Bernhard Pörksen: “Die Große Gereiztheit”

Gibt es "Wege aus der kollektiven Erregung"? