Die überseeischen Kolonien bilden einen Fremdkörper in der deutschen Geschichte. Das hängt vor allem damit zusammen, daß sie in lediglich einer Generation gewonnen und verloren wurden. Wenn man von Versuchen des Großen Kurfürsten absieht, wurden die ersten Verträge in Afrika 1884 abgeschlossen, 1918 kapitulierten mit Lettow-Vorbeck die letzten Schutztruppensoldaten, 1919 wurde mit dem Versailler Vertrag das Ende des Deutschen Kolonialreichs besiegelt. Die alliierten Siegermächte teilten die Gebiete untereinander auf. In einem merkwürdigen Gegensatz dazu steht die Hochschätzung, die seitdem Kolonien in Deutschland genießen. Auch wenn in der Weimarer Republik wirtschaftliche Fragen in den Mittelpunkt der prokolonialen Argumentation gestellt wurden, ging es eigentlich um eine moralische Frage. Die Alliierten hatten den Deutschen die Kolonien mit der nachgereichten Begründung entzogen, daß deren »Pflichtvernachlässigung auf dem Gebiete kolonialer Zivilisationstätigkeit restlos enthüllt« worden sei. Diese offensichtliche Doppelmoral der alliierten Kolonialstaaten mußte Widerspruch herausfordern.
Heute hat die »Hochschätzung« andere Gründe, allerdings ebenfalls moralische, da man mit den Kolonialkriegen (in China sowie Südwest- und Ostafrika) den deutschen Hang zum Völkermord belegen möchte. Ein krasses Beispiel dieser Instrumentalisierung war die vor einem Jahr, im Oktober 2016, im Deutschen Historischen Museum in Berlin eröffnete Ausstellung »Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart«. Davon hebt sich das vorliegende Buch in Teilen ab, weil es mit Wertungen zurückhaltend verfährt.
Der Schwerpunkt des Sammelbandes liegt auf der Strukturgeschichte und Soziologie. In diesem Sinne werden Kolonialverwaltung, Rechtsprechung in den Kolonien, die Rassenfrage, die Kolonialkriege, die Rolle der Missionen bei der Kolonialisierung und die in Deutschland populären Völkerschauen thematisiert. Die eigentlichen Kolonien in Afrika, der Südsee und in China werden in drei von fünfzehn Beiträgen summarisch abgehandelt. Drei Beiträge beschäftigen sich mit der nachkolonialen Phase bzw. dem kolonialen Erbe, zwei weitere mit der Vorgeschichte. Bei letzterer ist vor allem die Frage von Interesse, warum Bismarck, der immer ein ausgewiesener Gegner von Kolonien war, sich 1884/85 plötzlich auf die Seite der Befürworter schlug. Bismarck befürchtete, daß es nach einem Thronwechsel eine englandfreundliche Neuausrichtung der Außenpolitik geben würde, die er durch die Manifestation des Gegensatzes mittels der Kolonien unbedingt verhindern wollte.
Der Mangel des Buches liegt in der mangelnden Kontextualisierung, die nur an wenigen Stellen zaghaft und halbherzig gewagt wird. Man wird zu einer sinnvollen Bewertung des deutschen Kolonialismus nur gelangen können, wenn man ihn mit dem Vorgehen der anderen europäischen Völker in der damaligen Zeit vergleicht. Dann wird, bei aller grundsätzlichen Fragwürdigkeit des Kolonialismus überhaupt, den Deutschen kein besonders schlechtes Zeugnis ausgestellt werden können: »Die Deutschen unterscheiden sich da in nichts, in gar nichts von anderen, nicht positiv, nicht negativ.« (Thomas Nipperdey) In den ehemals deutschen Kolonien wurde mit deren Übernahme durch die Alliierten nichts besser.
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Horst Gründer und Hermann Hierys Die Deutschen und ihre Kolonien kann man hier bestellen.