Die Schere öffnet sich immer weiter zwischen denen, die das normale Leben kennen und leben, und solchen, die unbeirrt als schreckliche Kinder der Neuzeit ihre verrückte Agenda durchziehen.
Wir erleben die Aufspreizung der »Gesellschaft« (hier ist dieses Unwort ausnahmsweise einmal am Platz) auf einen Abstand außerhalb der Rufweite. Die längst gestörte Verständigung ist abgebrochen, und es faseln die »Sprecher« der anderen, der noch regierenden, den “Diskurs” beherrschenden Seite irgend etwas zusammen, um dem eigenen Treiben noch einen Hauch von Sattelfestigkeit, eine Ahnung von begrifflicher Faßbarkeit zu verleihen.
In Kandel stehen 5000 Teilnehmer für die Rückgewinnung einer selbstverständlichen Bewegungs- und Alltagssicherheit gegen ein »breites Bündnis«, das nur noch einen Bruchteil der empörten Masse aufzubieten in der Lage ist. Regierungsvertreter und selbsternannte Sprecher der »Zivilgesellschaft« begreifen eines nicht mehr: daß immer mehr Deutsche ihr Dorf, ihren Stadtteil, ihr Leben, ihre homezone an den Fuß des Vesuvs versetzt wähnen, nicht wissend, wann das »Verhängnis« glutheiß wie Vulkanasche auf uns herabregnen wird.
Tag für Tag ins Geschirr sich stemmen für einen von Parteiapparaten erbeuteten Staat, der uns das nicht mehr gewährt, wofür wir ihm gerne gehorchten: Sicherheit und Würde? Und nun weitere vier Jahre unter einem Regierungsbündnis aus Niederlage und Untergang ausharren, vier Jahre, in denen das große Experiment unter Einberechnung von Schäden, Zerstörungen, Verwerfungen und Leid weitergeführt wird? Unter dem Zugeständnis selbst seiner Betreiber, daß ganz und gar nicht gewiß sei, ob am Ende ein feines Werkstück (eine neue Gesellschaft) oder ein anarchischer Zustand (eine Staatsruine) dabei herauskommen?
Selbst solche, die qua Amtes an Ruinen und Abbrüchen keinerlei Interesse haben können, beteiligen sich an der Zerstörung der Substanz. Es hält beispielsweise der Kölner Kardinal Woelki die Hand über seinen Kommunikationsdirektor, der in einem Anfall von pompadourschem Humor den Tschechen die Sachsen im Tausch gegen deren Atommüll anbot. Man möchte beide Herren ihrem eigenen Experiment zum Opfer fallen sehen, möchte der Szene beiwohnen, in der sie aus einem der großen deutschen Bauten geschleift werden: aus dem Kölner Dom die Treppen hinunter bis auf die berüchtigte Platte.
»Hilf Herr, wir verderben – da ist niemand, der uns schützt und dem wir trauen können, außer Dir allein«, heißt es abseits solcher (meiner) unversöhnlichen Bilder in einem »Gebet um Errettung des deutschen Volkes«, das in einem abgelegenen Kloster gesprochen wird. Von den Mönchen dort wäre viel zu erzählen. Es sind solche Orte, an denen der Schirm über der abendländischen Christenheit aufgespannt bleibt und ein Erbe verteidigt wird, das unverhandelbar ist.
Auch ein Buch kann ein Erbe verteidigen und als unverhandelbares Gut festhalten. Dem Schriftsteller Martin Mosebach ist mit seiner Arbeit über die an der libyischen Küste enthaupteten koptischen Christen eine Stiftung in diesem Sinne gelungen: Die 21 heißt sein Werk (jüngst erschienen bei Rowohlt), es ist eine Demütigung für den Westen im allgemeinen und für unseren widerständigen Geist im besonderen. Denn man kann es als Frage an der äußersten Grenze der Existenz lesen:
Während es für die 21 koptischen Männer (einfache Leute, unintellektuell tiefgläubig) keine Frage war, daß es nun für den Glauben und in der Nachfolge Christi das Martyrium zu durchleiden gelte, hätte wohl kaum ein Deutscher die (eher geringe) Chance ausgeschlagen, durch Konversion zum Islam (also: Glaubensverrat) das eigene Leben (das irdische Leben) zu verlängern (und das ewige damit wohl zu verspielen).
Bevor sich nun jemand (ich eingeschlossen) glaubenseifrig in die Brust wirft: Lippenbekenntnisse sind wohlfeil, gewogen wird der Glaube in Lagen wie solchen am libyschen Strand. Aber dennoch: Auf welchen unerschütterbaren Säulen ruht denn unser Eigenes, Eigentliches? Auf dem säkularen Staat? Auf dem Mythos unseres Weges durch die Geschichte? Auf dem, was wir »daraus« gelernt haben?
Wie auch immer: Diese Säule des unverhandelbaren Glaubens (ein vertikales Gebilde!) ist das, was wir verteidigen müssen, wenn es uns tatsächlich um die »Errettung des deutschen Volkes« geht. Aber bevor wir sie verteidigen könnten, müßten wir sie wieder aufrichten, diese Vertikale.
John Haase
Chance Vesuv, mit der herabregnenden Asche jeden Tag die Regeln des Zusammenlebens neu aushandeln, wissen sie denn nicht, daß der pyroklastische Strom selbst vor dem Vulkan flieht und ja, herabfallende Gesteinsbrocken von der Größe eines Kleinwagens stellen auch Fragen an unsere Identität, aber machen uns auch stärker.
So, nachdem das weg ist zum Wichtigeren.
Vor ein paar Jahren, als die Christenverfolgung im Orient noch einmal zusätzliche Fahrt aufnahm, waren zwei Freunde und ich einmal bei einer Demo von Orientchristen. Offensichtlich hier aufgewachsene junge Menschen waren dabei (auffällig hübsche Frauen mit vielen Kindern übrigens) aber auch solche, die Deutsch mit Akzent oder gar nicht sprachen. Wir drei waren die einzigen Weißen. Vertreter der deutschen Kirchen kamen nicht. Der Ort? Die Platte vor dem Kölner Dom. Bezeichnend, nicht?