Ein kläglicher letzter Überrest politischer Religiosität ist das von unseren Politikern mit unterschiedlichem Erfolg beschworene Wir(gefühl): „Wir schaffen das“; „Wir lassen uns unsere Art zu leben nicht nehmen“. Dass dieses mystische Wir eigentlich nur noch in pfäffischer, d.h. priesterlich-betrügerischer Absicht verwendet wird, steht mit der politischen Religiosität nicht in Widerspruch: auch Priesterbetrug kann es nur geben und funktioniert nur unter der Voraussetzung, dass die Menschen religiös sind.
Der seltsame Begriff „politische Religionen” wird seit Eric Voegelins gleichnamiger Studie von 1938 eigentlich nur für die drei totalitären ‑ismen Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus gebraucht.
Klar geht aus Voegelins Studie hervor, dass diese ‑ismen bloß aktivistische Extreme politischer Religiosität darstellen. Im Säkularismus nämlich ist trotz kategorischen Ausschlusses Gottes – Stichwort Gott ist tot– die Politik religiös, mindestens aber durch eine Form innerweltlicher Religiosität mitbestimmt. Das gilt keinesfalls nur für die Totalitarismen. Oft wird übergangen, dass Voegelin auch die Demokratie als politische Religion gedeutet hat.
Dem ganz in Liberalismus und Demokratie eingetauchten Leser mag dabei folgendes durch den Kopf gehen: „Es geht nicht an, in einen einzigen Topf, der noch dazu »politische Religion« heissen soll, ohne Unterschied gute – Liberalismus, Demokratie und Humanismus – wie schlechte– die Totalitarismen – weltanschauliche Hervorbringungen zu werfen. Und, was soll das überhaupt heissen, »politische Religion«?“ Damit stimmt dieser Leser haargenau überein mit einem prominenten Kritiker des Begriffs, mit Hannah Arendt nämlich.
Eigens zu seiner Widerlegung hat Arendt einen vor historisch-philosophischer Gelehrsamkeit nur so strotzenden Vortrag gehalten, „Politik und Religion“ (1953). Die in ihm zum Zuge gekommene Methode sieht zusammenfassend so aus: Das Religiöse wird aus dem Politischen wegoperiert, nicht etwa deswegen, weil das Religiöse für das Politische ein Makel wäre, sondern umgekehrt soll es unschön sein für die Religion, mit der Politik, namentlich mit totalitären politischen Ideologien, in Verbindung gebracht zu werden. Und tatsächlich scheint es Arendt in ihrem Vortrag um die Reinheit und Makellosigkeit, um die Freiheit der Religion von der Politik gegangen zu sein.
Arendt redet bezeichnenderweise pfäffisch, nicht philosophisch, von der „Gefahr der Blasphemie, die stets dem Begriff »säkulare Relgion« innewohnt”, und spricht durch den Gefahrenhinweis letztlich ein Tabu aus. Freilich ist das ein Tabu nur für denjenigen, für den das Wort, besser noch die Sache „Blasphemie“ noch etwas bedeutet, für den Gläubigen. Wie bei jedem Tabu, so handelt es sich auch bei dem von Arendt über den Begriff „politische Religion“ verhängten um ein Erzeugnis religiöser Scheu und Furcht, um Ehrfurcht vor einem Höheren (Kraft? Wesen?), dessen Herrlichkeit, Heiligkeit und Göttlichkeit es zu wahren gilt.
In seinem bekanntesten Werk Die neue Wissenschaft der Politik (1952) hat sich Voegelin scheinbar zu den katholischen Kritikern des säkularen (liberalen) Staats, den Traditionalisten und Ultramontanen des 19. Jahrhunderts, gesellt. Sein Rückgriff auf die Scholastik und Aristoteles scheint diese Sicht zu bestätigen. Wichtig sind christliche und griechische Theologie und Philosophie Voegelin gerade deshalb, weil ihm zufolge die Prinzipien der Ordnung nicht allein aus einer rein diesseitigen Wirklichkeit bezogen werden können. Ganz wesentliche soziologische und anthropologische Ordnungsprinzipien beruhen auf Erfahrungen religiöser Natur, die die Diesseigkeit und, damit auch, die Sinneserfahrung übersteigen, d.h. auf der Erfahrung von Transzendenz.
