Es ist eine Binsenweisheit, dass die politische Stimmung im Land nicht nur auf Buchmessen und Brandenburger Toren, sondern vor Allem im täglich Leben der Menschen neu verhandelt und geformt wird. Das geschieht mal mehr, mal weniger bewusst, der Großteil dieser Entwicklungen läuft allerdings subkutan unter der Epidermis des Alltags ab. Nun kommt es gelegentlich vor, dass sich auf dieser Haut Unreinheiten zeigen, als juckende Stellen und wunde Punkte; und in solchen Situationen beginnt ein Dilemma, welches man auch aus den unpolitischen Schattierungen der Zivilcourage kennt: Die innere Beunruhigung begibt sich in einen Widerstreit mit der Sorge um das eigene Ansehen. Greift man ein? Wenn ja – wie und wann? Geht man auf Nummer sicher und kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten, oder hört man auf sein Gewissen und riskiert sich zu blamieren, oder unangenehm aufzufallen? Hinzu kommt im politische Kontext natürlich die Frage: Beziehe ich Stellung, oder bleibe ich ein U‑Boot?
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„Es wird jetzt in Burgwedel etwas schwieriger, narzisstisch dieses Gutmenschentum auszuleben – vor sich selber und vor der Gesellschaft“ – Diese nüchterne Feststellung steht am Ende eines kleinen Videoabschnittes, den mir vor wenigen Tagen Kollege Wegner zusandte. Darin zu sehen: Die Fußgängerzone der niedersächsischen Stadt Burgwedel, in der Ende März ein 17-jähriger Syrer eine Frau niederstach und lebensgefährlich verletzte, eine Bürgerin Typ „Flüchtlingsmutti“ und ihr Schutzbefohlener. „Ich hab‘ zwei [Flüchtlinge], der eine studiert demnächst und einer macht eine Ausbildung“ weiß erstere gerade zu berichten, während letzterer mit einem Ausdruck betroffener Treuseligkeit in der Gegend umherschaut, da mischt sich auf einmal ein Dritter in das Gespräch ein. Es ist ein älterer Herr, der ihre Ausführungen mit zynischer Verachtung ergänzt: „Und die anderen stechen Leute ab“.
Es ist eine simple, provokante Feststellung, nur ein kleiner Satz, aber er bringt die Interviewpartnerin gehörig aus dem Konzept; als der Bericht ausgestrahlt wird, fungiert die Szene als Aufmacher, der Ausschnitt mit dem unbekannten Störer schafft es bis über den Atlantik. Der Mann mit dem grimmigen Blick hat mit einer raschen Entscheidung einen Gegenstandpunkt gesetzt, in einem Bericht, der sonst nur die altbekannten O‑Töne engagierter Bürger reproduziert hätte. Er hat, um das eingangs Geschriebene aufzugreifen, den Finger direkt in die Wunde gelegt, anstatt dabei zuzusehen, wie andere Gesellschaftsquacksalber sie notdürftig mit ein paar Pflastern und viel Make-Up überdecken. Das alles mitten am Tag, in einer westdeutschen Fußgängerzone, mit ein paar aus der Hüfte geschossenen Bemerkungen.
Das Video zeigt deutlich: Es bedarf nicht immer einer ausgeklügelt geplanten Aktion, oder einer stringenten Argumentationslinie, um erfolgreich zu sein. Das Politische wird in der Debatte verhandelt, ja, aber wir, die wir die Herrschaft über diese Debatte erlangen wollen, wissen nur zu gut, dass es nicht immer darauf ankommt das bessere Argument zu haben. Manchmal reicht es vollkommen aus, einfach nur zu stören. Es geht nicht darum Chaos zu stiften, es geht darum – man erinnere sich an ein legendäres Video der Konservativ-Subversiven Aktion – den Gegner in einen permanenten Unruhezustand zu versetzen. Wenn unsere Aktivisten einen Infotisch in der Fußgängerzone aufbauen, eine Aktion durchführen, oder einfach nur ein paar Flyer verteilen, dann wissen sie, dass das von linker Seite nicht lange unwidersprochen bleibt. Warum sollten wir denjenigen, die uns verneinen, diesen Luxus gönnen?
Ich schließe diesen Sonntagshelden deshalb diesmal mit einer etwas unorthodoxen Aufforderung an meine Leser: Seien Sie in der kommenden Woche einmal Sand im Getriebe. Gehen Sie mit offenen Augen und Ohren auf die Straße; wenn Sie einen Antifa-Aufkleber sehen, reißen Sie ihn ab. Wenn Sie an einem linken Infotisch vorbeikommen, lassen Sie sich so viele Flyer wie möglich geben und entsorgen Sie sie fachgerecht. Wenn es am Ort einen Bürgerdialog, oder eine Veranstaltung der etablierten Parteien gibt, gehen Sie hin, ergreifen Sie das Wort und widersprechen Sie. Und wenn in Ihrer Heimatstadt Menschen angestochen werden und Ihnen in der Fußgängerzone ein Kamerateam über den Weg läuft, fassen Sie sich ein Herz und stören Sie.
TS
Hervorragend, Politik der tausend Nadelstiche. Sie funktioniert ebenfalls im engsten Freundes- und Familienkreis.