Sonntagsheld (55) – Sand im Getriebe

Von der Normalität der Konsensstörung

Es ist eine Bin­sen­weis­heit, dass die poli­ti­sche Stim­mung im Land nicht nur auf Buch­mes­sen und Bran­den­bur­ger Toren, son­dern vor Allem im täg­lich Leben der Men­schen neu ver­han­delt und geformt wird. Das geschieht mal mehr, mal weni­ger bewusst, der Groß­teil die­ser Ent­wick­lun­gen läuft aller­dings sub­ku­tan unter der Epi­der­mis des All­tags ab. Nun kommt es gele­gent­lich vor, dass sich auf die­ser Haut Unrein­hei­ten zei­gen, als jucken­de Stel­len und wun­de Punk­te; und in sol­chen Situa­tio­nen beginnt ein Dilem­ma, wel­ches man auch aus den unpo­li­ti­schen Schat­tie­run­gen der Zivil­cou­ra­ge kennt: Die inne­re Beun­ru­hi­gung begibt sich in einen Wider­streit mit der Sor­ge um das eige­ne Anse­hen. Greift man ein? Wenn ja – wie und wann? Geht man auf Num­mer sicher und küm­mert sich um sei­ne eige­nen Ange­le­gen­hei­ten, oder hört man auf sein Gewis­sen und ris­kiert sich zu bla­mie­ren, oder unan­ge­nehm auf­zu­fal­len? Hin­zu kommt im poli­ti­sche Kon­text natür­lich die Fra­ge: Bezie­he ich Stel­lung, oder blei­be ich ein U‑Boot?

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„Es wird jetzt in Burg­we­del etwas schwie­ri­ger, nar­ziss­tisch die­ses Gut­men­schen­tum aus­zu­le­ben – vor sich sel­ber und vor der Gesell­schaft“ – Die­se nüch­ter­ne Fest­stel­lung steht am Ende eines klei­nen Video­ab­schnit­tes, den mir vor weni­gen Tagen Kol­le­ge Weg­ner zusand­te. Dar­in zu sehen: Die Fuß­gän­ger­zo­ne der nie­der­säch­si­schen Stadt Burg­we­del, in der Ende März ein 17-jäh­ri­ger Syrer eine Frau nie­der­stach und lebens­ge­fähr­lich ver­letz­te, eine Bür­ge­rin Typ „Flücht­lings­mut­ti“ und ihr Schutz­be­foh­le­ner. „Ich hab‘ zwei [Flücht­lin­ge], der eine stu­diert dem­nächst und einer macht eine Aus­bil­dung“ weiß ers­te­re gera­de zu berich­ten, wäh­rend letz­te­rer mit einem Aus­druck betrof­fe­ner Treu­se­lig­keit in der Gegend umher­schaut, da mischt sich auf ein­mal ein Drit­ter in das Gespräch ein. Es ist ein älte­rer Herr, der ihre Aus­füh­run­gen mit zyni­scher Ver­ach­tung ergänzt: „Und die ande­ren ste­chen Leu­te ab“.

Es ist eine simp­le, pro­vo­kan­te Fest­stel­lung, nur ein klei­ner Satz, aber er bringt die Inter­view­part­ne­rin gehö­rig aus dem Kon­zept; als der Bericht aus­ge­strahlt wird, fun­giert die Sze­ne als Auf­ma­cher, der Aus­schnitt mit dem unbe­kann­ten Stö­rer schafft es bis über den Atlan­tik. Der Mann mit dem grim­mi­gen Blick hat mit einer raschen Ent­schei­dung einen Gegen­stand­punkt gesetzt, in einem Bericht, der sonst nur die alt­be­kann­ten O‑Töne enga­gier­ter Bür­ger repro­du­ziert hät­te. Er hat, um das ein­gangs Geschrie­be­ne auf­zu­grei­fen, den Fin­ger direkt in die Wun­de gelegt, anstatt dabei zuzu­se­hen, wie ande­re Gesell­schafts­quack­sal­ber sie not­dürf­tig mit ein paar Pflas­tern und viel Make-Up über­de­cken. Das alles mit­ten am Tag, in einer west­deut­schen Fuß­gän­ger­zo­ne, mit ein paar aus der Hüf­te geschos­se­nen Bemerkungen.

