Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart

Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart, Frankfurt a.M.: S. Fischer. 416 S., 24 €

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Dem indisch-bri­ti­schen Schrift­stel­ler Pan­kaj Mishra wur­de 2014 der Leip­zi­ger Buch­preis zur Euro­päi­schen Ver­stän­di­gung ver­lie­hen, und er wird der­zeit durch die Medi­en gereicht – das läßt Skep­sis auf­kom­men. Die­se ist nach der Lek­tü­re von Zeit­al­ter des Zorns weit­ge­hend passé.

Mishras Aus­gangs­punkt ist die libe­ra­le Fehl­an­nah­me, die Welt sei mit dem Abschluß des Kal­ten Kriegs an ihr »Ende der Geschich­te« (Fran­cis Fuku­ya­ma) gelangt, die Welt gehe daher »den Weg Ame­ri­kas«, sie wür­de »offe­ner, markt­freund­li­cher und demo­kra­ti­scher« (Fareed Zaka­ria). Nun ist bekannt, daß Demo­kra­tie und Kapi­ta­lis­mus auch los­ge­löst von­ein­an­der exis­tie­ren kön­nen, daß Moder­ni­sie­rung im kapi­ta­lis­ti­schen Sin­ne zum »uni­ver­sa­lis­ti­schen Glau­bens­be­kennt­nis« (Mishra) des auf­ge­klär­ten Indi­vi­du­ums in einer Welt der ange­ru­fe­nen Markt­ver­nunft wur­de. Wer hier in den Chor nicht ein­stimm­te, wur­de von den radi­ka­len Ver­tre­tern eines sol­chen Glau­bens­be­kennt­nis­ses zur »Ach­se des Bösen« dele­giert und zur »Befrei­ung« mit­tels Inter­ven­tio­nen aus­er­ko­ren. Die Welt war aber noch nie der­ar­tig binär erklär­bar, und mit den jüngs­ten Kri­sen- und Eska­la­ti­ons­er­schei­nun­gen hat die Kom­ple­xi­tät der Din­ge einer im Zei­chen von Wut und Zorn ste­hen­den Welt­un­ord­nung eine neue Dimen­si­on erreicht.

Mishra ver­sucht den schwie­ri­gen Ritt einer Tour dhori­zon die­ses längst nicht abge­schlos­se­nen Zeit­al­ters. Die Spal­tun­gen und Irrun­gen der moder­nen Welt las­sen sei­ne Ana­ly­sen zwi­schen dem spä­ten 18. Jahr­hun­dert (als dem eigent­li­chen Beginn der Moder­ne) und der Gegen­wart oszil­lie­ren. Mishra kri­ti­siert die zeit­ge­nös­si­sche Ver­klä­rung des Ratio­na­lis­mus der fran­zö­si­schen Auf­klä­rung. In die­sem, der sich vor­geb­lich ega­li­tär gegen die über­kom­me­ne hier­ar­chi­sche und reli­giö­se Ord­nung rich­te­te, sieht er eine wesent­lich eigen­nüt­zi­ge Ten­denz. Denn die­nen soll­te er zunächst einer auf­stei­gen­den Kas­te Gebil­de­ter auf dem Wege in die vor­neh­me Gesell­schaft im Zuge einer »mime­ti­schen Aneig­nung« (René Girard).

Die­se neue sieg­rei­che mate­ria­lis­ti­sche Geis­tes­kul­tur – die Dos­to­jew­ski in sei­nen Schrif­ten kri­tisch erfaß­te, wäh­rend Tscher­ny­schew­ski mit ihr ein ratio­na­lis­ti­sches Para­dies der Zukunft ersann; die Rous­se­au lei­den­schaft­lich anzu­kla­gen wuß­te, wäh­rend Vol­taire sie ver­herr­lich­te – habe für bru­ta­le Wider­sprü­che in der Welt­ge­schich­te gesorgt, weil sie einen uni­ver­sel­len Anstieg des mime­ti­schen Begeh­rens ver­ur­sach­te, was bedeu­te, daß Men­schen die­sel­ben Din­ge begeh­ren und danach trach­ten, die­se zu besitzen.

