Ich versuche, jene Passage des Gespräch zu protokollieren, in der sich eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Bekenntnis und seiner Allgemeingültigkeit abzeichnete:
Sie: Mein Priesterfreund stellte genau diese Frage in seinem letzten Brief – wie denn eine Ordnung aussähe, wenn die Konservativen, also die “Neue Rechte” sich durchsetzen könnte.
Ich: Es gibt auf diese Frage stets zwei Antworten. Die eine beinhaltet das eigentlich Notwendige, die andere das gerade noch Mögliche, und zwar im Bezug auf die Formierung der Massengesellschaft. Nur in diesem Bezugsrahmen nämlich klaffen dieses eigentlich Notwendige und das gerade noch Mögliche lähmend weit auseinander. Lähmend weit, weil – hat man diesen unüberbrückbar klaffenden Graben einmal wahrgenommen – nur mehr eine konservative, kommunitaristische “Begleitung” des Niedergangs möglich ist, aufs Ganze gesehen.
Sie: Bist Du deswegen aufs Ganze gesehen ratlos? Diese Gedanken Richard Millets über den “erschöpften Sinn” – Dominique Venner war aufs Ganze gesehen auch ratlos, aber seine Konsequenz, seinen Selbstmord vor fünf Jahren am Altar von Notre Dame, lehne ich als Geste rundheraus ab. Denn sie ist nicht nur aufs Ganze gesehen, sondern in jeder Hinsicht ratlos.
Ich: Aber wir (wir Deutsche, wir Europäer) haben doch alles ausprobiert, wirklich alles. Auch in dieser Hinsicht sind wir die Erben der “toten weißen Männer”, die wir lieben sollen. Woher mag, aufs Ganze gesehen, Verbindlichkeit kommen, und zwar gedeihliche Verbindlichkeit, also: fruchtbar ordnende Verbindlichkeit? Wir haben Gott abgeräumt und es mit der Vernunft versucht; wir haben eine ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts in Gang zu setzen versucht und dann die ‑ismen durchexerziert: den Nationalismus, den Kommunismus, den Faschismus, den nationalen Sozialismus, den internationalen Sozialismus, den Demokratismus – und immer stand dahinter die Überzeugung, daß es etwas Aufrichtendes, etwas Vertikales geben müsse, um die Masse aus- und aufzurichten. Im Vergleich zur göttlichen Vertikalen sind diese Realtranszendenzen sozusagen kopierte Vertikalen, Ersatzvertikalen – immerhin Entwürfe mit Anspruch auf Verbindlichkeit.
Sie: Allesamt gescheitert oder katastrophal aus dem Ruder gelaufen. Und ich meine sogar, daß es überhaupt keinen Sinn mehr hat, in Realtranszendenzen zu denken oder in einer Rückbesinnung (einer ewig gültigen Besinnung) auf die Vertikale Gottes aufs Ganze des Volks oder der Gesellschaft zu zielen. Es kommt vielmehr darauf an, daß Einzelne in sich das Aufrichten, was insgesamt verloren ging. Anders ausgedrückt: Wir müssen akzeptieren, daß wir mit unserer Arbeit nicht mehr auf ein “Wir” zielen können.
Ich: Das wäre das Ende der Massenpolitik als Formierungspolitik.
Sie: Mag sein, aber es ist der einzige Weg. Für alles andere fehlen die Voraussetzungen, und damit meine ich nicht irgendeine rechte Machtoption oder demographische Potenz für morgen, sondern den geschlossenen Raum, der unverzichtbar für die Formulierung und Durchsetzung des Verbindlichen wäre.
Ich: So ist das nicht präzise genug ausgedrückt. Es gibt ja durchaus etwas Verbindliches: die Selbstoptimierung, die eine Emanzipation des Ichs von den anderen voraussetzt und einen Gutteil seines Antriebs aus der Vorstellung gewinnt, daß das Individuum menschheitsunmittelbar sei, also keine Zwischeninstanz mehr akzeptieren müsse und als optimiertes Ich wiederum der Menschheit am besten diene.
Sie: Das ist exakt der Punkt, und von dieser Emanzipierung des europäischen Ichs führt kein Weg zurück in eine einordnende Verbindlichkeit.
Ich: Das stimmt wohl, und es ist verheerend. Bei allem Individualismus und aller Selbstoptimierung muß sich dieses Ich nämlich trotzdem nicht egoistisch fühlen und infrage stellen – denn aus seiner Menschheitsunmittelbarkeit folgt eine im Konkreten unverbindliche, im Mentalen jedoch extrem entlastende “moralische Weltordnung”, die es dem Einzelnen gestattet, fast jede seiner oft absurden Handlungen und Entscheidungen nur an sich selbst abzumessen. Hier ist die “Vertikale” zu einem Trick verkommen.
