In einer Rede oder einem Text aus den vergangenen zwei Jahren schlug ich vor, die Rechtfertigungsrichtung umzudrehen:
Nicht wir sollten uns zukünftig dafür rechtfertigen müssen, daß wir gegen die Überfremdung, gegen die Aushöhlung des Souveräns (also: des Volkes) oder gegen die Verschleuderung des Volksvermögens und die Kapitalisierung aller Lebensbereiche auf die Straße gingen, anschrieben oder uns in die Parlamente wählen ließen.
Rechtfertigen müssen sollten sich fortan diejenigen, die stets mit dem Ganzen (dem Staat, der Rechtsordnung, der relativen Homogenität des Volkes, den Erziehungsgrundsätzen, der Inneren Sicherheit) experimentierten – dabei wissend, daß es für sie selbst immer Schutz vor den Folgen schiefgegangener Experimente gäbe.
Jedoch: Bevor sich jemand rechtfertigt, muß ihm die Überzeugung genommen werden, er habe im Prinzip nichts falsch gemacht, sondern sei bloß politisch unterlegen und habe nun für sein weltanschauliches Bekenntnis zu büßen.
Wie das gelingen könnte, weiß ich nicht recht. Die Art und Weise des Denkens ist in der entscheidenden Klasse (im politisch-medialen Komplex) auf eine Weise juristisch oder verfahrenstheoretisch verdorben, die der Wirkung unverhandelbarer Grundlagen jede Kraft nimmt. Oder, um es auf eine knappe Formel zu bringen: Auf die Frage, was letztlich wichtiger sei – die Verfassung oder das Volk, antwortet die zivilgesellschaftliche Elite ohne zu zögern: die Verfassung.
Neulich diskutierten Ellen Kositza und ich mit einem Zeit-Journalisten über die Lage in Deutschland. Es ging dabei auch um die Frage, ob die Öffnung der Grenzen für mindestens anderthalb Millionen Einwanderer rechtens gewesen sein könnte.
Für den Journalist gab es an der Rechtmäßigkeit keinen Zweifel. Er argumentierte mit dem sogenannten Anwendungsvorrang: Dieser Freibrief für die Politik (ich kann das nicht anders, nicht weniger polemisch bezeichnen) resultiert aus zwei Entscheidungen, die der europäische Gerichtshof schon vor Jahrzehnten traf. Sie legten fest, daß zum einen nationales Recht stets dem EU-Recht untergeordnet sei, sollte sich ein Bürger auf dieses EU-Recht berufen (Geltungsvorrang); desweiteren muß vor der Handlung keine Anpassung und auch kein Bezug auf nationaler Gesetze erfolgt sein: Diese Gesetze mögen zwar weiterhin existierten, können aber einfach ignoriert werden, so, als seien sie gar nicht vorhanden (Anwendungsvorrang).
Diese beiden Bestimmungen haben denkbar weitreichende Folgen, und zwar dort, wo wir ein dem Gedanken des Grundgesetzes und dem Volkswohl entgegenstehendes Rechtsverständnis der politischen und zivilgeselschaftlichen Elite wahrnehmen. Und bereits an dieser Stelle hakte der Journalist ein und stellte infrage, daß etwas, das vom europäischen Gerichtshof erlassen worden sei (einer Instanz also, die unter anderem mit Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt wurde), gegen den “Gedanken des Grundgesetzes” oder das Volkswohl gerichtet sein könne, den diese nationale Befindlichkeit spiele auf der Ebene, auf der er argumentiere, tatsächlich keine Rolle mehr.
Ich konnte aus dem jüngst erschienenen, sehr wichtigen Werk Die Herrschaft des Unrechts zitieren, das der Jurist und Dozent Ulrich Vosgerau, ein Spezialist für Öffentliches Recht, verfaßt hat:
Jedem Spitzenpolitiker ist der Anwendungsvorrang natürlich aus gegebenem Anlaß immer wieder in seiner Karriere durch die beratenden und fachlich qualifizierten Beamten erklärt worden. Was mögen sie aus diesen Rechtsvortrgen ihrer Fachbeamten, vielleicht halb unterbewußt, gelernt und geschlossen haben? Vermutlich, daß das Recht, auch das Verfassungsrecht, nicht einfach so gilt und nicht unbedingt beachtet werden muß.
Und er folgert daraus:
Was aber die Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit Deutschlands in den letzten Jahren nachhaltig beschädigt hat, ist die ganz eigene Wahrnehmung und Verarbeitung des Anwendungsvorrangs durch die Medien, die Veränderung des Rechtsgefühls politischer und medialer Eliten in diesem Lande. (…) Was sie in formeller Hinsicht gelernt haben werden, ist vor allem: Es bedarf keines besonderen Procederes, wenn man Rechtsnormen oder gar die Verfassung nicht mehr einhalten will. Parlament oder Bundesverfassungsgericht müssen nicht einmal informiert werden. Man kann Gesetze, man kann die Verfassung einfach weglassen, wenn dies ›hilfreich‹ (Angela Merkel) erscheint.
Im Grunde, so unser Argument gegen den ZEIT-Journalisten, sind damit die Fesseln, die das Recht und seine Ordnung der Politik zum Schutze der wesentlichen Elemente des Nationalstaates anlegen, zerhauen – ein Zustand, der an Ermächtigungsgesetze und die Aushebelung der Legislative erinnert. Und in der Tat gibt es nicht wenige Stimmen aus den Reihen deutscher Staatsrechtslehrer und ehemaliger Verfassungsrichter, die nicht nur die Öffnung der Grenzen, sondern auch die sogenannte Griechenlandrettung ab 2010 und die Verstaatlichung der Schuldenberge im Verlauf der Bankenzusammenbrüche 2008 für Staatsputsche von oben halten.
