Es retten ihn einige sozialkritische Verse aus dem Jahr 1913 vor der Erschießung. Seine Strafe wird abgemildert in einen lebenslangen Hausarrest, und das Haus, das Rostov nie wieder verlassen darf, ist das Moskauer Hotel »Metropol«, mithin »die Verlängerung der Stadt ins Gebäude«, wie Rostov es ausdrückt. Diese Ausgangssituation ist natürlich ein radikales Gleichnis für das bedingte, in einen sehr engen Rahmen gefaßte Leben an sich: Man kann in jeder Festlegung, jeder Grenzsetzung eine Verhinderung der Freiheit sehen, man kann aber auch akzeptieren, daß dies nun der Lebensrahmen sei, den man auszumalen habe, daß kein Jammern etwas daran ändern werde und man am besten gleich damit beginnen sollte, mit kräftigen Pinselstrichen eine Spur zu hinterlassen.
Vier Jahrzehnte verbringt Graf Rostov im »Metropol«, richtet sich ein, durchdringt das Gebäude, schafft sich seine Refugien und hilft zuletzt als Oberkellner seinen Freunden (dem Chefkoch und dem Empfangschef), das Hotel als Widerstandsort gegen die in allen Lebensaspekten (Umgangsformen, Küche, Wein, Musik, Gespräch, Kleidung, Bildung) einsetzende Einebnung zu verteidigen. Grandios ist die Szene, als der Graf bei einem neuen Kellner einen besonderen Wein bestellt, zur Auswahl aber nur noch »weiß« oder »rot« stehen. Ein Gang hinab in den weltberühmten Weinkeller des »Metropol« bringt Aufklärung: Die Bolschewisten haben von zehntausend Flaschen die Etiketten ablösen lassen, um der bourgeoisen Verfeinerung des Gaumens ein Ende zu bereiten – derlei ist für sich genommen vielleicht eine Verfallsschilderung von damals, beim Blick aber auf den Zustand der Geisteswissenschaften an deutschen Universitäten ein erschütterndes Gleichnis für heute.
Daß Graf Rostov sein Leben ganz anders würde geführt haben, wenn er nicht unter Hausarrest (und nicht an die Wand) gestellt worden wäre, durchzieht als Gewißheit den Roman, aber immer auch mit einem Schulterzucken: Es ist nicht zu ändern, und so treibt der Graf nun Dinge, die er andernfalls niemals getrieben hätte. Unter anderem erzieht er im Abstand von zwei Jahrzehnten zwei kleine Mädchen, die auf unterschiedliche Weise unter seine Fittiche geraten. Er versucht ihnen beizubringen, daß es immer einen hortus conclusus für diejenigen geben müsse, die in der Würdigung und in der Aneignung jahrhundertealten Erfahrungsschatzes sowie im vorsichtigen eigenen Beitrag dazu den Sinn ihres Daseins sähen. Genauso fein ist der Erziehungsstil. Wenn die kleine Nina fragt: »Braucht man bei einem Bankett wirklich einen Spargelheber?«, antwortet der Graf: »Braucht man in einem Orchester wirklich ein Fagott?« Man möchte die kulturpessimistischen Grundfragen hinterherschieben: Wem fällt es überhaupt noch auf, wenn hier das eine und dort das andere fehlt, und wer wäre noch dankbar dafür, daß beides einst erfunden wurde?
Den Hintergrund des Romans bildet die Konsolidierung der bolschewistischen Herrschaft, eine grauenhafte Zeit. Durch die schweren Brokatvorhänge des »Metropol« dringen die politischen Verwerfungen nur gedämpft ins Innere, denn »mochte der Sieg der Bolschewiken über die privilegierten Schichten zugunsten des Proletariats noch so klar gewesen sein, sie würden gewiß bald Bankette veranstalten.« Selbst der Zweite Weltkrieg, der dem Grafen die Freiheit hätte bringen können, bleibt im Schnee stecken, bevor er das Metropol erreicht, und Rostov wird einen der führenden Köpfe der Partei jahrelang in veredelten Umgangsformen, in französischer, englischer, amerikanischer Kultur unterrichten müssen – ein Umstand, der ihm wiederum den Kopf retten wird, als er aus einer Not heraus seinen Hausarrest bricht.
Das ist alles glänzend ineinander verwoben und füreinander vorbereitet, obwohl es nicht folgerichtig im Sinne einer Planbarkeit abläuft. Die kleine Nina wird später trotz Rostovs Erziehung als überzeugte Technokratin die Ertragssteigerung in der Ukraine mit ins Werk setzen wollen, deren Ergebnis vor allem in Millionen verhungerter Bauern besteht. Später wird Nina ihren deportierten Mann suchen und selbst verlorengehen. Die kleine Sofia hingegen, Ninas Tochter, bleibt im Hotel, bei Rostov, und sie ist mit ihrem dankbaren Gemüt und ihrem lauschenden Wesen empfänglicher für das, was der Graf zu lehren hat.
Was haben sie zu lehren, Rostov und dieser Roman? Auf die Frage, warum man darauf verzichten sollte, Dubai zu besuchen oder auf die Seychellen zu reisen, sollte man eine zugleich melancholische und stolze Antwort geben: Es gibt in unserem eigenen Land und überhaupt im »alten Europa« noch unendlich viel, was wir noch nicht besucht, aufgesogen, gekostet und gewürdigt haben. Wir haben dem, was uns umgibt und was durch die Jahrhunderte hin zu einer Hochkultur in allen Bereichen verfeinert wurde, unseren Dank noch nicht im gebührenden Maße abgestattet. Vielleicht müßte man uns zu unserem Besten unter Hausarrest stellen. Das Eigentliche – es käme zu uns.
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Andrenio
Eigentlich gehört dies bei einem bescheidenen Adressat allenfalls in ein privates Schreiben, das nachfolgende Lob; zumal bei uns Schwaben gilts“Nix gsagt isch scho gnuog globt“
Du hast in dieser Rezension aber eine solche inhaltliche und stilistische Klasse erreicht, die einen in das unbekannte Buch hineinzukriechen erlaubt, die Umgebung fast zu einer neuen Haut werden lässt - zumindest für ein paar Minuten.
Dieses Hotel, wohl dem Lux nachempfunden, das führende deutsche Kommunisten beherbergte, teilweise in den Gulag oder vor die Erschiessungskommandos ausspuckte - oder in Richtung führende Positionen in der DDR und BRD, ist ein Mikrokosmos, in den die Außenwelt jederzeit ohne Vorwarnung eingreifen kann.
Ob nun Karma, Nemesis oder eine andere schicksalhafte Kraft bestimmend ist, wer will das schon wissen.
Dank Dir Götz für alles!