In den großen Medienformaten hat man sich bereits am Erscheinungstag der Publikation geäußert: Alle haben ihren Senf zu den »250 Gramm Pommersches Eastcoast Entrecôte an Pfifferlingen« gegeben. Simon Strauß, der projekthaft die sieben Todsünden durchleidet und sich hier der »Völlerei« anheimgibt, ist belletristischer Debütant. Daß das FAZ-Feuilleton durch Straußens Festanstellung erheblich an Glanz gewonnen hat, dürfte nicht ausschlaggebend sein für das übergroße Interesse an diesem Büchlein. Simon, Jahrgang 1988, ist der Sohn von Botho Strauß. Der Vater ist nicht nur etablierter Romancier und Dramatiker; er wird aufgrund seiner Essays »Der letzte Deutsche« (2015) und vor allem »Anschwellender Bocksgesang« (1993) vielleicht wider Willen, aber nicht zu Unrecht als Vordenker einer intellektuellen Neuen Rechten verehrt. Nun also seine leibliche Frucht – »Fruchtzwerg«, schrieb der boshafteste Kommentator.
Simon Strauß – natürlich ist es Rollenprosa, der Erzähler fungiert als »S.« – ist verdrossen, ist überdrüssig jener Realität, deren Essenz ihm auf einer Großstadtparty ein »junger Mann aus Syrien« mittels eines Bonmots vorträgt: »Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare, Formulare.« S., allerbestens ausgestattet für eine Musterkarriere (Superschüler, Topstudent auf hohem Reflexionsniveau: »Ein Sympathiesüchtiger. Der von Gegnerschaft träumt, und im entscheidenden Moment doch lieber nichts sagt.«), will kein Norm-und-Form-Mensch sein. Gut, welcher Deutsche mit Hochschulbefähigung möchte das schon? Rebellion statt Stagnation, das Credo der Spätpubertierenden! Nur, man bedenke unsere Zeit, in der alle Grenzen und Tabus gefallen sind. S. weiß das, weiß, daß alle halbgaren Versuche, auszuscheren, doch nur eingemeindbare »Kniefälle vor der Konvention« sind: »Kompromisse schwächen den Händedruck. Wer zu oft den Fahrstuhl nimmt, findet nicht mehr den Weg zur Hintertreppe. Der bleibt in der Bequemlichkeit stecken, verliert den Drang.«
Wie Strauß schreibt über diese Sehnsucht, sich Kerben zu schlagen, wesentlich zu werden, diese ersten zwölf Seiten des schmalen Romans also – das ist deutlich mehr als ein verwechselbares Coming-of-age-Zeugnis eines schreibbegabten Spätzwanzigers. Es ist ein vital-poetisches Manifest, selbst wenn hier nichts manifestiert wird, sondern mit Wucht eine Lücke kenntlich wird: »Die einzige Sehnsucht, die trägt, ist die nach dem schlagenden Herzen. Zu viel Gelände ist verlorengegangen an den Zynismus, der seine kalten Finger um alles legt. Der noch die letzte Kerze ausbläst, die letzte Fluchttür verriegelt, den letzten Vorhang herunterreißt.« S. nun will das Feuer neu entfachen, Türen aufstemmen, Schatten suchen – indem er sich an sieben Abenden den sieben Todsünden ausliefert, in deren Nähe, so will es die Legende hier, ihn Abend für Abend die per SMS übermittelten Wegweisungen eines Freundes führen.
Die hier aufgeschriebenen Erfahrungen wirken dadurch authentisch und nicht am Schreibtisch konstruiert. Zum Vorteil, literarisch gesehen, gerät solche Versuchsanordnung allerdings nicht immer. Großartig ist Superbia, der Hochmut. S. soll sich vom Hochhaus stürzen, an einem Gummiseil. Allein der Weg dorthin! »Wie mich diese Welt braucht. Wie sehr sie mich nötig hat. Jetzt. Heute. Hier. […] Ich trete den Bettlern ihre Becher weg, haue den Musikschülern ihre Wollmützen vom Kopf. […] Den dummen Kindern reiße ich die Luftballons aus den Händen, sollen sie doch heulen. Mein Gang wird nur noch breiter, meine Brust geschwellter. […] Wenn ich einmal an der Macht bin […], werde ich Plätze bauen, die nicht vereinnahmt werden von irgendwem, sondern offen bleiben, beweglich, in Angriffsposition.« Solche jubelnde Hochmütigkeitsprosa sucht ihresgleichen, das ist Kunst! Aber andere Todsündenprojekttage geraten flau. Was soll ein bekennender Ehrgeizling auch zu Acedia schreiben, zur Trägheit, zu der er selbst gar nicht neigt? Manche Autoren haben »Acedia« mit »Feigheit« übersetzt. Diese Untugend jedoch wird nicht explizit abgehandelt, subkutan allerdings bildet sie den Basso continuo. Sprich, das hübsch ausgedachte Todsündenraster trägt nicht durch. Es taugt nicht, um die eigene, sehr persönliche Begrenztheit zu erkennen.
Ratschlag: Die Lektüre auf Seite 129 abbrechen. Auf den letzten Seiten kommt Freund »T.« zu Wort, der S. mit warmen Worten dazu gratuliert, »die Reifeprüfung« bestanden zu haben. Das ist unerquicklicher Firmbischofston. Für S. stellt »das dreißigste Jahr« eine Pforte dar. Man kennt das, nicht zuletzt von Ingeborg Bachmanns gleichnamigem Erzählband, wo ebenfalls die Frage nach der Anpassungsfähigkeit und dem »Mitkreisen in geordneten Bahnen« zur Disposition stand. Man darf gespannt sein (man ahnt’s), wohin es Simon Strauß dann verschlagen haben wird.
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