Da waren rundherum Slums. Im rechten Winkel zweigten Straßen von der Autobahn ab, und führten direkt in die Slums hinein. Immer wieder mußten wir halten, weil vor uns jemand eine Vollbremsung hinlegte, um dann in eine dieser Straßen abzubiegen. Wenn man diese Straßen entlang sah, lag da überall Müll. Und daß waren noch die mittelmäßigen Stadtteile! Die ärmsten der Armen wohnten draußen praktisch auf der Müllhalde.
Ich sah ein Kind, das mit einem Plastikkanister zu einem Wasserhahn ging und diese braune Brühe nach Hause brachte. Da wurde mir schlecht. Wenn man das gesehen hat, dann kann man schon verstehen, warum die alle hierher kommen und auch ihr Stück vom Kuchen abhaben wollen.
(nachdenklich)
Und wenn man sich die Weltwirtschaft anschaut, kann man ja nicht sagen, daß wir daran unschuldig sind.
Auf den letzten Satz antworte ich ihm, daß Indien vollkommen korrupt ist (mit dem Durchschnittsintelligenzquotienten versuche ich es erst gar nicht).
Er antwortet:
Aber Korruption gibt es Überall, im Grunde ist das halt nichts anderes, als daß man eben jemanden kennt, der etwas für einen macht. Natürlich, wenn du im mittleren Osten Geschäfte machen willst, da sagt der Scheich dir halt: „Im Übrigen hätte ich gern noch den neuen Ferrari für 300.000€.“ Das gehört mit dazu. Aber im Grunde ist das nichts Anderes, als bei uns.
Szenenwechsel. Ein Gespräch:
„Ich habe diese Reportage über Peru gesehen. Da bezahlt so ein Agrarkonzern der Regierung Wassergeld, dann pumpt der das Wasser aus 150 Meter Tiefe hoch und pflanzt dort seine Avocados an und drum herum verdursten die Menschen.“
„Ich meine, da steckt auch unser Konsumverhalten dahinter“
„Ja, wenn das nur im Supermarkt so gekennzeichnet wäre: „Wegen dieser Avocado sind so und so viele Kinder gestorben.“, aber so ist das schwierig.“
„Es gibt halt zu viele Leute mit zu viel Geld.“
Diese Leute fühlen sich schuldig für das Elend der Dritten Welt. Das ist zunächst nicht so absonderlich, wie es scheint. Denen geht es schlecht, uns geht es gut. Die leben im Elend, wir leben im Überfluß. Seit eh und je haben Menschen zwischen dem Reichtum der Einen und der Armut der Anderen kausale Verbindungen angenommen.
Das ist ja nicht immer falsch. Afrika zum Beispiel ist der ärmste Kontinent der Welt. Seine Präsidenten aber sind die reichsten. Aber genau dagegen, die einheimischen Eliten dieser Länder verantwortlich zu machen, wehrt sich der Durchschnittsdeutsche mit Händen und Füßen.
Ich werde den Verdacht nicht los, daß er tief unter seinen antirassistischen Phrasen weiß, daß die grassierende Mißwirtschaft der Dritten Welt nichts mit diesem oder jenem Regime zu tun hat und alles mit den entsprechenden Völkern. Daß das Krebsgeschwür der Drittweltkorruption etwas ist, was keine Revolution, keine Demokratisierung und kein Good-Governance-Programm jemals beseitigen wird.
Nun ist aber Bestechlichkeit keine Folklore. Brasilianerinnen laufen während des Karnevals im Stringtanga durch die Öffentlichkeit und wackeln dabei mit dem Hintern. Araberinnen schlagen ganzjährig in die entgegengesetzte Richtung aus. Und Franzosen beiderlei Geschlechts essen Frösche, Schnecken sowie den euphemistisch als „Meeresfrüchte“ titulierten Beifang. Selbst wenn es ihn persönlich stört, hindert das den Fremden nicht daran, den betreffenden Kulturen mit Respekt zu begegnen. Auch wenn es ulkig und/oder eklig ist: Das ist deren Kultur, wer bin ich, daß ich mir darüber ein moralisches Urteil anmaße!
Über Korruption und Mißwirtschaft, die ganze Kontinente ins Elend stürzt, mit derselben Geste der Akzeptanz hinwegzublicken, bringt aber keiner zustande. Vor allem dann nicht, wenn die dadurch Verelendeten an unseren Küsten anlanden. Niemand kann diese Zustände wahrnehmen, ohne ein abwertendes Urteil über die besagten Völkerschaften zu fällen und ihnen die Schuld an ihrem Elend selbst zuzuschreiben.
