Manchen Roman (Stichwort: Urlaubslektüre) liest man so weg, wie man einen leckeren Imbiß verzehrt. Sättigung: ja, es bleibt aber keine Erinnerung. Mit Lawrence Osbornes Geschichte (warum ist es keine Kurzgeschichte oder eine Novelle geworden?) verhält es sich anders. Sie gleicht einem Stolperstein und auch einem Wackerstein, der schwer im Magen liegt. Man ärgert sich, man brütet, man krümmt sich. Und man wundert sich: über all die lobpreisenden Rezensionen durch Edelfedern im Bildungsfeuilleton. Warum nun dies Brüten, Wundern und Ärgern? Zweierlei Gründe: weil der Roman stilistisch teilweise zum Haareraufen (»seine mineralgrünen Augen lachten geräuschvoll«; »sein Inneres schrie lautlos auf«: zwei von zahlreichen Stilblüten), inhaltlich aber bedeutsam ist und in meiner Lesart erheblich von dem abweicht (Kerouac! Krimi! Kolonialismuskritik!), was andere darin lasen.
Osborne, Jahrgang 1958, ist gebürtiger Brite und weltreisender Metropolit. Für seine Reportagen in der New York Times wurde er berühmt, die Idee zu diesem Buch – seinen ersten auf deutsch erschienenen Roman – entstand während einer Marokkoreise. Das Original The Forgiven wurde 2012 publiziert, also deutlich vor den inhaltsähnlichen Büchern Frühling der Barbaren von Jonas Lüscher (Sezession 59) und Das Mädchen mit dem Fingerhut von Michael Köhlmeier (Sezession 71).
Darum geht’s: Das kinderlose britische Ehepaar David und Jo Henninger, er Anfang Fünfzig, sie Anfang Vierzig, er Arzt mit Regreßproblem, sie Kinderbuchautorin mit Absatz- und Kreativitätsproblemen, reist per Auto in die marokkanische Wüste. Die Ehe ist mitteldesolat: typische Schwächen und Konflikte dieser Generation, dieses Milieus. Sie sind von einem Schulfreund Davids zu einer Wochenendparty geladen. Diese opulent-dekadenten Feten sind legendär, die coolsten Blogger und weltweit größten Zeitungen berichten über diese Gelage. Das schwerreiche gastgebende Schwulenpärchen residiert in einem Berber-Ksar. Die muslimischen Autochthonen – zum größten Teil Fossiliensammler und ‑präparatoren, den »Geruch zorniger, junger Männer« verströmend – rümpfen die Nase über die perversen Exzesse, beneiden aber auch den Reichtum der Fremden.
Jo und David sind spät dran fürs Festmahl des ersten Abends, sie kutschieren planlos durch die dunkle Wüste und zanken ein wenig. Da betritt ein junger Fossilienhändler die Fahrbahn. David fährt ihn tot. Den Leichnam lädt man in den Kofferraum; der Vorfall tangiert die ausgelassen völlernde, saufende, koksende, kiffende, »megalopole« Partygemeinde nur peripher. Sie nehmen keine Notiz davon, daß bald der Vater des Unfallopfers anklopft und fordert, der »Mörder« möge mitkommen zur Beerdigung. Wenigstens das sei er schuldig. David, zwar nicht wirklich reumütig, aber verwirrt, eingeschüchtert und nicht ganz nüchtern, läßt sich darauf ein. Seine Gastgeber drängen ihn, the show must go on! Dabei ahnt Davids alter Schulkollege durchaus, wohin die Reise geht. Er kommentiert dessen Abtransport mit einem weiteren schiefen Bild: »Er hat richtig süß ausgesehen mit seinen Taschen. Wie ein Pfadfinder auf dem Weg nach Auschwitz.«
Die introvertierte Jo bleibt zurück. Ein paar Stunden ist sie besorgt, dann läßt sie sich – war sie nicht ohnehin unzufrieden? – willenlos aufsaugen von der exquisiten, bis aufs I‑Tüpfelchen choreographierten Partymaschinerie. Da ist dieser freundliche Amerikaner mit dem sprechenden Namen »Day«. Was könnte sich eine verblühende Frau ihres Alters mehr wünschen als einen Mann, der sich für ihr »Wesen« interessiert? Und, am Ende, gleicht nicht ein Spermapfützchen dem anderen? Hamid, dem Leibdiener des Homopaares, entgeht nichts, auch diese Unternehmung nicht: »Das war also die vielgepriesene Freiheit der Frauen? Was für eine erbärmliche Befreiung.«
Unterdessen blicken wir Leser zurück auf den Lebenslauf von Driss, der nun tot ist. Wir richten unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die Geschichte seiner Europatour – wie er eigentlich gen Norden wollte, aber wie da bereits in Spanien ihm die Nordeuropäerin Angela (ausgerechnet!) über den Weg lief, die als Herzensgutfrau mit ihrem Gatten ein mondänes Anwesen bewohnte und allzugern Driss eine Chance als Gärtner geben wollte. »Was er ‑hasste, war ihr Mitleid. Sie waren sich offenbar nicht im Klaren darüber, daß er sie jederzeit töten konnte.« Sie hingegen, die gutmeinenden weißen Nordmenschen, ahnten nicht einmal, daß er umgekehrt Mitleid mit ihnen hatte: »Ein Wüstenmann ist ein Wüstenmann. Er läßt sich nicht verführen, schon gar nicht von einem weichen Kopfkissen.«
Driss erzählt, wie er Angela am Ende gemeuchelt habe, um an den Tresor des Hauses zu kommen. David weiß nichts von alledem. Er meint, sich am Ende gut geeinigt zu haben mit Driss’ Vater. Daß
alles gut ausgehen werde, als Jo ihn mit einer Flasche kühlen Weißweins an den Mauern des Ksar empfängt. Meint er. Er irrt. Er wird keine Erben hinterlassen haben, die das interessiert.
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Lawrence Osbornes Denen man vergibt kann man hier bestellen.