Sie: Aber verstehst Du trotzdem, warum es der einzig gangbare Weg ist, diese Voraussetzung aufzugreifen? Die Selbstoptimierung ist das nicht veränderbare Paradigma unserer Zeit – und diese Selbstoptimierung in eine Richtung zu treiben, die ihrem suggerierten Kern diametral entgegensteht, ist unsere subversive Aufgabe: vertikal statt horizontal! Selbstoptimierung als Hingabe an die göttliche Ordnung beispielsweise, oder als Hingabe an eine konkrete, auf meinen Dienst und meine Liebe und meine Dankbarkeit angewiesene Lebenswelt, die – das garantiere ich Dir – ausstrahlen wird auf andere, die sich selbst ebenfalls in diese dienende, dankbare Richtung “selbstoptimieren” wollen. Oder, mit den Bremer Stadtmusikanten gegen Venners Weg gesagt: Etwas besseres als den Tod findest du allemal.
Ich: Das klingt sehr bescheiden und in seiner Beschränkung fruchtbar, weil es dem Hader den Boden unter den Füßen wegzieht. Woher hast Du das?
Sie: Unter anderem las ich Adalbert Stifters Nachsommer – vielleicht die weiseste, weil aufgreifende und umwandelnde Antwort auf die aufs Ganze zielende Hybris.
Tobinambur
Sind wir in unserem Denken und mehr noch in unserem Hoffen und Sehnen vielleicht habituelle Linke? Der Glaube an eine rechte Utopie, an ein rechtes Eschaton, ein Kommendes, eine perfekte Ordnung, in der die Vertikale gepflegt wird, ist ein so offensichtliches Analogon zur linken, sozialistischen, totalitären Utopie, in der die Horizontale gepflegt wird, dass wir diesen Universalismus zu allererst herausreißen müssen, um auch nur einen Schritt voran zu kommen. Es ist eine säkularisierte christliche Idee.
Die sozialistische Idee ist ein spätes Produkt der Säkularisierung, aber die politische Vision der Rechten ist mehr noch als das: Es ist eine Frühform der Säkularisierung. Genau das behauptet ja letztlich die politische Theologie. Doch damit ist es vorbei. Hat nicht gerade Carl Schmitt dies geahnt, als er sich am Ende seines Lebens für die Gnosis zu interessieren begann? War nicht der Sieg der Kirche und ihrer politischen Struktur den Dogmen der Kirchenväter zu verdanken, die diese GEGEN die Abweichler der Gnosis durchsetzten: argumentativ, mit Bücherverbrennungen und schließlich mit der Polizeigewalt des ganzen römischen Reiches? Man lese dazu: „Elaine Pagels: Versuchung durch Erkenntnis“, ein Augenöffner.
Ohne diese katholische Kultur (ist mir lieber als abendländisch-christlich, denn dieser Begriff ist bloßes Wischiwaschi) gäbe es unsere Kultur nicht, auch nicht die darin eingebetteten Deutschen (wie sie mal waren). Aber der Katholizismus hat auch den Keim des Niedergangs in sich. Denn alles ist vergänglich. (Ich weiß, es gibt noch viele Gründe. Und ich denke nicht monokausal, aber die katholische Lehre ist eine der Grundfrequenzen unserer Kultur, ihr basso continua.). Erst im Nachhinein können wir Ursachen und Gründe des Niedergangs erkennen. Eine gnostische Kultur wäre eine andere Kultur geworden - und wahrscheinlich wäre sie schon wesentlich früher untergegangen. Denn eines muss man der katholischen Kirche lassen: sie zeigte Stabilität, Dauer und Größe. Aber das ist auch verhängnisvoll. Es suggeriert Dauer, die es nicht gibt.
Aus diesem Grunde (u.a.) bin ich Buddhist, denn wohin ich mich wende, sehe ich die Menschen in die teuflische Falle des Universalismus und des sub specie aeternitatis tappen, Linke wie Rechte. Den Universalismus und das Prinzipielle zu verabschieden (Odo Marquard) ist das Gebot der Stunde: partikularistisch, regionalistisch, lokal, individuell (im Sinne von unabhängig) kämpfen, leben, vorleben, Modell sein - das ist geboten! Tun was vor der Nase liegt! Angefangen bei sich selbst, bei seinen Kindern und seiner Familie, seinem Dorf, seiner Region… irgendwann verliert sich diese Reihe in den eisigen Höhen der Abstraktion. Die Idee des Volkes ist an der Grenze. Grenzen sind immer heiß umkämpft. Hinter dieser Grenze liegen die Idee des „die die schon länger hier sind“, reine Mengenangaben also, Quantitäten, von jeder Qualität abstrahiert. Wir können diese zunehmende Abstraktion, Entindividualisierung, Ent-Volkung, dieses Marschieren in die gleiche Richtung hin zur noch größerer Gleichschaltung nur stören. Symmetriebrüche, alles chtonische, chaotische, ursprüngliche, Eigene stört die Vereinheitlichung und bildet Wirbel, lokale Zentren etc. War nicht vielleicht der Flickenteppich der deutschen Vielstaaterei viel besser (und „rechter“) als die vereinheitlichte Nation? Ein solcher einziger Nationenkörper lässt sich viel leichter vergiften, als ein Bündel nahezu unabhängiger Staaten, die aber als Volk und Kultur vereint sind.