Javier Cercas: Der falsche Überlebende

Javier Cercas: Der falsche Überlebende. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2017. 494 S., 24 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Enric Mar­co kam am 14. April 1921 in Kata­lo­ni­en zur Welt, exakt zehn Jah­re vor Aus­ru­fung der Zwei­ten Spa­ni­schen Repu­blik. Zeit­le­bens war er ein Kämp­fer für Wahr­heit und Gerech­tig­keit. Als Anar­chist und Gewerk­schaf­ter stell­te er sich stets quer zum Zeit­geist, ohne Rück­sicht auf Ver­lus­te. Der blut­jun­ge Kämp­fer kehr­te im Win­ter 1938/39 schwer­ver­letzt von der Front des spa­ni­schen Bür­ger­kriegs zurück. Wenig spä­ter wur­de er ins deut­sche KZ Flos­sen­bürg depor­tiert. Schon die Ankunft am Bahn­hof – der rei­ne Hor­ror: Die Hun­de der SS-Män­ner bis­sen jeden, der sich beweg­te. Wer zurück­wich, für den hagel­te es Peit­schen­hie­be, Trit­te, Schlä­ge. Man­che Depor­tier­ten star­ben vor Ort, sie waren so schwach, daß die SS-Leu­te sie mit weni­gen Schlä­gen umbrach­ten. Mar­co hat­te nie Scheu, bei sei­nen Berich­ten ins Detail zu gehen: Wie sei­ne Mit­häft­lin­ge bei der Arbeit im Stein­bruch zusam­men­bra­chen und dann getö­tet wur­den. Wie deren Beer­di­gung nicht erlaubt war. Wie sie auf die Gra­nit­sam­mel­stel­le gewor­fen wur­den. Wie im Lager Woche um Woche neue Erhäng­te zur Schau gestellt wur­den. Wie sie erst abge­nom­men wur­den, wenn ihre vio­let­te Fär­bung in einen grün­li­chen Ton umge­schla­gen war. Die Ein­wei­sung auf die Kran­ken­sta­ti­on des KZ galt es zu ver­hin­dern, denn dort wur­de den Gefan­ge­nen Ben­zin inji­ziert, um sie zu töten.