Wie jede innerweltliche Religiosität folgt auch die politische einem Schnitt, bzw. macht selbst diesen Schnitt, der unsere Welt von der Transzendenz trennt und verabsolutiert. Eine reine Diesseitigkeit, wie wir sie alle kennen, ist die Folge. Mit der Verneinung, in Form der Behauptung der Unmöglichkeit und Unsinnigkeit von „Metaphysik“, der Möglichkeit der Erfahrung von Transzendenz, geht der Verlust wesentlichster Ordnungsprinzipien einher.
Das aber will nicht heissen, dass mit dem aus-dem-Blickfeld-geraten des transzendenten Gottes und dem Ende metaphysischer Spekulation die Notwendigkeit von Ordnung sowie die religiöse Haltung überhaupt verloren gingen.
Innerweltlich enstehen neue, immer mehr unvollkommene, weil rationalistisch und naturalistisch – Voegelin nennt sie später gnostische– politisch-soziale Ordnungen. Auch kommt es zu sehr zweifelhaften religiösen Erfahrungen, die in der Seele mehr Verwirrung anrichten denn Ordnung stiften. Mit der gesamten Sozialwissenschaft und ‑philosophie kommt Voegelin zu dem Ergebnis, dass Ordnung in Staat und Gesellschaft und Ordnung der Seele sich gegenseitig entsprechen und bedingen. Voegelin schließt mit Plato, wo die Seelen verwirrt sind, da wird auch die gesellschaftlich-staatliche Ordnung höchst unvollkommen sein und umgekehrt.
Voegelins Studie von 1938 geht nicht allein von christlichen Voraussetzungen aus. In der Bibliographie nennt Voegelin die kleine Schrift Alexander Ulars Die Politik (1906) den „einzigen dem Verfasser bekannt gewordene prinzipiell neuere Versuch, das politische Problem als religiöses zu verstehen.” Aufgrund des von Ular benützten völkerkundlichen Materials hat Arendt gegenüber Voegelin den Einwand erheben können, das Problem politischer Religiosität beschränke sich auf primitive Stammesgesellschaften, bei denen Politik und Religion noch nicht geschieden seien. Ular hat tatsächlich völkerkundliches Material, und zwar zu Anschauungs‑, besonders aber zu polemischen Zwecken hinzugezogen.
Arendt spricht von auf dieses Material gestützter „Argumentation”, in Wirklichkeit handelt es sich dabei aber um Provokation. Ular wollte seine Leser bewusst provozieren, eine Methode, die nicht erst von Ular in die Sozialwissenschaften eingeführt wurde und so eigentlich nicht zu beanstanden ist. Auch stand für Ular die These, dass hinter bzw. in der Politik die Religion steckt, schon fest, bevor er sich seine „Beweise” von der Völkerkunde „holte” (Arendt).
Ob mit oder ohne Ular, die Hauptwurzel von Voegelins „Politische Religionen” ist nicht in völkerkundlichen oder in geschichtlichen Materialen zu suchen, sondern im sonderbaren Junghegelianer Max Stirner (1806–1856).
Im Einzigen und sein Eigentum (1844) führt Stirner ausdrücklich aus: „Und was wird heutigentages nicht alles Religion genannt? Die „Religion der Liebe”, die „Religion der Freiheit”, die „politische Religion”, kurz jeder Enthusiasmus. So ist´s auch in der Tat.” Es war bei Stirner, nicht bei Ular, bei dem Voegelin nicht nur Begriff und Stichwort, sondern auch eine unübertroffene Auseinandersetzung des Problems fand. Stirners Interpretation ist alles andere als ein extravaganter, weil hilfloser, moralische Protest des „Einzigen” gegen sein Zeitalter – als solchen hätte Marx es in seinem antitheologischen Affekt am liebsten dargestellt –, sondern eine Hervorkehrung des Liberalismus, mit seinen Niederschlägen im Legalismus und Juridizismus des bürgerlichen Rechtsdenkens, als eines, wenn auch diesseitigen, so doch zweifellos religiösen Prinzips.