Das Video zeigt deut­lich: Es bedarf nicht immer einer aus­ge­klü­gelt geplan­ten Akti­on, oder einer strin­gen­ten Argu­men­ta­ti­ons­li­nie, um erfolg­reich zu sein. Das Poli­ti­sche wird in der Debat­te ver­han­delt, ja, aber wir, die wir die Herr­schaft über die­se Debat­te erlan­gen wol­len, wis­sen nur zu gut, dass es nicht immer dar­auf ankommt das bes­se­re Argu­ment zu haben. Manch­mal reicht es voll­kom­men aus, ein­fach nur zu stö­ren. Es geht nicht dar­um Cha­os zu stif­ten, es geht dar­um – man erin­ne­re sich an ein legen­dä­res Video der Kon­ser­va­tiv-Sub­ver­si­ven Akti­on – den Geg­ner in einen per­ma­nen­ten Unru­he­zu­stand zu ver­set­zen. Wenn unse­re Akti­vis­ten einen Info­tisch in der Fuß­gän­ger­zo­ne auf­bau­en, eine Akti­on durch­füh­ren, oder ein­fach nur ein paar Fly­er ver­tei­len, dann wis­sen sie, dass das von lin­ker Sei­te nicht lan­ge unwi­der­spro­chen bleibt. War­um soll­ten wir den­je­ni­gen, die uns ver­nei­nen, die­sen Luxus gönnen?

Ich schlie­ße die­sen Sonn­tags­hel­den des­halb dies­mal mit einer etwas unor­tho­do­xen Auf­for­de­rung an mei­ne Leser: Sei­en Sie in der kom­men­den Woche ein­mal Sand im Getrie­be. Gehen Sie mit offe­nen Augen und Ohren auf die Stra­ße; wenn Sie einen Anti­fa-Auf­kle­ber sehen, rei­ßen Sie ihn ab. Wenn Sie an einem lin­ken Info­tisch vor­bei­kom­men, las­sen Sie sich so vie­le Fly­er wie mög­lich geben und ent­sor­gen Sie sie fach­ge­recht. Wenn es am Ort einen Bür­ger­dia­log, oder eine Ver­an­stal­tung der eta­blier­ten Par­tei­en gibt, gehen Sie hin, ergrei­fen Sie das Wort und wider­spre­chen Sie. Und wenn in Ihrer Hei­mat­stadt Men­schen ange­sto­chen wer­den und Ihnen in der Fuß­gän­ger­zo­ne ein Kame­ra­team über den Weg läuft, fas­sen Sie sich ein Herz und stö­ren Sie. 

 

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Kommentare (6)

TS

8. April 2018 18:34

Hervorragend, Politik der tausend Nadelstiche. Sie funktioniert ebenfalls im engsten Freundes- und Familienkreis.

Franz Bettinger

8. April 2018 18:37

Ich habe mich sehr gefreut über diesen spontanen Alltags-Helden, den Sand, den der forsche Mann ins Getriebe der Asyl-Industrieellen streut und ihren Kommentar dazu, Herr Wessels. Sie haben recht: Das sind genau die Leute, die wir brauchen, täglich, überall! Hoffentlich werden es mehr.

Hartwig aus LG8

8. April 2018 19:25

Ein wichtiger Beitrag! Erst kürzlich wieder in einer Runde entfernterer Bekannter nach Offenbarung meines Wählervotums bei der letzten BTW: Diskussion! Man ist von jetzt auf gleich der Exot bei Tische und im besten Fall Objekt von Missionierungsversuchen. Wobei ich mich doch auf das Diskutieren nicht mehr einlassen will (und auch jedem davon abrate)! Ein Statement, eine Provokation, eine Klarstellung und ein nach Möglichkeit höfliches Beenden der Debatte, bevor sie überhaupt beginnt. Wirkt besser als das "Argument".
Der letzte Absatz von Wessels sollte bei jedem Sezessionisten zum aktionistischem Repertoire gehören.

