»Ein gelebter moralischer Universalismus kappte den Primat der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung.« Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Lothar Fritze hält sich im Con-iunctivus irrealis auf: Noch ist der moralische Universalismus nicht weltumspannend durchgesetzt, aber wäre er es, stünde es schlecht um Selbsterhaltung und Selbstentfaltung der europäischen Völker.
Unter »moralischem Universalismus« versteht er »die Überzeugung, die Interessen eines jeden nicht anders zu behandeln wie die eigenen (sic!)«. Seine philosophische Herangehensweise ist die: Wie schaute eine Welt aus, in der dieser Satz konsequent umgesetzt würde?
»Die Interessen beliebiger Menschen oder gar beliebiger leidensfähiger Individuen so zu berücksichtigen, als wären es die eigenen, ist verletzbaren und sterblichen Wesen, die in einer Welt endlicher Lebensräume und knapper Ressourcen um ihre Selbsterhaltung kämpfen, entweder nicht möglich oder nicht zuzumuten.« Dieses Argument aus der utilitaristischen Tradition setzt starke anthropologische Prämissen: Grundlage aller Ethik ist das »Mängelwesen« im latenten Kampf aller gegen alle. Ethik ist dann die Kompensation dieses Mangels. Fritzes These könnte man auf die Formel bringen: Ought implies can (»Sollen setzt Können voraus«). In der Migrationskrise klafft eine riesige Lücke zwischen dem moralischen Anspruch des menschenwürdebasierten Universalismus und der realen Möglichkeit seiner Umsetzung. Herausgearbeitet wird in diesem Buch – zu knapp für seine Bedeutsamkeit – der Unterschied zwischen Abwehrrechten und Anspruchsrechten. Diese Differenz kann in der Beurteilung der Migration und eines universalistischen Gebots der Nächstenliebe ausgesprochen hilfreich sein. Menschenrechte sind zunächst als Abwehrrechte gegen Not und den Staat intendiert, so das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder auf Meinungsäußerung. Diese Rechte jedermann zuzubilligen, ist mit Fritzes Endlichkeitsprämisse vereinbar. Anspruchsrechte hingegen erzeugen einen haltlosen infiniten Regreß: Der Anspruchsberechtigte bleibt solange anspruchsberechtigt, bis er irgendwann alle seine Interessen befriedigt hat oder das globale Niveau der Befriedigung ausgeglichen ist. Dieser Zustand liegt irgendwo im Nirvana.
Fritze traut sich am Schluß zwar keine politische Selbstverortung, macht jedoch indirekt deutlich, daß das Pendel, das derzeit zugunsten des Universalismus ausschlägt, dazu führe, jede Kritik am Universalismus als »rechts« zu diskreditieren. Seine eigene utilitaristische Kritik steht in der Linie der konservativen Anthropologie (Gehlen, Lübbe, Eibl-Eibesfeldt) und warnt vor allem vor moralischer Überforderung. Das gelingt ihm ganz sachlich und undogmatisch. Mehr kann man mit einer im Kern anthropologischen Ethikkritik nicht schaffen.
Tiefer bohrt da Achim Lohmars Kritik der Idee der Menschenwürde. Das Buch Falsches moralisches Bewußtsein ist daher für Nichtphilosophen unlesbar. Es enthält allerdings wie in einer Zeitkapsel aufbewahrt alles Werkzeug, das man bräuchte, geriete man die Verlegenheit, begründen zu müssen, inwiefern die ubiquitäre Rede von der »Menschenwürde« unser moralisches Denken korrumpiert hat.
Es handelt sich »um die philosophische Bestätigung des meistenteils unartikulierten Gefühls, dass der Menschenwürde-Diskurs ein bloßes Sprachspiel, wenn auch ein Sprachspiel ist, das sich die Aura eines fortschrittlichen ethischen Bewusstseins zu geben weiß, das alte inegalitäre Irrtümer ein für alle Mal überwunden hat.«
Lohmar ist sprachanalytischer Philosoph und kann daher den Glauben an »Menschenwürde« ohne politische Interessen sezieren. Was folgt nun daraus, die Leser über Menschenwürde als gewohnheitsmäßige »Einübung in das Menschenwürde-Idiom« aufzuklären? Menschenfeindlichkeit? Die Ebenen sind sorgsam zu unterscheiden: Herauszufinden, daß der Menschenwürdeglaube eine Form des falschen Bewußtseins ist, heißt nicht, für menschenunwürdige Praxis zu sein.
Dem Einwand, der Glaube an die Menschenwürde wäre selbst, wenn uns klar würde, daß es ein bloßer Glaube ist, doch für die moralische Integration der Gesellschaft notwendig, begegnet Lohmar ebenfalls. Aufklärung ist Aufklärung über falsches moralisches Bewußtsein, und diese kann immer nur fortschreiten, nicht rückschreiten. Es kann daher nicht sein, daß wir einen falschen Glauben aus moralischen Gründen weiterhin brauchen.
»Reicht es nicht aus, dass wir das Wort ›Menschenwürde‹ regelmäßig im Mund führen, damit Menschenwürde existiert?« fragt Lohmar an einer einzigen sanft polemischen Stelle. Von Fritze aus weiterdenkend, könnte man sagen: Der Universalismus überfordert die Menschen, der Menschenwürdeglaube unterfordert sie.
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Lothar Fritzes Kritik des moralischen Universalismus kann man hier bestellen.
Achim Lohmars Falsches moralisches Bewusstsein kann man hier bestellen.