Was kommt dabei heraus, wenn ein Autor über die Migrationskrise schreibt, der sowohl oversexed als auch Hegelianer ist? Ein verrücktes, kompliziertes, übersteigertes, widersprüchliches Buch, ein interessantes Buch.
Grießer, Jahrgang 1973, FPÖ-Mandatar in Mödling, nähert sich als Philosoph der gegenwärtigen Situation und muß feststellen: Nicht mehr ein prä- beziehungsweise kryptofaschistoider »Geist«, sondern die Menschenrechte gelten heute als die unhintergehbare Basis auch für alles Philosophieren.
Daraus folgt, daß »der Mensch«, oder in der verzückten Formulierung linksgrüner Politiker: »Es sind Menschen!«, alles ist – und, jetzt kommt Hegels Dialektik: damit auch nichts mehr ist. Jeder Begriff wird leer, setzt man ihn absolut und macht das Gegenteil undenkbar. Die »Es-sind-Menschen«-Erlösungstheologie im Deutschland nach 2015 zu erkennen, ist eine Stärke des Buches.
Grießer gelingt es, durch Aufdröseln der Doppelseitigkeit aller in der »Willkommenskultur« totgerittenen Begriffe ihre innere Dialektik zu zeigen: Die »Flucht« als das große moralische Thema ist eine Flucht der Deutschen vor sich selbst. Flucht und Schuld oszilliert zwischen ganz konkreter Lagebeschreibung und Begriffsanalyse sowie hochgeschraubter bis manchmal hochnotpeinlicher Theologie der »Schuld«, der »Frau«, der »Sohnschaft«, der »Erlösung« und der »Scham«.
Dialektik als Denkansatz hat dabei den Vorteil, daß man sie immer noch einen Zacken höherschrauben kann, und das tut der Autor mit Freuden. Streckenweise gerät er damit in Teufels Küche der heillosen Übertreibung, bisweilen zeigt aber genau diese Übertreibung (dialektisch!), wie absurd die geistige Lage ist. Zwei Beispiele: Es ist mit diesem wilden Denken möglich, Rolf Peter Sieferles These einer Synthese zuzuführen: »Der Flüchtling, der kein Zuhause mehr hat, der heimatlos ist, beerbt den ›heimatlosen Juden‹ und ist Projektionsfläche für das eigene Unterwegs-Sein. In der Figur des Flüchtlings wird es möglich, sich zugleich mit dem Juden zusammenzuschließen und mit der allgemeinen Schuld des Menschen (theologisch gesprochen: der Erbsünde) die historische Schuld zu tilgen.« Doch bekanntlich bleibt die historische Dialektik ja bei Synthesen niemals stehen.
Die Deutschen, und mit ihnen halb Europa, sind selbst auf der Flucht: auf der Flucht vor der eigenen Täterschaft. Und solange dieser tief verwurzelte Komplex nicht gelöst ist, wird Deutschland versuchen, immer mehr »Gutes zu tun«, und sich um so mehr selbst verleugnen. »Wir« sind damit aber die »neuen Juden«, ohne dies direkt aussprechen zu müssen. Das »auserwählte Volk« zu sein, kann das deutsche Volk auf diese Weise ständig erneuern. Das gibt Selbstvertrauen: Wir schaffen das!
Angela Merkel wird für Grießer in dieser extremen Abstraktion »die Frau schlechthin«, zu der alle Welt strömt, in die alle Welt sich ergießt, die »deutsche Mutter«, die Millionen von Männern anlockt. An so einer Textstelle wird einem als Leser mulmig bis schwindlig: Sexuell graust es einen, metaphysisch schaudert es einen, vernünftigerweise wird einem schwindlig, das ist nämlich Unsinn.
Merkwürdig ist die Selbstverortung des Autors: Er findet nämlich keineswegs, daß er ein Rechter sei. Die »Rechten« bleiben für ihn als Projektionsfolie immer die anderen, die »völkischen Rechtsextremisten«, die ein »muslimisches Sex-Monster« konstruierten und in der Masseninvasion das Gute sähen, daß die BRD niedergehe.
Man kann ihm getrost versichern: Er ist selbst ein Rechter, für das Vollbild fehlt nur noch, daß er die Systemlogik des Islams kennenlernt. Vielleicht bietet diese nähere Beschäftigung ihm auch willkommenen Stoff für übersteigerte sexuelle Besetzungen. Auf einen hegelianischen Blick auf das Innere des Islams und dessen historische und begriffliche Widersprüche könnte man sich als Leser jedenfalls freuen. Grießer ist ein interessanter Gedankenverdreher.
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Wilfried Grießers Flucht und Schuld kann man hier bestellen.