Dank Stirner wissen wir, nicht umsonst beginnt Voegelins eigentliche Untersuchung der politischen Religionen mit einer Auseinandersetzung der damals sehr bekannten „Schuldefinition des Staats“ des Staatsrechtlers Georg Jellinek (1851–1911): „Der Staat ist eine Verbandseinheit sesshafter Menschen, ausgestattet – Jellinek selbst hatte ausgerüstet geschrieben – mit ursprünglicher Herrschermacht.” Allein dieser Ausgangspunkt Voegelins vom rechtsstaatlichen liberale Denken des neunzehnten Jahrhunderts zeigt, der Begriff „politische Religion“ ist nicht eigens für den viel später aufgetretenen Totalitarismus geprägt worden, sondern hat tatsächlich den Liberalismus zum Gegenstand. In seinem bekanntesten Werk Die neue Wissenschaft der Politik (1952) schließlich sind die Spitzen gegen den Liberalismus zwar wenig zahlreich, dafür aber umso pointierter.
Arendt musste für ihren Vortrag allerschwerstes Geschütz auffahren, um eine andere Sicht der Dinge zu rechtfertigen.
„Max Weber konstruierte seinen Idealtypus des »charismatischen Führers« nach dem Modell von Jesus von Nazareth; Schüler von Karl Mannheim fanden es nicht schwierig, dieselbe Kategorie für Hitler zu verwenden. Aus der Sicht des Sozialwissenschaftlers seien Hitler und Jesus identisch, weil sie dieselbe soziale Funktion erfüllen. Offensichtlich ist eine solche Schlussfolgerung nur für Menschen möglich, die sich weigern, das zur Kenntnis zu nehmen, was Jesus oder Hitler gesagt haben. Etwas ziemlich Ähnliches scheint heute dem Begriff »Religion« zu widerfahren.”
Zum Vergleich lohnt es sich, die Rechtfertigung des preußischen konservativen Historikers Heinrich Leo (im Vorwort zu seiner Naturlehre des Staates [1833]) heranzuziehen:
„Ich habe in folgenden Blättern den Israelitischen Staat öfters eine Ideokratie genannt, und ihn so nach einer Seite hin in Eine Kategorie gebracht mit einer mannichfaltigen Reihe anderer grossentheils höchst widerwärtiger Erscheinungen, namentlich mit Robespierre´s Staat. Das ist etwa, wie wenn man Gott und Teufel auch in dieselbe Kategorie bringt, weil Beide Geister sind.“
Aus Leos weiteren Ausführungen geht klar hervor, dass er sehr wohl unterschieden hat zwischen den beiden „Ideokratien“. Leo formuliert sogar ein Werturteil: die „jüdische Theokratie“ ist ihm im „Ganzen… politisch verehrungswürdig“. Allein strukturellen Gemeinsamkeitensind es, welche den Gebrauch ein und desselben Begriffs für beide „Erscheinungen“ rechtfertigen. Damit aber wird der Wertfrage kein Abbruch getan, wie Arendt glauben machen möchte.
Genau so, wie man mit dem Begriff der Ideokratie auf den ersten Blick höchst unterschiedliche historische Phänomene in Bezug setzen und verstehen kann, so erlaubt es der Begriff der politischen Religion, bestimmte politische Phänomene durch ein weiter gehendes Verständnis von Religion zu verstehen: die „politischen Religionen“.