Enric Mar­cos viel­hun­dert­mal (von ihm selbst) erzähl­te Lebens­ge­schich­te, hier von dem preis­ge­krön­ten und in zwan­zig Spra­chen über­setz­ten Jour­na­lis­ten und Roman­au­tor Javier Cer­cas als »Roman ohne Fik­ti­on« auf­ge­schrie­ben, hat einen Makel: Sie ist eine glat­te Lüge. 2005, als der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gungs­dis­kurs in Spa­ni­en sich gera­de auf dem Höhe­punkt befand, wur­de die Phan­tas­te­rei des Enric Mar­co durch den (bis dahin) No-Name-His­to­ri­ker Beni­to Ber­ma­jo ent­larvt – übri­gens kurz, nach­dem Ber­ma­jo einen ähn­li­chen Schwin­del des angeb­li­chen KZ-Häft­lings Anto­nio Pas­tor Mar­ti­nez auf­deck­te. Cer­cas hat Mar­co seit 2009 häu­fig getrof­fen und ihn befragt. Von Reue kei­ne Spur. Cer­cas unkt: »Er hat­te Din­ge behaup­tet, die nicht stim­men, ja, er hat­te die Wahr­heit ein wenig aus­ge­schmückt, rich­tig, aber das hat­te er nicht aus Ego­is­mus, son­dern aus Groß­mut getan, nicht aus Eitel­keit, son­dern aus Altru­is­mus, er woll­te die neue Gene­ra­ti­on durch die Erin­ne­rung an das Grau­en erzie­hen.« Mar­cos Lügen­ge­bäu­de beginnt – harm­los – mit dem fal­schen Geburts­da­tum (fest­steht, daß er in einer psych­ia­tri­schen Kli­nik zur Welt kam, wo sei­ne Mut­ter 35 Jah­re leb­te), wodurch sei­ne Insze­nie­rung als möch­te-gern-geschichts­träch­ti­ge Per­sön­lich­keit ihren Anfang nimmt. Von sei­nen angeb­li­chen Kriegs­ver­let­zun­gen gibt es nicht die gerings­te Spur. Erwie­sen ist, daß er nie (wie behaup­tet) den Namen »Dur­ru­ti« (nach dem Anfüh­rer einer repu­bli­ka­ni­schen Eli­te­ko­lon­ne) trug und daß er nie (wie behaup­tet) mit der Fami­lie des legen­dä­ren Rebel­len­füh­rers Sal­va­dor Puig Antich befreun­det war. Nach Deutsch­land war er 1941 im Rah­men eines deutsch-spa­ni­schen Abkom­mens gegan­gen, um sich in Kiel als Arbei­ter zu ver­din­gen und den Wehr­dienst zu umge­hen. Mar­co war ein Auto­me­cha­ni­ker, Klein­kri­mi­nel­ler, rot­licht­af­fi­ner Bor­dell­gän­ger, der ers­tens ab 1976 – also erst nach Fran­cos Tod! – durch Lügen zur Füh­rungs­fi­gur der ultra­lin­ken Gewerk­schaft CNT (Con­fe­dera­ción del Tra­ba­jo) avan­cier­te, zwei­tens nach 1978 zum Gene­ral­se­kre­tär der wirk­mäch­ti­gen pro­gres­si­ven Eltern­ver­ei­ni­gung FAPAC wur­de und drit­tens 2003 zum Prä­si­den­ten der Ami­cal de Maut­hau­sen gewählt wur­de, einem der pro­mi­nen­tes­ten spa­ni­schen Ver­ei­ne von KZ-Über­le­ben­den. Sei­ne KZ-Sto­ry hat­te Mar­co erst­mals 1978 in die Feder dik­tiert, ab etwa 1999 (Cer­cas schreibt, in jenen Jah­ren blüh­te die Erin­ne­rungs­in­dus­trie in Spa­ni­en auf) tat er dies mit neu­er Vehe­menz. In Uni­ver­si­tä­ten, Schu­len und Alten­hei­men rühr­te Mar­cos mit sei­nem »Schmie­ren­thea­ter«, sei­nem »lin­ken Kitsch« (Cer­cas) sei­ne Zuhö­rer regel­mä­ßig zu Tränen.

Cer­cas sieht meh­re­re Grün­de, wes­halb nie­mand es wag­te, die Auto­ri­tät die­ses »Zeu­gen« in Fra­ge zu stel­len, der sich an pres­ti­ge­träch­ti­ge, unan­greif­ba­re Insti­tu­tio­nen gehängt hat­te. Einer davon: »Zwei­fel­los ist heut­zu­ta­ge der schlimms­te Feind der Lin­ken die Lin­ke selbst. Soll hei­ßen: die Ver­wand­lung des lin­ken Dis­kur­ses in hoh­les Gere­de, des­sen heuch­le­ri­sche Sen­ti­men­ta­li­tät die Rech­te mit dem Begriff des Gut­men­schen­tums belegt hat. Mar­cos Lügen kamen einer mas­si­ven Nach­fra­ge von­sei­ten der Lin­ken ent­ge­gen, die mit einer gif­ti­gen Mix­tur aus Sen­ti­ment und gutem Gewis­sen ihrer Gehalt­lo­sig­keit abzu­hel­fen ver­such­te.« Ja, Mar­co ist nicht nur »ein Schelm«, eine Wen­dung, die Cer­cas unter Ver­weis auf Don Qui­jo­te immer wie­der auf­greift. Er hat »der Sache«, in deren Dienst er sich sah, nicht genutzt, son­dern ihr einen Bären­dienst erwie­sen. Selt­sam ist der Titel, den der deut­sche Ver­lag S. Fischer drei Jah­re nach der Ver­öf­fent­li­chung in Spa­ni­en wähl­te. Das Cover bil­det einen Mann ab, der scham­haft die Hän­de vor sein Gesicht schlägt. Der 96jährige Mar­co ist weit ent­fernt von sol­cher Ges­te. Was soll das, neben­bei, hei­ßen, daß hier ein Fal­scher über­lebt habe?

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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