Zeiten eines grundstürzenden Umbruchs überhaupt als solche wahrzunehmen, sie erst recht detailliert zu analysieren, ist meist Nachgeborenen vorbehalten.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (*1969) ist nicht der erste, der sich als Zeitgenosse an der Gemengelage versucht: Es geht um den »kommunikativen Klimawandel« in Zeiten des Internets: Heute kann jedermann zum »Sender« werden, die Funktion der Großmedien als Gatekeeper hat sich verflüssigt. Man könnte das für einen Zuwachs an Demokratie halten – oder andererseits konstatieren, daß wir uns einer »Skandalokratie« nähern.
Was Pörksens Panoptikum über das Netz und die »große Gereiztheit«, die es produziert, von ähnlichen Inspektionen unterscheidet: Er pflegt einen wirklich eloquenten Duktus; eine Sprache, eine Gliederung und Gedankengänge, die weder verschwurbelt noch allzu billig daherkommen. Man kann ihm gut folgen (durchaus widersprechend), und unter sein Niveau geht Pörksen nur dann, wenn er (affirmativ) all die »Netzphilosophen«, »Netzpublizisten« und»Netzpsychologen« zitiert, die irgendwie en vogue sind – Sascha Lobo als Autorität, komm! In zahlreichen Punkten darf eine selbstkritische Rechte Pörksens Analyse folgen: Eine Menge der heutigen Erregungszustände und, ja, auch der Panikmache, die den Populisten in die Hände spielt, ist netzgemacht.
In der Tat sind die nichtlinken Verlinker und Wirbelmacher keine Unschuldslämmer; »gefaket« und perhorresziert wird nach Kräften von allen Seiten. Die krude Skandalnummer um die jugendliche, russischstämmige Lisa ist nur ein Bespiel: Das Gerücht, daß die 13jährige von Südländern entführt worden sei, diffundierte 2016 aus der lokalen Gerüchteküche ins Netz, dann auf die Straße und aufs Parkett der internationalen Diplomatie. In Wahrheit hatte gar kein Verbrechen stattgefunden.
Pörksen nimmt solche »digitalen Fieberschübe«, die »Empörungskybernetik« und handgemachte »Empörungsindustrie« recht genau (womöglich, das ist irritierend, gar zu genau: Ohne dieses Buch würde mancher Leser von kritisierten Netzhypes wie Vaginalhefen im Brot und anderen Possierlichkeiten nichts wissen) unter die Lupe. Die Anschaulichkeit und Durchdringungstiefe seiner Zusammenschau sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß er parteiisch argumentiert: Einerseits lobt er die pulsierenden Korrektive und – abermals eine schöne Wortschöpfung – »Konnektive«, die durch Hashtags wie #aufschrei, #metoo und diverse Umweltinitiativen im Netz produziert wurden. Hier sieht er eine »aufrüttelnde« und endlich »massenwirksame« Wucht am Werke, die den Anliegen zur nötigen Durchschlagskraft verholfen haben.
Von »Schwarmdummheit« und»digitalem Maoismus« will er hingegen sprechen, wenn die Strahlkraft des Netzes nichtlinken Anliegen zur Relevanz verhilft. Das eine Mal handelt es sich laut Pörksen um notwendige Virulenzerzeugung, das andere Mal um »destabilisierende Bedrohungsszenarien«. Für beide Seiten trifft zu, daß Google ihnen ein »Geheimrezept der Wirklichkeitskonstruktion« zubereitet. Die Suchmaschine erzeugt für jemanden, der öfter »Legehennenbatterie« und»Rechtsterror« recherchiert, andere Ergebnisse als für den, der nach »linker Gewalt« und»Jagdschein« googelt – Wirklichkeit, sagt Pörksen, wird kuratiert.
Eine »Gnade des Vergessens« gibt es nicht mehr, weder für Sucher noch Gesuchte. Gerade das Flüchtige, die zufällige Äußerung, könne man heute fixieren und barrierefrei verbreiten. Mustergültig werden verschiedene Formen der »Kontextverletzung« dekliniert, ein Mechanismus, der dafür sorgt, daß das Reden und Handeln einer Person durch zusammenhanglose Perpetuierung in einen Kontext versetzt wird, über die der eigentliche Sender nicht mehr verfügen kann. Laut Pörksen sind wir heute mit fünferlei Krisen konfrontiert: Der Wahrheits‑, der Diskurs‑, Autoritäts‑, Behaglichkeits- und Reputationskrise. Wo er formidabel ausführt, was diese Krisen im einzelnenbedeuten, ist Pörksen doch seltsam verstockt bei der Formulierung eines Wegs hinaus:
Wir bräuchten endlich eine »redaktionelle Gesellschaft«, man müßte die »Player der öffentlichen Welt insgesamt involvieren« und eine »Plattform-Ethik« entwickeln, die einer a) wahrheitsorientierten, b) skeptischen, c) diskursorientierten [warum fällt mir hier der mit Verve vorgetragene, aber letztlich furchtbar fruchtlose Claim »Mit Rechten reden« ein?, E.K.] d) an Relevanzkategorien sich anschmiegenden, e) kritisch-kontrollierten, f) ethisch fundierten und g)transparenten Netzöffentlichkeit dienten.
Na klar! Auch die Forderung nach einem eigenen Schulfach »Medienmündigkeit« darf nicht fehlen. Hübsch gesagt! Pörksen spricht »Autonomie und Selbstverantwortung« der Netznutzer an. Das ist ein so gutes wie naives Menschenbild.
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Bernhard Pörksens Die Große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München: Hanser 2018. 255 S., 22.70 € kann man hier bestellen.
Martin Heinrich
"Medienmündigkeit."
Das gibt es längst. Zwar nicht als Schulfach, aber als Unterrichtsteil an gymnasialen Oberstufen, wenn es darum geht, Internet für wissenschaftliche Zwecke zu benutzen.
Ähnliche Kurse gibt es an Universitätsbibliotheken. Das heißt dann Vermittlung von "Informationskompetenz".
Genauso wichtig wie Informationskompetenzvermittlung ist die Notwendigkeit, Kinder schon im frühen Alter zum Lesen zu bewegen. Da hilft meistens nur das Elternhaus weiter. Dass Kinder am unbewegten Text, am Buch "dranbleiben" dürfte in unserer multimediaverseuchten Zeit eine der größten Herausforderungen sein.