Fakt ist: »Identität« ist schlagworttauglich; es empfiehlt sich für Buchtitel. Das Wort, freilich vielfach ausleuchtbar, läßt Selbstgewißheit anklingen, das Eigene, das Heimische, ein Insichruhendes. Nun haben wir seit Jahren oder gar Jahrzehnten einen höllischen Identitätsstreß. Wer: wir? Wieso »wir« überhaupt? Wir Deutsche, wir Europäer, wir Akademiker, wir Christen, wir Frauen – und was wäre mit den »Anderen«? Weisen Sie sich mal aus, bitte! Wer von Christine Ott, zumal die Romanistikprofessorin hier über gastronomische Identitäten schreibt, eine Prise Selbstvergewisserung, also sprichwörtliches »Bauchgefühl« erwartet, muß enttäuscht werden. Lukullus darf hier nicht Platz nehmen. Fachjargon (»kultursemiotische Diskursanalyse«, »Rollenattribute«, »gastrochauvinistisches Denken«[sic!]) quillt hier aus allen Poren. Darm-mit-Charme-Freunde dürften sich überfordert fühlen. Frau Ott hat bisweilen ulkige Maßstäbe, ein phantastischer Irrgarten aus literarischen Fundstellen, aus Psychologie, Psychoanalyse, Phänomenologie und Philosophie wird hier skizziert. Es ist aber ganz wunderbar, sich an diesem illustren Eintopf zu weiden! Klar, alles wird hier unter gegenderten, kolonialismusskeptischen, antirassistischen Maßstäben beäugt. Die höchst modische (und hier gleichsam bis zum Erbrechen verwendete) Abwehrvokabel gegenüber allem, was nach Identität im herkömmlichen Sinne schmeckt, lautet »Essentialismus«. Das hat, haha, wenig mit »Essen« zu tun, sondern bedeutet die Ablehnung »wesensphilosophischen« Denkens. Heißt: Ott scheut jegliche Typisierung (etwa einer Ernährungsgewohnheit als »typisch weiblich«, »typisch italienisch«), da solche Kategorisierungen immer auf ‑istische Stereotype zurückführten. Zitat: »Essentialistische Thesen zum Essen verkennen, dass Essgewohnheiten immer das Ergebnis historisch gewachsener Konstruktionen sind.« Na Prost, man muß sich das auf der Zunge zergehen lassen – historisch gewachsene Konstruktionen! Dies ist fraglos linke Kochkunst: Es mundet nicht immer, man ist schnell übersättigt. Der Nährwert dieses Buches ist dennoch beachtlich, teilweise gar fulminant: In acht Großkapiteln lesen wir beispielsweise über »Ernährung und Psyche«, über »Nahrungs-tabus. Religion und Ethik des Essens« oder über den »Gastrokult der Gegenwart«. Höchst interessant ist etwa das Kapitel über »Körperbilder. ›Offener‹ und ›geschlossener‹ Körper.« Ott arbeitet – anhand zahlreicher Beispiele aus der Literatur von Grimmelshausen, Rabelais über Rousseau hin zu Sartre und Grass – heraus, inwiefern sich der kollektive Körper des Mittelalters vom individuellen Körper der Neuzeit hinsichtlich der Nahrungsaufnahme unterschied. Wie sich daraufhin durch »bürgerliche Selbstkontrolle« und medizinische Erkenntnisse im Laufe des 18. Jahrhunderts der »humorale Gefäßleib« zum »nervösen Organismus« wandelte: Das ist äußert kundig und präzise beschrieben. Einst mußten die schlechten Kräfte (etwa durch Aderlaß und Schwitzkuren, Schröpfen) abgeführt werden, nun wird Gutes zugeführt; es ist der Beginn eines pädagogischen Umgangs mit dem Körper und der Nahrung. Den rezenten Kochboom, die Vielfalt an Ernährungstrends und Spezialdiäten führt Ott glaubwürdig erstens auf eine Schwächung der väterlichen Ordnung zugunsten von »Mutter Erde«, zweitens auf eine neue Lust an Oralität zurück: Die Dominanz des Digitalen und Virtuellen in der alltäglichen Welt erwecke natürlicherweise den Wunsch nach wirklich Einverleibbarem. Essen sei heute das »Nähe-Medium«. Ott macht vielerlei kenntlich: Daß die Angst vor »Verunreinigung« in matrilinearen Gesellschaften deutlich größer sei; wie Essen heute zur »neuen Religion« werden konnte; inwiefern Speisetabus sowohl distinguierende Funktion haben als auch als »Macht- und Disziplinierungsdiskursen« dienen: Daß »Andersessende« abgewertet werden, wer kennt das nicht! Andererseits verrennt sich die Autorin immer wieder: Still-Ideologie? Wo denn? Inwiefern Ideologie? Und: Die japanische Eßkultur trage zur »Verfestigung von Genderrollen« bei. Ein Unwort ist für Ott auch »terroir«, die (aus dem Weinbau kommende) als absurd empfundene Verbindung einer Nationalküche mit dem »Erdboden« des Landes. Hier sieht sie eine Blut-und-Boden-Gastronomie aufziehen. Und hegt ein Ernährungsreformer wie Max Bircher-Benner gleich »protofaschistische Reinheitsfantasien«, weil er den Verzehr von Genußmitteln kritisch beurteilte und forderte, den Apfel stets ganz (also inklusive Gehäuse und Schale) zu essen?
Und doch, ein tolles Werk. Ein bißchen Schärfe, ein wenig Bitterkeit soll ja die Lebensgeister wach halten.
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Christine Otts Identität geht durch den Magen kann man hier bestellen.