Lotta Vorbeck

8. April 2018 20:30

@Hartwig aus LG8 - 8. April 2018 - 07:25 PM

"... Ein Statement, eine Provokation, eine Klarstellung und ein nach Möglichkeit höfliches Beenden der Debatte, bevor sie überhaupt beginnt. Wirkt besser als das "Argument". ..."

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Selbiges wird meinerseits genauso wie vom @Hartwig aus LG8 gehandhabt. Indem man fruchtlos-ermüdende Blödmannsdiskussionen vermeidet, bleibt man in der Offensive.

Wer sich von saturierten BRD-Konformisten in den Rechtfertigungsmodus drängen läßt, kann nur verlieren.

Götz Kubitschek mit Mikrophon in der Hand unlängst als Demonstrationsredner in Cottbus auf der Ladefläche eines Kleintransporters stehend (sinngemäß): "Ich rechtfertige mich nicht mehr für meine Meinung!"

Thueringer

9. April 2018 16:15

In meiner ostdeutschen Provinz hat man das Glück, nicht mehr allein zu sein. Offen getraut sich in meinem beruflichen Umfeld keiner zu bekennen, daß er z. B. zu den 22% gehört, die in unserem Bundesland AfD zur Bundestagswahl gewählt haben. Als neulich beim gemeinschaftlichen verpflichteten Kaffeetrinken der (westdeutsche) Chef über die AfD herzog, wurde die sonst so gesprächige Runde stiller als sonst. Mein betont scherzhaft vorgetragener Einwand, daß rein theoretisch 3 AfD-Wähler an diesem Tisch säßen, tat er damit ab, daß die hohen Ergebnisse ja durch die ungebildeten Dörfler kämen, und hier sind wir Akademiker ja unter uns.

Wenn der wüßte. Ich denke, er wird bald.

Eine Taktik der Linken übernehme ich schon seit längerem, nämlich die feindlichen Kräfte zu binden. (Das habe ich mir bei friedlich auftretenden Linken an AfD-Ständen abgeschaut.) Bei uns ist ja bald Bürgermeister- und Landratswahl. Die Kandidaten der linken Parteien freuen sich immer, wenn jemand mit ihnen redet. Daß kann man auch sehr lange tun, und sie auch – „das ist interessant, erklären sie mir das genauer, während ich eine Bratwurst hole“ – von den Ständen weglocken.

Und nein, ich fühle mich nicht großartig dabei, wenn ich das mache. Es ist reine Gegenwehr.

Waldgaenger aus Schwaben

11. April 2018 06:54

Diese Erdung der SiN begrüße ich.

Der genannte Held ist kein einsamer Held. Irgendjemand muss auch entschieden haben, das zu senden und irgendjemand muss ihn auch dazu ermutigt haben.

Ich sah in der BILD einen ganzseitigen Artikel über die verletze Frau:
Die junge Frau, offenbar noch im künstlichen Koma, im Bett, überall um sie herum Schläuche und Geräte, als Überschrift:

Mutter: Die Leute sollen sehen, was meiner Tochter angetan wurde!

Die Verletzungen wurden beschrieben. Die Milz muss entfernt werden und durch die Wucht des Messerstoßes sind mehrere Rippen gebrochen.
Wer denkt da nicht: Das könnte meine Tochter, Freundin oder Frau sein.

Vielleicht war es dieser Artikel in BILD über die schwer verletzte junge Frau, die den Held dazu ermutigte.

Die wenigsten Held sind einsame Helden, sondern Kristallisationskerne von Stimmungen.
Statt des Bildes vom Sand im Getriebe möchte ich deshalb ein anderes bringen. Das Bild der Erosion. Wasser sickert in feinste Ritzen und sprengt dann dort Gestein auf.

In Anlehnung an das Buch Kohelet:
Es gibt eine Zeit zum Einsickern und es gibt eine Zeit zum Sprengen.

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