Dieser Roman der 35jährigen Psychologin und Drehbuchautorin Ayelet Gundar-Goshen ist in seiner hebräischen Originalfassung 2017 erschienen, von dem hashtag #metoo konnte die Schriftstellerin nichts wissen. Aber: ein Buch zur Stunde! Lügnerin ist routiniert geschrieben, Gundar-Soshen versteht ihr Handwerk. Das Buch hat Tiefgang und pflegt dennoch einen so leichten Ton, eine so gefällige Dramaturgie, daß es ebensogut als Schmökerlektüre wie als Denkstück sich eignet.
Nuphar, die Protagonistin, ist siebzehn, leicht pickelig, mollig, ungeküßt, eher Außenseiterin; so könnte man wenigstens ihr (altersgerechtes) Selbstbild skizzieren. Dem objektiven Betrachter würde sie als nettes, eventuell sogar begehrenswertes Mädchen erscheinen. Nuphar hat einen Ferienjob in der Eisdiele. Eines Tages möchte der abgehalfterte Ex-Star Avi-shai Milner ein Eis kaufen. Nuphar hat gerade pausiert, und Milners Ego ist gerade angeschlagen. Weil er ein paar Minuten auf die Bedienung seiner Wünsche warten muß, geht es mit Milner, dem ollen Narzißten, durch. Er beleidigt Nuphar unflätig: »›Du bist häß-lich! Keiner interessiert sich für dich.‹ Und obwohl sie in Wirklichkeit ein recht ansehnliches Geschöpf war, bildete sie sich ein, der Kunde habe nur ausposaunt, was alle anderen im Stillen dachten.« Nuphar beginnt zu schreien, und »in ihrem Schrei lag die Kränkung, die sie sich selbst zugefügt hatte. Sie schrie und schrie und hörte nicht, dass die Martinshörner der alarmierten Polizei ihr antworteten: Ein Schakal heult, und hundert Schakale antworten ihm aus der Finsternis.« Im folgenden Tumult ist das Mädchen taub vor Schluchzen. »Hat er dich angefaßt?«, wird sie aus dutzenden Mündern gefragt. Ihr Zittern wird als »Ja« gedeutet und verweist »bereits auf eine Schlagzeile der Zeitung von morgen.«
Nuphar überläßt sich den üblichen Umarmungen, »und es scheint ihr, als wäre sie noch nie so gehalten worden.« Von Stund’ an erfährt sie immense Zuneigung, Mitleid und Interesse – es hagelt Einladungen zu Nachrichtensendungen und Talkshows. Nuphar ist keineswegs ein Fräulein ohne Gewissen – nur, wo wäre der Ausweg? Wie stünde sie da, wenn klar würde, daß sie mitnichten Opfer einer versuchten Vergewaltigung, sondern nur zufälliges Ziel einer Verbalattacke war? Nuphar blüht auf. Aus dem Mauerblümchen wird eine Rose mit Dornen. Nun hat ein etwa gleichaltriger Junge, ein Stubenhocker, das wahre Geschehen beobachtet. Erst erpreßt Lavie sie ein wenig, dann verlieben sich die beiden. Einmal muß Nuphar weinen. Der Druck der Lüge ist zu groß. Lavies Trost: Menschen, die sich eisern an die Wahrheit hielten, täten das, weil die Wahrheit von Vorteil für sie sei. Für andere sei die Lüge vorteilhafter: »Wenn die Wahrheit gut genug gewesen wäre, hättest du nicht lügen müssen, richtig? Wenn die Wirklichkeit beschissen ist, ist das Lügen nicht so schlimm.« Und sie alle, die Bevölkerung dieses Romans, sind kleinere oder größere Lügner. Gundar-Goshen zeigt es mit feinen Spitzen und milder Süffisanz. Sie muß all diese Selbstbetrüger, Ehebrecher, falschen Moralapostel und Alltagsschwindler nicht markieren, es wird en passant deutlich.
Besonders hübsch ist ihr die Beschreibung des »Internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen« geraten. Alle Institutionen begehen ihn mit pompös-tragischer Feierlichkeit. In der Residenz des Staatspräsidenten (der eine betroffenmachende Rede hält und zugleich an den Hintern seiner Büroleiterin denkt) ist alles fein und opulent gerichtet: Leckereien stehen ebenso parat wie ein paar »mißhandelte Frauen« (inklusive Nuphar, die sich verdrücken wird; man versteht es selbstredend) und das große Schild mit der Aufschrift: »Das muß ein Ende haben!«. Nuphar schämt sich. Sie fühlt sich schuldig. Aber gemeinsam mit Lavie würde sie »die Schuld zähmen, bis sie zu einem dressierten Hund würde.« Was wiegt überhaupt Schuld, wenn der Kontrahent eine so miese Type ist? Wenig später wird sie sich einer alten Frau anvertrauen, zu der sie spontan Vertrauen faßt. Rivka heißt die Dame, Nuphar lernt sie auf der Klassenfahrt nach Polen kennen. Rivka begleitet als KZ-Überlebende die Klasse auf einer Tour durch Internierungslager. Sie hält ihre Vorträge mit zitternder Stimme: »Noch bevor die Überlebende ein Wort gesagt hatte, waren die sanften Seelen bereit zu weinen. Ein eingestimmtes Publikum, nannte man das wohl.« Rivka wundert sich nicht, als Nuphar abends ihre Nähe sucht. Sie hatte heute »vom Getto erzählt, und das war so schrecklich traurig gewesen, dass sie befürchtete, von ihren eigenen Geschichten Albträume zu bekommen.« Nur, Nuphar fragt nicht nach der Schoa. Sie wird nicht erfahren, daß Rivka in Wahrheit Raymonde heißt und sich ihre Holocaustnähe aus Informationen aus dem Internet zusammengebastelt hat. Manchmal, so erklärt ihr die Ältere, erfinde man Dinge nur, um ein bißchen weniger allein zu sein.
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Ayelet Gundar-Goshens Lügnerin. Roman kann man hier bestellen.