Wir hören pausenlos von Inklusion, von Teilhabe, vom Riß, der durch die Gesellschaft gehe: Die da unten, die da oben. Der Staatsfunk präsentiert uns Nachrichten »in leichter Sprache«. Es wird kritisiert, daß zeitgenössische Theaterstücke kaum verständlich seien für eine/n, der nicht zehn Semester Komparatistik studiert habe. Es gäbe einen Elitendiskurs, der die Mehrheit außen vor lasse. Die Elite selbst ist es, die diese Kritik formuliert. Ein Teil dieser Elite findet sich in der Jury, die entscheidet, welches Sachbuch mit dem »Preis der Leipziger Buchmesse« honoriert wird. Für ein Land der Dichter und Denker ist es angemessen, daß auf der Auswahlliste keine Bücher erscheinen, die »Welcher Hubraum für welchen Mann?« oder »Vorgartenpflegen leichtgemacht« titeln. Es lebe die intellektuelle Leistungsgesellschaft! Nur, was tun wir vor diesem Hintergrund mit dem Buch des Kultursoziologen Andreas Reckwitz (*1970)?
Nicht nur von der illustren Jury, auch vom Großfeuilleton wird Die Gesellschaft der Singularitäten hochgelobt. Das Buch selbst widmet sich nicht zuletzt solchen Klassenkonflikten und gesellschaftlichen Spaltungen. Dabei ist seine Lesbarkeitsschwelle immanent: Ohne Master-Absolvenz in Geisteswissenschaften geht hier nichts. Lies: »Indem singuläre Einheiten affizieren, stellt sich in der Aneignung eine psychophysische Erringungsintensität ein, die nicht behaviouristisch als Reiz-Reaktion-Sequenz zu verstehen ist, sondern als eine interpretatorische Praxis.« Wer nicht weiß, was ein »kurzfristiger Matthäus-Effekt« ist, was »Keeping up with the Joneses« meint und was die Chiffren »doing generality«, »doing culture« und »doing rationality« genau bedeuten: Hier wird’s nicht erklärt. Schämt euch, ihr Bildungsversager! Nun ist es so: Reckwitz’ Stil ist irisierend. Das kommt einerseits daher, daß er viele, sehr viele Worte kursiviert, und zwar keineswegs nur zentrale Termini. Dadurch entsteht über Strecken eine Art magnetischer, personaler Vortragsstil. Diese Aufmerksamkeitsmarker vermitteln Relevanz und Führung.
Und, zum anderen, zur Hauptsache: Reckwitz ist natürlich ein hochbegabter Denker. Das ist kein akademisches Drauflosgeplaudere. Er verliert den Wald vor lauter Bäumen auch nicht aus dem Auge, nur: Muß a)jedes Blättchen b)zweimal umgewendet werden? Im Kern geht es darum: Seit den 1970er Jahren, und heute verstärkt, hat das Singuläre die Vorherrschaft gewonnen über das Allgemeine. Das Außeralltägliche, das Individuelle, das Originelle und Exklusive zählen, und zwar sowohl was Objekte und menschliche Subjekte als auch »Zeitlichkeiten« und »Räumlichkeiten« sowie Kollektive betrifft. Vorläufer darin, das Einzigartige (vor dem Hintergrund des »Normalen«) zu preisen, war die Romantik. Die Industrialisierung hingegen hat Formalisierung und Standardisierung vorangetrieben. Genau deren Motoren aber, die Ökonomisierung und Technologisierung, haben zur Werterhöhung des Singulären beigetragen. Heute reüssieren der spezielle Typ, das exzeptionelle Kunstwerk, die abgrenzbare Gruppe. Weil der Begriff der »Singulariät« also vielschichtig ist, trägt das altbekannte Konzept des »Individualismus« nichts mehr aus. Reckwitz unterfüttert seine Theorie bisweilen mit phänomenalen Gegenwartsbeobachtungen: wie grundhaft profane Lebensbereiche (das Wohnen und Einrichten, das Reisen, der Umgang mit dem Körper, mit den Kindern) heute eine derartige Aufladung und Aufwertung erfahren, daß sie geradezu sakralen Charakter haben.
Reckwitz arbeitet eine »neue Mittelklasse« heraus, für die Faktoren wie Work-Life-Balance, urbaner Lebensstil, Juvenilisierung, Umwälzung der Geschlechterrollen (man greift auf ein »Portfolio aus Gender-Accessoires« zurück) und Kosmopolitismus tragende Pfeiler bilden. Im Prozeß der Singularisierung gehen Selbstmodellierung (originelle Performance) und Fremdsteuerung (welche originelle Idee fügt sich als Wellenbrecher in den Mainstream?) Hand in Hand. Wenn derjenige erfolgreich ist und »valorisiert« wird, der als Entrepreneur seiner selbst (oder seiner Produkte) zu reüssieren vermag, wer bleibt dann auf der Strecke? Diejenigen, die von jenem Selbstentfaltungsanspruch überfordert sind.
Generell die ohne »kreative Ader«, das in Millionen zählende Fußvolk, das nie irgend etwas mit den Namen »Reckwitz« verbinden wird. Einen weiteren Pferdefuß sieht der Autor darin, daß sich durch die Prämierung singulärer Kollektive (nehmen wir die »Identitären«) ein Aufstieg des dichotomen Denkens (Wir – und die anderen) ereignen könnte. Laut Reckwitz fordert der Rechtspopulismus »das Paradigma des apertistisch-differenziellen Liberalismus in dessen links- und wirtschaftsliberaler Spielart heraus.« Dieser »starke Cleavage basiert auf dem Gegensatz zwischen einer kommunitaristischen Politik der soziokulturellen Gemeinschaft des Volkes auf der einen und auf der kosmopolitischen Öffnung der Identitäten auf der anderen Seite.«
So geht Singularitätsperformance!
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Andreas Reckwitz’ Die Gesellschaft der Singularitäten kann man hier bestellen.