. Und genau hier müsste ein Begriff des gesunden Wirtschaftswachstums künftig verortet sein. Was aber ist organisches Wachstum?
Organisches Wachstum sehe ich überall dort, wo menschlichen Gemeinschaften sich ohne regulierende Eingriffe eines selbst nicht mehr orientierungsfähigen Staates neu fügen. Organisches Wachstum findet statt, wenn das Zusammenspiel der Komponenten des Miteinanders sich neu ordnet – und zwar nach eigenen Regeln, nicht nach von außen kommenden Vorgaben. Beispiel: Drei Nachbarn bauen in ihren Gärten unterschiedliche Sachen an – der eine ist auf Obst spezialisiert und hält Bienen, der andere auf Gemüse, der dritte hat Kartoffeln. Man beginnt zu tauschen, hilft sich gegenseitig bei der Ernte. Es bilden sich außerhalb der großen Wirtschaftskreisläufe und ihrer Anonymität feste, personengebundene Strukturen heraus, von denen alle profitieren. Vielleicht erweitert sich der Kreis noch um einen Teichwirt, einen Geflügelhalter und einen Waldbauern, der an alle Brennholz liefert und dafür mit allem versorgt wird, was die Gärten und Ställe der anderen hergeben. Das ist natürlich nur ein Modell, das in dieser Form auch nur im kleinen Maßstab oder nur behelfsweise funktioniert. Doch es ist gleichzeitig auch eine Art Kristallisationspunkt, um den herum Weiteres sich anlagern kann. Tauschgeschäfte aller Art umfassen auch Dienstleistungen wie Reparaturen, Fahrdienste, die Wartung von Kommunikationssystemen, Nachhilfe für die Kinder oder Haareschneiden. In dem Maß, in dem das Wachstum hier zunimmt, wird es in der großen Wirtschaft abnehmen. Das Wichtigste aber, was hier zum Wachsen gebracht wird, ist das Gefühl der Identität. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, in der jeder Einzelne eine wichtige tragende Rolle innehat und eben nicht das austauschbare Rädchen im Getriebe ist.
quarz
" ... daß Grenzen zwischen Ländern und Kulturen nur noch als wachstumsgefährdende Handelshemmnisse wahrgenommen und deshalb beseitigt werden."
Dabei haben Easterly und Levine bereits in ihrer klassischen Studie von 1997 (und andere nach ihnen) herausgearbeitet, dass die starke ethnische Fragmentierung vieler afrikanischer Staaten ein Hindernis für das Wirtschaftswachstum ist. Als schädlich hat sich also erwiesen, dass Grenzen gerade nicht zwischen Kulturen, sondern quer zu ihnen gezogen wurden.