Heu­te habe der Mate­ria­lis­mus als neu­er Gott die Reli­gio­nen und Kul­tu­ren außer-west­li­cher Völ­ker ver­drängt, ins­be­son­de­re unter den gebil­de­ten Schich­ten. Der Wes­ten selbst habe die­se Roß­kur längst hin­ter sich; spä­ter hät­ten sei­ne Glau­bens­sys­te­me und Insti­tu­tio­nen (Kom­merz­ge­sell­schaft, Markt­wirt­schaft, Ratio­na­lis­mus usw.) auch Asi­en und Afri­ka in Auf­ruhr ver­setzt. Ergeb­nis die­ser Pro­ze­dur sind Mil­li­ar­den Men­schen außer­halb des Wes­tens, die in den »Stru­del des Fort­schritts« gewor­fen wur­den und wer­den, was teils hef­ti­ge Gegen­be­we­gun­gen unter­schied­li­cher Art her­vor­ruft, die sich auch und vor allem gegen eine Wes­t­oxi­fi­ca­ti­on (Jalal Al‑e Ahmad) rich­ten, gleich­zei­tig den Wes­ten min­des­tens par­ti­ell imi­tie­ren und durch die wach­sen­den Ungleich­hei­ten des glo­ba­len Kapi­ta­lis­mus poten­ziert werden.

Mög­li­che Gegen­be­we­gun­gen umfas­sen auch einen gewalt­tä­ti­gen »Anar­chis­mus der Ent­erb­ten und Über­flüs­si­gen« im Sti­le der rus­si­schen Baku­nin-Anhän­ger des 19. Jahr­hun­derts, wobei die Gewalt­ex­plo­si­on sich in unse­ren Tagen ins­be­son­de­re isla­mis­tisch äußert. Hier ist Kri­tik ange­bracht: Wäh­rend Mishra zu Recht davon aus­geht, daß Erschei­nun­gen wie der Isla­mi­sche Staat (IS) frus­trier­te Per­so­nen jed­we­der Natio­na­li­tät anzie­hen, die aus der Bahn gewor­fen und »vol­ler Träu­me von spek­ta­ku­lä­rer Gewalt« agie­ren, so bleibt sei­ne Ana­ly­se der isla­mi­schen Dimen­si­on des IS zu ober­fläch­lich: Ja, der Neo­con-Ter­ror schuf extre­mes Zorn­po­ten­ti­al. Und ja, vie­le der IS-Mör­der haben eine kri­mi­nel­le (ergo »unis­la­mi­sche«) Vor­ge­schich­te, wis­sen über­dies nicht viel von reli­giö­ser Über­lie­fe­rung. Aber nein, des­halb kann man die Bedeu­tung tat­säch­li­cher isla­mi­scher Denk­mus­ter für den Ter­ror nicht rela­ti­vie­ren. Der IS ist zwar auch das Pro­dukt fana­tisch-zor­ni­ger Gewalt­tä­ter, die ihren Platz im gegen­wär­ti­gen Moder­ni­sie­rungs­pro­zeß nicht fin­den, auch das Ergeb­nis der Irak-Krie­ge, auch Fol­ge wirt­schaft­li­cher und poli­ti­scher Insta­bi­li­tät, auch ein mafia­ähn­li­ches Netz­werk zur Geld­be­schaf­fung; der IS ist vor allem aber das Ergeb­nis eska­lie­ren­der waha­bi­ti­scher Apo­ka­lyp­se-Ideo­lo­gie, die für ent­wur­zel­te Indi­vi­du­en sinn­stif­tend wir­ken kann. Womög­lich fehlt Mishra hier der Zugriff auf eine umfas­sen­de­re Theo­rie der Ent­wur­ze­lung und des sun­ni­ti­schen Neo­fun­da­men­ta­lis­mus, die vom fran­zö­si­schen Den­ker Oli­vi­er Roy seit vie­len Jah­ren aus­for­mu­liert wird. Roy taucht indes im Lite­ra­tur­ver­zeich­nis gar nicht erst auf.

Das Zeit­al­ter des Zorns kennt also Stär­ken und Schwä­chen. Ers­te­re über­wie­gen ins­be­son­de­re, was das Ideen­his­to­ri­sche und Gesell­schafts­kri­ti­sche anbelangt.

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Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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