Benjamin Hasselhorn tritt apologetisch, angesichts des heutigen Zustandes der EKD provozierend, für das Luthertum ein. Man könnte sagen: Er argumentiert lutherisch-orthodox. Wie konnte die Kirche der Reformation, vom theologischen Erbe Luthers aus betrachtet, auf das aktuelle Niveau des zeitgenössischen Protestantismus, praktisch begründet in einem religiösen Relativismus, ja einem Nihilismus, sinken? Hasselhorn, sowohl in Theologie als auch in Geschichtswissenschaften promoviert, präsentiert uns einen Gang durch die evangelische Theologiegeschichte mit den entsprechenden historischen Weichenstellungen, die allmählich zur Aushöhlung, schließlich zur totalen Verdrängung des Luthertums aus den Landeskirchen führte. Eine Frage, die auch für Lutheraner im Raum steht, wird ausgesprochen: Liegt es nicht auch an Luthers Theologie selbst, daß es so weit gekommen ist? Hat Luther die einzelnen Gläubigen geistlich nicht immer wieder überfordert? Wer sich nach einer statisch organisierten Kirche mit eindeutig institutioneller Aufsicht und Betreuung sehnt, wie sie der Jesuit bevorzugt, wird die letzten Fragen mit »Ja« beantworten können.
Hasselhorn veranschaulicht an Ina Seidels Roman Lennacker, in dem der Werdegang eines lutherischen Pastorengeschlechts von der späten Reformationszeit bis zum Ersten Weltkrieg erzählt wird, wie Luthers Erbe mit der Persönlichkeit seiner Träger steht und fällt: »Diese literarische Schilderung der Geschichte des lutherischen Pfarrhauses hilft dabei, sich über den Kern des Luthertums klar zu werden: Luthertum lässt sich zunächst, ganz unabhängig von konkreten Inhalten, charakterisieren als ein individuelles Bekenntnis; als die Bereitschaft, mit der ganzen persönlichen Existenz für die eigene Glaubensüberzeugung einzustehen, sich nicht vertreten zu lassen von religiösen Fachleuten oder einer religiösen Obrigkeit, und diese eigene Glaubensüberzeugung auch nicht abgeschieden vom Rest der Welt versteckt zu praktizieren, sondern aus ihr heraus den Alltag mit seinen Aufgaben und Problemen zu bewältigen.« Das liberale Mißverständnis etwa seit der Aufklärung, daß ein gütiger Gott eine billig zu erlangende Gnade ermögliche und daß letztlich das persönliche Gewissen zur Ausrede wird, sich vor Verpflichtungen zu drücken, mußte allmählich seine Auswirkung zeitigen. »Nur solange man solchen Mißverständnissen etwas entgegensetzte, war es möglich, auch Krisen lutherisch zu bewältigen. Wenn man sie aber zur eigentlichen lutherischen Wahrheit erklärt, ist das Schicksal des Luthertums besiegelt.« Das mag pessimistisch klingen, doch der Autor plädiert keinesfalls für Resignation. Man darf diese Schrift getrost als den Weckruf im Lutherjahr lesen.
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