Nikolai A. Berdiajew: Im Herzen die Freiheit

Berdiajew zu lesen ist einfach und schwierig zugleich. Der russische Philosoph (1874–1948), der unter Neurechten und in Rußland eine Renaissance erlebt, bedient sich einer klaren Sprache ohne eigene literarische Prägung.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Das macht ihn ein­fach zu lesen: Die The­se, daß das Chris­ten­tum im Lau­fe sei­ner Geschich­te immer ver­zerrt, ver­dor­ben und ver­welt­licht wor­den ist, und sei­ne wah­re Gestalt eben nicht von die­ser Welt ist, man es also nicht ver­ur­tei­len dür­fe ange­sichts der vie­len sün­di­gen Chris­ten, son­dern beur­tei­len müs­se im Blick auf sei­ne ewi­ge Wahr­heit, ist zumin­dest christ­li­chen Lesern unmit­tel­bar verständlich.

Ber­dia­jews zwei­te The­se die­ses Buches, die der Ver­lag auch in Unter­ti­tel und Buch­rü­cken­text ins Zen­trum der Auf­merk­sam­keit stellt, lebt von der Aus­deh­nung und Umdeu­tung des Begriffs des »Bür­ger­li­chen«. Ber­dia­jew sieht den »Bür­ger« nicht etwa als eine früh­neu­zeit­li­che Erfin­dung, die im 19. Jahr­hun­dert zur Blü­te gelang­te und »bür­ger­li­che Frei­heits­rech­te« ver­fas­sungs­mä­ßig fest­schrieb, auch nicht wie Mar­xis­ten als Klas­se der »Bour­geoi­sie«, son­dern als meta­phy­si­sche Grö­ße. Von daher tra­gen Titel, Unter­ti­tel und die Ein­lei­tung von Pater Micha­el Weigel auch ver­wir­ren­de Züge: Wer etwas über »das Bür­ger­tum« im Sin­ne etwa der bür­ger­li­chen Revo­lu­tio­nen von 1789 und 1848 erfah­ren will, muß die­se Epo­che als pars pro toto einer bestimm­ten fal­schen Welt­hal­tung des Men­schen hin­zu­neh­men bereit sein.

Der vor­lie­gen­de Text ent­stand 1931 und wur­de 1936 in der Schweiz publi­ziert. Man kann ihn natür­lich als pro­phe­ti­schen Text ver­wen­den, etwa, wenn Weigel im Vor­wort auf Femi­nis­mus, Isla­mi­sie­rung und den gegen­wär­ti­gen Papst ver­weist, Erschei­nun­gen, die alle­samt im ber­dia­jew­schen Sin­ne »bür­ger­lich« sind. »Ein Bür­ger glaubt, auch wenn er ein guter Katho­lik ist, nur an das Dies­seits, nur an das Sach­li­che und Nütz­li­che, und er ist unfä­hig, sich vom Glau­ben an ande­re Wel­ten zu näh­ren. Sei­nem gan­zen Leben gemäß nimmt er das Geheim­nis von Gol­ga­tha nicht an. (…) es ist der Bür­ger gewe­sen, der Jesus Chris­tus gekreu­zigt hat.«

Ab die­sem Punkt wird die Ber­dia­jew-lek­tü­re schwie­rig. Der christ­li­che Phi­lo­soph steht in einer Linie von den alex­an­dri­ni­schen Vätern über Hil­de­gard von Bin­gen, Jakob Böh­me, Fried­rich Schel­ling bis zu sei­nen rus­si­schen Zeit­ge­nos­sen Solo­wjow und Bul­ga­kow, und im deut­schen Sprach­raum etwa Wil­helm Reich und Rudolf Stei­ner. Der vor­lie­gen­de Text setzt also in Wirk­lich­keit eini­ges an mys­ti­scher, theo­so­phi­scher und anthro­po­so­phi­scher Welt­deu­tung vor­aus. Ber­dia­jew hat die Idee des »Mys­te­ri­ums von Gol­ga­tha« ver­mut­lich von Stei­ner über­nom­men, sie kann­ten ein­an­der und ihnen stand das­sel­be meta­phy­si­sche Pro­blem vor Augen. Der »Bür­ger« ist für Ber­dia­jew die­je­ni­ge Sor­te Mensch, die das Mys­te­ri­um von Gol­ga­tha nie begrei­fen kann, die Chris­tus in ihre Dies­seits­be­stre­bun­gen pas­send ein­baut und unfä­hig ist zu ahnen, daß sich da etwas abge­spielt hat, das mehr ist als blo­ße Sün­den­til­gung im mensch­li­chen Inter­es­se. Ber­dia­jew sieht das Geheim­nis wie Stei­ner von der gött­li­chen Sei­te: Es ver­ei­nig­te sich ein Wesen, ein­zig in sei­ner Art, wel­ches bis dahin nur kos­misch war, durch das Mys­te­ri­um von Gol­ga­tha, durch den Tod des Chris­tus, mit den See­len der Men­schen auf Erden.

»Wie ver­hal­ten sich die Chris­ten zu die­ser Welt­ago­nie?« fragt Ber­dia­jew ange­sichts der »geis­ti­gen Situa­ti­on der Zeit« (Karl Jas­pers) der 30er Jah­re. Sei­ne tech­nik­kri­ti­schen, per­sön­lich­keits­psy­cho­lo­gi­schen und nihi­lis­mus­feind­li­chen Über­le­gun­gen locken heut nur mehr weni­ge hin­term Ofen her­vor, wer ihn aber als Mys­ti­ker liest, gewinnt eine Welt.

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Niko­lai A. Ber­dia­jews Im Her­zen die Frei­heit. Das Bür­ger­tum zwi­schen Sinn­su­che und Selbst­gei­ße­lung, Bad Schmie­de­berg: Reno­va­men 2018. 104 S., 12 € kann man hier bestel­len.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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