Von Arendts moralisierendem Diskreditierungsversuch einmal abgesehen, besteht die tatsächliche Gefahr darin, dass das Wort „politische Religion“ inflationär, unangemessen oder missbräuchlich, in manipulativer Absicht, gebrauch wird. Die längst stattgefundene Verengung auf den Totalitarismus zeigt dabei ganz deutlich, wohin der Trend gegangen ist: Wenn überhaupt „politische Religion“, dann doch bitte nur für die uns unliebsamen politischen Erscheinungen, d.h. für den Totalitarismus bzw. „totalitäre Bewegungen“.
Gustav
Jede Herrschaftsrechtfertigung ist eben in ihrem Kern Religion. Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe, denn jede große politische Frage birgt eine große theologische Frage in sich. Daher ist jedes System nur im Kern seiner metaphysischen Letztrechtfertigung erfolgreich angreifbar. Diese wird es mit quasireligiöser Inbrunst verteidigen und dabei mit den Waffen der Ketzerverfolgung zurückschlagen müssen, oder es wird untergehen. Es genügt nicht, die Handlungen des Abweichlers zu verbieten. Auf Dauer läßt sich ein System nur verteidigen, wenn es alle Taten und die Gesinnung desjenigen verflucht, der es abschaffen will. Der Humanitarismus ist die Zivilreligion des Liberalismus. Der angeblich aufgeklärte, säkularisierte Deutsche entpuppte sich als ebenso anfällig für das Pathos der heute dominanten humanitaristischen Zivilreligion wie sein mittelalterlicher Vorfahre für die christliche Religion.
Zu den Dogmen der humanitaristischen Zivilreligion gehören neben der Souveränität des transzendent aufgefaßten Volkes ein metaphysisches Verständnis der Menschenrechte und ähnliche Gedankenkonstrukte. Sie werden von ihren Gläubigen mit derselben Wut verteidigt, über die Voltaire im März 1737 an Friedrich schrieb: "Alle Theologen aller Länder [sind] Leute, die von heiligen Schimären trunken sind, [und] ähneln jenen Kardinälen, die Galilei verdammten..." So zeigt sich heute der theologische Kern der humanitaristischen Menschenrechts- und Demokratietheorie, der alle Säkularisierungen überstanden hat. Demokratie, Humanität und Betroffenheit werden heute nicht rational benutzt, sondern ideologisiert und wie eine säkularisierte Theologie gepredigt.
Mit welchen Begleiterscheinungen so etwas vonstatten zu gehen pflegt, hatte Friedrich der Große am 4.11.1736 an Voltaire formuliert: "Was die Theologen angeht, so scheint es, als ähnelten sie sich alle im allgemeinen, gleich welcher Religion oder Nation sie angehören; stets ist es ihr Bestreben, sich über die Gewissen eine despotische Autorität anzumaßen." 230 Jahre nachdem Friedrich das schrieb, folgte auf die skeptische Nachkriegsgeneration wieder eine theologisierende: Wo moralische Hypotheken und Schuldvorwürfe das Gewissen überlasteten, wurde sie das Gewissen, um Gewissen nicht mehr haben zu müssen; sie entkam dem Tribunal, indem sie es wurde. Sie verteidigt ihr philiströses Moralin mit derselben Inbrunst wie die Gläubigen aller Zeiten ihre jeweiligen Götter. Friedrich hatte sie in einem Brief an Voltaire am 6.7.1737 so charakterisiert: "In Deutschland fehlt es nicht an abergläubischen Leuten, auch nicht an von Vorurteilen beherrschten und bösartigen Fanatikern, die umso unverbesserlicher sind, als ihnen ihre tumbe Unwissenheit den Gebrauch der Vernunft verbietet. Es steht fest, daß man im Dunstkreis solcher Untertanen vorsichtig sein muß. Selbst der ehrenhafteste Mensch ist verschrien, wenn er als Mann ohne Religion gilt. Religion ist der Fetisch der Völker. Wer auch immer mit profaner Hand an sie rührt, er zieht Haß und Abscheu auf sich."