Der Historiker Frank Trentmann, geboren in Deutschland, Abitur in Altona, Studium in Hamburg, lehrt nun in London. Er hat sein über 1100seitiges (160 Seiten sind Anmerkungen und Register!) Werk zur Geschichte des Konsums 2016 auf englisch vorgelegt, nun ist die deutsche Übersetzung erschienen.
Teil I zeichnet die Dynamik und die Globalisierung des Konsums nach, wobei Trentmann drei große Konsumkulturen unterscheidet: das Italien der Renaissance, das China der späten Ming-Zeit (1520–1644) und den Kaufschwung, der im 17. und 18. Jahrhundert von den Niederlanden und Großbritannien ausgeht. Er legt dar, wie sich Märkte weltweit entwickelten, inwiefern Politik und Ideologien darauf reagierten und vice versa: wie Weltanschauungen Konsumgewohnheiten beeinflußten. In Teil II werden Diskurse der Gegenwart untersucht und durch historische Exempla gespiegelt: Was ist aus geschichtlicher Sicht zu sagen über das Kreditwesen, Freizeitkultur, Markenfetischismus, die sogenannte Wegwerfgesellschaft?
Man liest in diesem spärlich geordneten Konvolut aus Zahlen, Daten, Orten, Statistiken, Briefen eine Unmenge interessanter Details. Daß europäische Haushalte um 1600 noch überwiegend die gleichen Gegenstände besaßen wie zweihundert Jahre zuvor; daß es in jener Zeit mehr um die Verfeinerung der Dinge ging. Daß das Aufkommen der Baumwolle nicht nur Ausdruck eines neuen Komforts war, sondern auch »demokratisierend« wirkte, weil man nun bequem färben konnte. Überhaupt, das schrille Gegeneinander von »Kattunwahn« und Kattunverbot im 17. und 18. Jahrhundert! Daß zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert europaweit rund 1350 Luxusgesetze existierten und noch 1708 eine Frau im Schwarzwald verurteilt wurde, weil sie ein für ihren Stand zu großes Halstuch trug. Wie der Zuckerverbrauch in England zwischen 1700 und 1800 um das Zehnfache gestiegen ist! Oder, später: Daß der Umsatz an Spielwaren in den USA zwischen 1899 und 1929 von acht auf 103 Millionen Dollar wuchs. Daß 1840 in Großbritannien ein Arbeiter innerhalb eines vierzigjährigen Erwerbslebens auf 124000 Arbeitsstunden kam und anno 1981 auf 69000 – plus zwanzig Jahre arbeitsfreie Lebenszeit zusätzlich.
Ja, man findet einiges »Wissenswerte« in den 29,3 Lektürestunden, die man als Intensivleser mit diesem wuchtigen Buch verbringen mag. Nur: Kennt man das? Diesen Typ Professor, der »unglaublich viel weiß« und zu einem Thema forscht, das einen in besonderem Maße interessiert? Und dann dies: Man sitzt in der Vorlesung und ist vor allem damit beschäftigt, Strategien zu entwickeln, um wach zu bleiben. Ähnlich verhält es sich mit diesem Buch. Es weist nämlich vier Grundmakel auf. Erstens: Trentmann nennt es Herausforderung und Freude zugleich, zwischen Makro- und Mikroperspektive zu wechseln. Dem Leser bleibt die Last. Es wird nicht nur über Zeiten und Kontinente gesprungen, sondern auch zwischen dem »Kaufmann aus Wolfenbüttel«, der seinerzeit dies und das besaß, und den aberdutzenden Verordnungen und Trends, die zur gleichen Zeit (aber logisch nie gleichzeitig) weltweit Fuß faßten. Nur jede vierte Familie mit mittlerem Einkommen besaß in Spanien um 1750 eine Schale zum Servieren von heißer Schokolade, ach komm! Ein Mißvergnügen und ein wahrer Irrgarten, derart konfus mit One world konfrontiert zu sein! Zweitens Stilblüten vielfältiger Art: »Letzten Endes ist Konsum eine lebendige Erfahrung«; auch Marx schlug »hin und wieder über die Strenge«; »Die umfangreiche Literatur zeigt, daß Ungleichheit schlecht ist fürs Wohlbefinden, für die geistige Gesundheit, das zivile Leben und die Toleranz.« Drittens die Unentschiedenheit des Autors in der Einordnung und Bewertung. Seine Argumentationsschleifen lauten meist so: Die einen sagen dies, die anderen das. Alexis de Toquevilles Befund, wonach der Wunsch nach Gleichheit um so unersättlicher sei, je größer die Gleichheit ist, steht beispielsweise unerlöst neben den Diktionen anderer Denker, die das Gegenteil behaupten. Viertens: Am Faktizitätsgrad der behaupteten Aussagen ist oft zu zweifeln. Durfte wirklich nach 1999 (!) ein Farbfernseher gepfändet werden, wenn er durch ein Schwarzweißgerät ersetzt wurde? Sollte in Deutschland 1964 wirklich ein »Grundtaschengeld« die einfachsten Bedürfnisse befriedigen, nämlich beispielsweise 80 Gramm (…) Nudeln pro Monat? Ist wirklich die Schweiz (mit 85 Prozent) das Land mit der »größten Handydichte«? (In Deutschland gibt es anno 2017 131 Millionen Mobilfunkanschlüsse.) Erhält die Kulturszene in Deutschland nun »massivste Unterstützung« (S. 729) oder »relativ wenig« (S. 731)? Kann es wahr sein, daß Haushalte in den USA anno 1900 22 Stunden pro Woche auf »Haus- und Care-Arbeit« verwendeten und im Jahre 2000 exakt die gleiche Zeit? Man weiß aus all diesen Gründen nicht recht, wohin mit diesem Buch. Als 1300-Gramm-Ding mag es als Schlagwaffe dienen. Nur, gegen wen?
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Frank Trentmanns Herrschaft der Dinge kann man hier bestellen.