Die Ereignisse um die deutsche Revolution 1918/19 sind weitgehend erforscht und sensationelle neue Erkenntnisse kaum noch zu erwarten. Bringt ein junger Historiker zu diesem Thema ein Buch heraus, muß er daher zu dessen Begründung schon mit einer steilen These aufwarten. Des Autors Kernthese ist: Die Auswüchse mörderischer Gewalt, die die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert prägten, nahmen ihren Anfang nicht 1933, 1939 oder 1941, sondern 1918/19. Hier sei Deutschland auf den Kurs eingeschwenkt, der später in die Horror-exzesse des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs mündete. Man muß nicht erst das ganze Werk durchgearbeitet haben, um diese Behauptung als falsch bezeichnen zu können. Die Brutalisierung der Gesellschaft hatte eine weit längere Vorgeschichte. Sie geht vielmehr auf das Konto des vierjährigen Weltkriegs. Millionen Soldaten waren gefallen oder zu Krüppeln geworden, Hungerepidemien hatten – selbst noch nach Kriegsende – rund eine Million Zivilisten in Deutschland getötet. Die Soldaten hatten an der Front gelernt, daß militärische Gewalt Tatsachen schafft. Deutsche Sozialisten hatten ihr großes Vorbild Sowjetrußland vor Augen, wo Lenin, Trotzki und Konsorten ebenfalls mit militärischen Gewaltmitteln den Staat umkrempelten und einen Bürgerkrieg vom Zaun brachen. Als Kinder ihrer Zeit waren die Menschen von diesen Ereignissen geprägt – und handelten entsprechend. Das, was Jones »deutsche Revolution« nennt, ist besser als deutscher Bürgerkrieg umschrieben. Nicht die blutigen Umsturzversuche nach Einstellung der Kampfhandlungen haben die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert, sondern die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems am 28. Oktober 1918, also noch vor Abdankung des Kaisers und dem Waffenstillstand. Diese wichtige Weichenstellung erwähnt Jones mit keinem Wort. Sie war auch notwendig geworden, weil ohne »Demokratisierung« der Gesellschaft die Entente-Seite nicht bereit war, in Waffenstillstandsverhandlungen mit Deutschland einzutreten. Alle späteren Versuche, diese Oktoberreformen rückgängig zu machen, stießen auf vehementen Widerstand der durch diesen Akt an die Macht gekommenen SPD-Regierung. Dafür bediente sie sich der Reichswehr, und im Ebert-Groener-Pakt verabredeten SPD und Truppenführung die Aufrechterhaltung der neuen Ordnung und ein gemeinsames Vorgehen gegen linksextremistische Umsturzversuche.
Immer wieder fragt Jones sich und den Leser nach der Motivation für die im Zuge der Bürgerkriegskämpfe aufgetretenen Gewaltexzesse, wobei er die Verantwortung dafür vor allem bei der legitimen Regierung um Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Gustav Noske sowie den durch sie beauftragten Truppen und Freikorps sieht. Wenn der Autor von »Opfern politisch motivierter Gewalt« schreibt, geht dabei unter, daß das Gewaltmonopol beim Staate liegt und dieser befugt und berechtigt ist, das Staatswesen – und wir sprechen hier von einer werdenden parlamentarischen Demokratie, die noch dazu einen äußeren Feind im Nacken hatte – vor gewalttätigen Umstürzen zu schützen.
Jones zählt seitenweise Exzeßtaten auf, die den Regierungstruppen vorzuwerfen sind. Aber nicht alles, was aus der bequemen zeitlichen Entfernung von 100 Jahren als »Greueltat« erscheint, ist auch eine. Wer als Nichtberechtigter mit der Waffe in der Hand angetroffen wurde, konnte erschossen werden. Ergriffene Umstürzler unterlagen dem Standrecht. Gefangene wurden kaum gemacht, außer sie eigneten sich wie in München als Geiseln, die dann beim Einmarsch von Regierungstruppen in die Stadt durch Angehörige der »Roten Garde« ermordet wurden. Die Tat versucht Jones mit dem Hinweis zu beschönigen, sieben der Ermordeten seien Mitglieder der antisemitischen Thule-Gesellschaft, mithin »Rechtsextreme« gewesen.
Für Jones sind nicht die Extremisten von links und rechts und der Mangel an Demokraten verantwortlich für den Untergang der Demokratie, sondern die 1918/19 regierenden Sozialdemokraten, die als »aktive Förderer neuer Formen staatlicher Gewalt« die Delegitimierung der Weimarer Republik betrieben hätten. Er kreiert eine neue Sonderwegsthese, indem er politisches Potential für brutale Gewalt in dieser Zeit nur in Deutschland verortet und dabei die Ereignisse in Rußland, Finnland, im Baltikum, in Ungarn, Polen, Irland, der Türkei oder Tschechoslowakei ausblendet.
»Am Anfang war Gewalt«, schreibt Jones. Er hat recht, nur lag dieser Anfang 1918/19 bereits über vier Jahre zurück. Und der »Friedensvertrag von Versailles« war nichts anderes als eine Verlagerung der Kriegshandlungen auf das diplomatische Parkett. Wie falsch Jones in der Einschätzung der Zeit ist, wird schlagend in seinem Satz deutlich: »Im Juni 1919 akzeptierte die deutsche Republik den Versailler Vertrag.« Wahrheit ist hingegen, daß alle maßgeblichen Politiker der Weimarer Republik diesen »Vertrag« nie akzeptiert, sondern auf seine Revision hingearbeitet haben.
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