Das macht ihn einfach zu lesen: Die These, daß das Christentum im Laufe seiner Geschichte immer verzerrt, verdorben und verweltlicht worden ist, und seine wahre Gestalt eben nicht von dieser Welt ist, man es also nicht verurteilen dürfe angesichts der vielen sündigen Christen, sondern beurteilen müsse im Blick auf seine ewige Wahrheit, ist zumindest christlichen Lesern unmittelbar verständlich.
Berdiajews zweite These dieses Buches, die der Verlag auch in Untertitel und Buchrückentext ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt, lebt von der Ausdehnung und Umdeutung des Begriffs des »Bürgerlichen«. Berdiajew sieht den »Bürger« nicht etwa als eine frühneuzeitliche Erfindung, die im 19. Jahrhundert zur Blüte gelangte und »bürgerliche Freiheitsrechte« verfassungsmäßig festschrieb, auch nicht wie Marxisten als Klasse der »Bourgeoisie«, sondern als metaphysische Größe. Von daher tragen Titel, Untertitel und die Einleitung von Pater Michael Weigel auch verwirrende Züge: Wer etwas über »das Bürgertum« im Sinne etwa der bürgerlichen Revolutionen von 1789 und 1848 erfahren will, muß diese Epoche als pars pro toto einer bestimmten falschen Welthaltung des Menschen hinzunehmen bereit sein.
Der vorliegende Text entstand 1931 und wurde 1936 in der Schweiz publiziert. Man kann ihn natürlich als prophetischen Text verwenden, etwa, wenn Weigel im Vorwort auf Feminismus, Islamisierung und den gegenwärtigen Papst verweist, Erscheinungen, die allesamt im berdiajewschen Sinne »bürgerlich« sind. »Ein Bürger glaubt, auch wenn er ein guter Katholik ist, nur an das Diesseits, nur an das Sachliche und Nützliche, und er ist unfähig, sich vom Glauben an andere Welten zu nähren. Seinem ganzen Leben gemäß nimmt er das Geheimnis von Golgatha nicht an. (…) es ist der Bürger gewesen, der Jesus Christus gekreuzigt hat.«
Ab diesem Punkt wird die Berdiajew-lektüre schwierig. Der christliche Philosoph steht in einer Linie von den alexandrinischen Vätern über Hildegard von Bingen, Jakob Böhme, Friedrich Schelling bis zu seinen russischen Zeitgenossen Solowjow und Bulgakow, und im deutschen Sprachraum etwa Wilhelm Reich und Rudolf Steiner. Der vorliegende Text setzt also in Wirklichkeit einiges an mystischer, theosophischer und anthroposophischer Weltdeutung voraus. Berdiajew hat die Idee des »Mysteriums von Golgatha« vermutlich von Steiner übernommen, sie kannten einander und ihnen stand dasselbe metaphysische Problem vor Augen. Der »Bürger« ist für Berdiajew diejenige Sorte Mensch, die das Mysterium von Golgatha nie begreifen kann, die Christus in ihre Diesseitsbestrebungen passend einbaut und unfähig ist zu ahnen, daß sich da etwas abgespielt hat, das mehr ist als bloße Sündentilgung im menschlichen Interesse. Berdiajew sieht das Geheimnis wie Steiner von der göttlichen Seite: Es vereinigte sich ein Wesen, einzig in seiner Art, welches bis dahin nur kosmisch war, durch das Mysterium von Golgatha, durch den Tod des Christus, mit den Seelen der Menschen auf Erden.
»Wie verhalten sich die Christen zu dieser Weltagonie?« fragt Berdiajew angesichts der »geistigen Situation der Zeit« (Karl Jaspers) der 30er Jahre. Seine technikkritischen, persönlichkeitspsychologischen und nihilismusfeindlichen Überlegungen locken heut nur mehr wenige hinterm Ofen hervor, wer ihn aber als Mystiker liest, gewinnt eine Welt.
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Nikolai A. Berdiajews Im Herzen die Freiheit. Das Bürgertum zwischen Sinnsuche und Selbstgeißelung, Bad Schmiedeberg: Renovamen 2018. 104 S., 12 € kann man hier bestellen.