Doch „andere Abwerten“ und „victim blaming“ gehören zu den Todsünden der toleranten Gesellschaft. Zumindest, solange es um lizenzierte Opfergruppen geht, welche unter dem Schutz eines Abwertungsverbotes stehen. Nur verschwindet damit ja kein Problem aus der Welt und mit dem Problem bleibt auch die Schuld an seiner Verursachung erhalten.
Der Schulderhaltungssatz besagt:
Wann immer dem Verursacher A nicht die Schuld an etwas zugerechnet werden darf, geht die Schuld auf B über, wobei B in den seltensten Fällen etwas dafür kann. Solange es sich bei B um weiße Männer handelt, gilt dieser Vorgang in westlichen Gesellschaften als Ausdruck höchster Tugend und Merkmal einer vorurteilsfreien Gesinnung.
Ja, so ist das zweifellos, und dieser Mechanismus funktioniert übrigens nicht nur beim Elend der Dritten Welt. Ich gehöre zu den Jahrgängen, die mit dem Irakkrieg politisiert wurden. Wir Jugendlichen waren sowieso alle dagegen und der größte Teil der Erwachsenen auch. Einen dementsprechend großen Markt gab es für antiamerikanische Literatur im allgemeinen und Schriften gegen die Regierung George W. Bushs im besonderen.
Diese Autoren schrieben alle sehr mutig gegen den US-Imperialismus an, die Israellobby für diesen Krieg verantwortlich zu machen, ging dann aber doch zu weit auf vermintes Gelände. Folglich brauchte es Ersatzbösewichte und die fand man auch: die Ölindustrie, schießwütige Texaner und fundamentalistische Irre aus dem Bible Belt.
Heute ist es mir ziemlich peinlich, aber als Sechzehnjähriger wußte ich ganz genau, daß Exxon Mobile und Bibelspinner, die an die Armageddonschlacht glauben, den ganzen Mittleren Osten in den Abgrund gestürzt hatten. Und daß Amerikaner strunzdumme Rednecks sind. Ich war mächtig stolz, das zu wissen!
In meinem kritischen Antiamerikanismus habe ich damals nicht eine Sekunde lang gemerkt, daß ich die komplette Galerie meiner Feindbilder zweiter Hand aus Hollywood und von der Intelligenzia der amerikanischen Ostküste bezog. Diese Indoktrination mit Ersatzfeindbildern funktionierte so gut, daß ich Michael Moores Bestseller Stupid White Men zur Hälfte durchlesen mußte, um mich mit angegriffen zu fühlen.
Daß solche Schuldverschiebungen so hervorragend funktionieren, liegt daran, daß sie auf subtile Weise eine Tugend ausnützen: Den Unwillen, denen, die es (ob tatsächlich, oder nur angeblich) eh schon schlecht haben, auch noch weh zu tun.
Das moralische Gebot lautet nicht: „Du sollst B beschuldigen, egal ob es stimmt oder nicht!“ Damit kommt man auch bei vielen Durchschnittsmenschen nicht durch. Man muß sich nur einmal anschauen, wie viele Menschen die Hetze gegen Rußland kritisch sehen, die sonst durchaus auf Linie sind.
Nein, der Trick ist viel perfider:
Du kannst doch A nicht beschuldigen. Vor allem nicht Gruppe A, das sind doch Vorurteile und gute und vor allem intelligente Menschen haben keine Vorurteile. Was B anbelangt, auch Gruppe B, nun, da sehen wir stillschweigend darüber hinweg.
Deshalb dürfen wir uns auf kein „Du kannst die doch nicht beschuldigen“ einlassen. Die Schuldvorwürfe landen dadurch nur bei jemand anderem – bei jemandem, der sie wirklich nicht verdient hat.
Gotlandfahrer
Dachte iss einfacher: Wenn Du doof, dann Du überlebst, wenn Du immer heute an Dich denkst. Je mehr Hirn, also im Durchschnitt Deiner Gruppe, dann Du das schaffst mindestens genauso gut. Dann aber Du haben ein bisschen mehr Zeit, Dein Hirn für andere Sachen zu benutzen. Zum Beispiel um Dir zu überlegen, dass es Dir hilft, dem anderen in der Gruppe glauben zu machen, Du seiest der bessere Mensch, weil Du nicht nur an Dich selbst denkst, sondern, anders als jeder sich zuschreiben lassen, muss, auch an andere. Die Intelligenz des Individuums wird zum Nachteil der Gruppe, die Dummheit des Individuums zum - zumindest - Robustheitsvorteil der Gruppe. Kakerlaken schreiben keine Opern, aber sie überleben den Atomkrieg.