Aber diese Gegenstimmen haben weder die Regierung, noch den deutschen Verwaltungsapparat an irgendetwas gehindert, das letztlich mehr als offensichtlich den Souverän, das deutsche Volk nämlich, nicht nur ins Mark traf, sondern seine Substanz im Kern zu verändern begann. Damit meine ich beides: seine Substanz als Herkunftsgemeinschaft und seine Bindung an eine Lebensordnung, die unter anderem durch eine Unterordnung selbst enger Familienbindungen unter Recht und Gesetz gekennzeichnet ist.
Und dies ist nun die eigentliche politische Katastrophe unserer Zeit: daß es dem Volk als dem wichtigsten Element des Natonalstaates an den Kragen geht. Auch über diese Grundüberzeugung (daß das Staatsvolk wichtiger sei, als die vergänglichen Formen der Staatlichkeit) schreibt Ulrich Vosgerau sehr klar und für jeden Laien verständlich:
Jeder Nationalstaat benötigt Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk. Diese drei Elemente sind alle notwendig, aber deswegen nicht gleichrangig, sie bilden gewissermaßen ein paulinisches Modell (1. Kor 13, 13: “Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen”). Das Volk ist das wichtigste Element, allein die Kontinuität des Staatsvolkes entscheidet über die Staatskontinuität überhaupt. Auf die Konstanz der anderen Elemente kommt es insofern nicht an, sie können zeitweilig wegfallen und später wiedergewonnen werden.
Das ist es! Das meine ich stets, wenn ich davon spreche, daß wenigstens eine relative Homogenität unseres Volkes unbedingt erhalten bleiben müsse, denn nur dies ermögliche uns, alle Krisen und Zusammenbrüche, Infragestellungen und Auflösungserscheinungen als Deutsche zu überstehen und in einen Wiederaufbau zu überführen.
Der Zeit-Journalist jedoch lehnte sich an dieser Stelle des Gesprächs zurück und beantwortete die Frage nach der Priorität, indem er das Volk verwarf: Ob es nun alteingesessene Deutsche oder gerade erst Eingebürgerte seien, die unsere Verfassung mit Leben füllten, sei ihm und der Verfassung egal, die es im übrigen unter allen Umständen zu bewahren gelte. Für ihn besäße nämlich weder das deutsche, noch irgendein anderes Volk einen nicht austauschbaren Wert oder nicht ersetzbare Eigenschaften.
An diesem Punkt hörten unsere Sprechblasen auf, einander zu berühren.
Vielleicht wird das einer der Epochenbegriffe sein, den einmal Historiker über die Phase der Abschaffung der Deutschen schreiben: Herrschaft der Abstraktion. Und sie werden in diesem Kapitel zu beschreiben haben, wie die Abwendung vom Sinn des Rechts Schule machte und die Verfahrenskonstruktion von den Gehirnen Besitz ergriff, kurz: wie das verheerende Vorbild einer jeder effektiven Kontrolle entzogenen Berliner Filterblase das Rechtsgefühl eines an Recht und Ordnung ausgerichteten Volkes veränderte und damit beschädigte und zerstörte.
Anwendungsvorrang ist – das will ich festhalten – insofern nur ein anderer Begriff für Volksverrat.
(Das klärende Buch von Ulrich Vosgerau, Die Herrschaft des Unrechts, kann man für kleines Geld hier bestellen.)
John Haase
Ich werde die absurde Rechts- nein, Gesetzestreue der Deutschen nie verstehen. Mein Gefühl sagt mir, daß das irgendwie mit der nicht ganz freiwilligen Übernahme des angloamerikanischen Politsystems 1945 zusammenhängt. Anders kann ich mir diese pathologische Paragraphenbesessenheit der Deutschen nicht erklären.
Wie oft höre ich auf politische Vorschläge meinerseits im Bekanntenkreis dieses oder jenes sei nicht durchführbar, weil es gegen EU-Recht verstoße oder auf Bundesebene und nicht Landesebene entschieden werden müsse. Ich frage dann immer: na und? Käme dann die EU-Armee nach Berlin oder setzte Merkel die Bimbeswehr gegen den inneren Feind in Marsch, oder was? Die Antwort ist immer dieselbe: dieses oder jenes sei nicht durchführbar, weil es gegen EU-Recht verstoße etcetc.
Es ist einem großen Teil der Deutschen nicht klar zu machen, daß ein Gesetz, daß einem den Selbstmord vorschreibt, auch auf die Gefahr des Rechtsverstoßes hin ignoriert werden sollte.
Meine Vorschläge waren keineswegs besonders abgedreht. Zuletzt ging es darum, daß ich meinte, Horst Seehofer hätte 2015 mit bayerischen Polizeieinheiten die Grenze schließen sollen. Wäre auch für ihn ein überschaubares Risiko gewesen, denn was hätte der BRiD-Medien-Polit-Betrieb schon tun können außer hilflosem Geplärre und ein paar blöden Anzeigen von linken Spinnern wegen Verstoßes gegen das Gute an sich? Die öffentliche Meinung hätte ihn vor ernsten Konsequenzen gerettet. Aber war ja gegen irgendein Gesetz und daher dem Herren nicht zuzumuten. Der Retter des Vaterlandes muß stets fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und sich zu den westlich-demokratischen Werten bekennen, so scheint es.
Ich kann Ihnen nur beipflichten: der Zivilgesellschaft ist die Verfassung das Heiligste. Volk oder Deutschland wird wahlweise ignoriert, nicht verstanden, aktiv bekämpft oder alles zusammen, je nach Anlaß.
Es ist wirklich zum Mäusemelken.