Christine Ott: Identität geht durch den Magen. Mythen der Esskultur

Christine Ott: Identität geht durch den Magen. Mythen der Esskultur, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2017. 496 S., 26 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Fakt ist: »Iden­ti­tät« ist schlag­wort­taug­lich; es emp­fiehlt sich für Buch­ti­tel. Das Wort, frei­lich viel­fach aus­leucht­bar, läßt Selbst­ge­wiß­heit anklin­gen, das Eige­ne, das Hei­mi­sche, ein Insich­ru­hen­des. Nun haben wir seit Jah­ren oder gar Jahr­zehn­ten einen höl­li­schen Iden­ti­täts­streß. Wer: wir? Wie­so »wir« über­haupt? Wir Deut­sche, wir Euro­pä­er, wir Aka­de­mi­ker, wir Chris­ten, wir Frau­en – und was wäre mit den »Ande­ren«? Wei­sen Sie sich mal aus, bit­te! Wer von Chris­ti­ne Ott, zumal die Roma­nis­tik­pro­fes­so­rin hier über gas­tro­no­mi­sche Iden­ti­tä­ten schreibt, eine Pri­se Selbst­ver­ge­wis­se­rung, also sprich­wört­li­ches »Bauch­ge­fühl« erwar­tet, muß ent­täuscht wer­den. Lukul­lus darf hier nicht Platz neh­men. Fach­jar­gon (»kul­tur­se­mio­ti­sche Dis­kurs­ana­ly­se«, »Rol­len­at­tri­bu­te«, »gas­tro­ch­au­vi­nis­ti­sches Denken«[sic!]) quillt hier aus allen Poren. Darm-mit-Charme-Freun­de dürf­ten sich über­for­dert füh­len. Frau Ott hat bis­wei­len ulki­ge Maß­stä­be, ein phan­tas­ti­scher Irr­gar­ten aus lite­ra­ri­schen Fund­stel­len, aus Psy­cho­lo­gie, Psy­cho­ana­ly­se, Phä­no­me­no­lo­gie und Phi­lo­so­phie wird hier skiz­ziert. Es ist aber ganz wun­der­bar, sich an die­sem illus­tren Ein­topf zu wei­den! Klar, alles wird hier unter gegen­der­ten, kolo­nia­lis­mus­skep­ti­schen, anti­ras­sis­ti­schen Maß­stä­ben beäugt. Die höchst modi­sche (und hier gleich­sam bis zum Erbre­chen ver­wen­de­te) Abwehr­vo­ka­bel gegen­über allem, was nach Iden­ti­tät im her­kömm­li­chen Sin­ne schmeckt, lau­tet »Essen­tia­lis­mus«. Das hat, haha, wenig mit »Essen« zu tun, son­dern bedeu­tet die Ableh­nung »wesens­phi­lo­so­phi­schen« Den­kens. Heißt: Ott scheut jeg­li­che Typi­sie­rung (etwa einer Ernäh­rungs­ge­wohn­heit als »typisch weib­lich«, »typisch ita­lie­nisch«), da sol­che Kate­go­ri­sie­run­gen immer auf ‑isti­sche Ste­reo­ty­pe zurück­führ­ten. Zitat: »Essen­tia­lis­ti­sche The­sen zum Essen ver­ken­nen, dass Ess­ge­wohn­hei­ten immer das Ergeb­nis his­to­risch gewach­se­ner Kon­struk­tio­nen sind.« Na Prost, man muß sich das auf der Zun­ge zer­ge­hen las­sen – his­to­risch gewach­se­ne Kon­struk­tio­nen! Dies ist frag­los lin­ke Koch­kunst: Es mun­det nicht immer, man ist schnell über­sät­tigt. Der Nähr­wert die­ses Buches ist den­noch beacht­lich, teil­wei­se gar ful­mi­nant: In acht Groß­ka­pi­teln lesen wir bei­spiels­wei­se über »Ernäh­rung und Psy­che«, über »Nah­rungs-tabus. Reli­gi­on und Ethik des Essens« oder über den »Gas­tro­kult der Gegen­wart«. Höchst inter­es­sant ist etwa das Kapi­tel über »Kör­per­bil­der. ›Offe­ner‹ und ›geschlos­se­ner‹ Kör­per.« Ott arbei­tet – anhand zahl­rei­cher Bei­spie­le aus der Lite­ra­tur von Grim­mels­hau­sen, Rabelais über Rous­se­au hin zu Sart­re und Grass – her­aus, inwie­fern sich der kol­lek­ti­ve Kör­per des Mit­tel­al­ters vom indi­vi­du­el­len Kör­per der Neu­zeit hin­sicht­lich der Nah­rungs­auf­nah­me unter­schied. Wie sich dar­auf­hin durch »bür­ger­li­che Selbst­kon­trol­le« und medi­zi­ni­sche Erkennt­nis­se im Lau­fe des 18. Jahr­hun­derts der »humo­ra­le Gefäß­leib« zum »ner­vö­sen Orga­nis­mus« wan­del­te: Das ist äußert kun­dig und prä­zi­se beschrie­ben. Einst muß­ten die schlech­ten Kräf­te (etwa durch Ader­laß und Schwitz­ku­ren, Schröp­fen) abge­führt wer­den, nun wird Gutes zuge­führt; es ist der Beginn eines päd­ago­gi­schen Umgangs mit dem Kör­per und der Nah­rung. Den rezen­ten Koch­boom, die Viel­falt an Ernäh­rungs­trends und Spe­zi­al­diä­ten führt Ott glaub­wür­dig ers­tens auf eine Schwä­chung der väter­li­chen Ord­nung zuguns­ten von »Mut­ter Erde«, zwei­tens auf eine neue Lust an Ora­li­tät zurück: Die Domi­nanz des Digi­ta­len und Vir­tu­el­len in der all­täg­li­chen Welt erwe­cke natür­li­cher­wei­se den Wunsch nach wirk­lich Ein­ver­leib­ba­rem. Essen sei heu­te das »Nähe-Medi­um«. Ott macht vie­ler­lei kennt­lich: Daß die Angst vor »Ver­un­rei­ni­gung« in matri­li­nea­ren Gesell­schaf­ten deut­lich grö­ßer sei; wie Essen heu­te zur »neu­en Reli­gi­on« wer­den konn­te; inwie­fern Spei­se­ta­bus sowohl distin­gu­ie­ren­de Funk­ti­on haben als auch als »Macht- und Dis­zi­pli­nie­rungs­dis­kur­sen« die­nen: Daß »Ander­ses­sen­de« abge­wer­tet wer­den, wer kennt das nicht! Ande­rer­seits ver­rennt sich die Autorin immer wie­der: Still-Ideo­lo­gie? Wo denn? Inwie­fern Ideo­lo­gie? Und: Die japa­ni­sche Eßkul­tur tra­ge zur »Ver­fes­ti­gung von Gen­der­rol­len« bei. Ein Unwort ist für Ott auch »ter­ro­ir«, die (aus dem Wein­bau kom­men­de) als absurd emp­fun­de­ne Ver­bin­dung einer Natio­nal­kü­che mit dem »Erd­bo­den« des Lan­des. Hier sieht sie eine Blut-und-Boden-Gas­tro­no­mie auf­zie­hen. Und hegt ein Ernäh­rungs­re­for­mer wie Max Bir­cher-Ben­ner gleich »proto­fa­schis­ti­sche Rein­heits­fan­ta­sien«, weil er den Ver­zehr von Genuß­mit­teln kri­tisch beur­teil­te und for­der­te, den Apfel stets ganz (also inklu­si­ve Gehäu­se und Scha­le) zu essen?

Und doch, ein tol­les Werk. Ein biß­chen Schär­fe, ein wenig Bit­ter­keit soll ja die Lebens­geis­ter wach halten.

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Chris­ti­ne Otts Iden­ti­tät geht durch den Magen kann man hier bestellen.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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