Enric Marco kam am 14. April 1921 in Katalonien zur Welt, exakt zehn Jahre vor Ausrufung der Zweiten Spanischen Republik. Zeitlebens war er ein Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit. Als Anarchist und Gewerkschafter stellte er sich stets quer zum Zeitgeist, ohne Rücksicht auf Verluste. Der blutjunge Kämpfer kehrte im Winter 1938/39 schwerverletzt von der Front des spanischen Bürgerkriegs zurück. Wenig später wurde er ins deutsche KZ Flossenbürg deportiert. Schon die Ankunft am Bahnhof – der reine Horror: Die Hunde der SS-Männer bissen jeden, der sich bewegte. Wer zurückwich, für den hagelte es Peitschenhiebe, Tritte, Schläge. Manche Deportierten starben vor Ort, sie waren so schwach, daß die SS-Leute sie mit wenigen Schlägen umbrachten. Marco hatte nie Scheu, bei seinen Berichten ins Detail zu gehen: Wie seine Mithäftlinge bei der Arbeit im Steinbruch zusammenbrachen und dann getötet wurden. Wie deren Beerdigung nicht erlaubt war. Wie sie auf die Granitsammelstelle geworfen wurden. Wie im Lager Woche um Woche neue Erhängte zur Schau gestellt wurden. Wie sie erst abgenommen wurden, wenn ihre violette Färbung in einen grünlichen Ton umgeschlagen war. Die Einweisung auf die Krankenstation des KZ galt es zu verhindern, denn dort wurde den Gefangenen Benzin injiziert, um sie zu töten.
Enric Marcos vielhundertmal (von ihm selbst) erzählte Lebensgeschichte, hier von dem preisgekrönten und in zwanzig Sprachen übersetzten Journalisten und Romanautor Javier Cercas als »Roman ohne Fiktion« aufgeschrieben, hat einen Makel: Sie ist eine glatte Lüge. 2005, als der Vergangenheitsbewältigungsdiskurs in Spanien sich gerade auf dem Höhepunkt befand, wurde die Phantasterei des Enric Marco durch den (bis dahin) No-Name-Historiker Benito Bermajo entlarvt – übrigens kurz, nachdem Bermajo einen ähnlichen Schwindel des angeblichen KZ-Häftlings Antonio Pastor Martinez aufdeckte. Cercas hat Marco seit 2009 häufig getroffen und ihn befragt. Von Reue keine Spur. Cercas unkt: »Er hatte Dinge behauptet, die nicht stimmen, ja, er hatte die Wahrheit ein wenig ausgeschmückt, richtig, aber das hatte er nicht aus Egoismus, sondern aus Großmut getan, nicht aus Eitelkeit, sondern aus Altruismus, er wollte die neue Generation durch die Erinnerung an das Grauen erziehen.« Marcos Lügengebäude beginnt – harmlos – mit dem falschen Geburtsdatum (feststeht, daß er in einer psychiatrischen Klinik zur Welt kam, wo seine Mutter 35 Jahre lebte), wodurch seine Inszenierung als möchte-gern-geschichtsträchtige Persönlichkeit ihren Anfang nimmt. Von seinen angeblichen Kriegsverletzungen gibt es nicht die geringste Spur. Erwiesen ist, daß er nie (wie behauptet) den Namen »Durruti« (nach dem Anführer einer republikanischen Elitekolonne) trug und daß er nie (wie behauptet) mit der Familie des legendären Rebellenführers Salvador Puig Antich befreundet war. Nach Deutschland war er 1941 im Rahmen eines deutsch-spanischen Abkommens gegangen, um sich in Kiel als Arbeiter zu verdingen und den Wehrdienst zu umgehen. Marco war ein Automechaniker, Kleinkrimineller, rotlichtaffiner Bordellgänger, der erstens ab 1976 – also erst nach Francos Tod! – durch Lügen zur Führungsfigur der ultralinken Gewerkschaft CNT (Confederación del Trabajo) avancierte, zweitens nach 1978 zum Generalsekretär der wirkmächtigen progressiven Elternvereinigung FAPAC wurde und drittens 2003 zum Präsidenten der Amical de Mauthausen gewählt wurde, einem der prominentesten spanischen Vereine von KZ-Überlebenden. Seine KZ-Story hatte Marco erstmals 1978 in die Feder diktiert, ab etwa 1999 (Cercas schreibt, in jenen Jahren blühte die Erinnerungsindustrie in Spanien auf) tat er dies mit neuer Vehemenz. In Universitäten, Schulen und Altenheimen rührte Marcos mit seinem »Schmierentheater«, seinem »linken Kitsch« (Cercas) seine Zuhörer regelmäßig zu Tränen.
Cercas sieht mehrere Gründe, weshalb niemand es wagte, die Autorität dieses »Zeugen« in Frage zu stellen, der sich an prestigeträchtige, unangreifbare Institutionen gehängt hatte. Einer davon: »Zweifellos ist heutzutage der schlimmste Feind der Linken die Linke selbst. Soll heißen: die Verwandlung des linken Diskurses in hohles Gerede, dessen heuchlerische Sentimentalität die Rechte mit dem Begriff des Gutmenschentums belegt hat. Marcos Lügen kamen einer massiven Nachfrage vonseiten der Linken entgegen, die mit einer giftigen Mixtur aus Sentiment und gutem Gewissen ihrer Gehaltlosigkeit abzuhelfen versuchte.« Ja, Marco ist nicht nur »ein Schelm«, eine Wendung, die Cercas unter Verweis auf Don Quijote immer wieder aufgreift. Er hat »der Sache«, in deren Dienst er sich sah, nicht genutzt, sondern ihr einen Bärendienst erwiesen. Seltsam ist der Titel, den der deutsche Verlag S. Fischer drei Jahre nach der Veröffentlichung in Spanien wählte. Das Cover bildet einen Mann ab, der schamhaft die Hände vor sein Gesicht schlägt. Der 96jährige Marco ist weit entfernt von solcher Geste. Was soll das, nebenbei, heißen, daß hier ein Falscher überlebt habe?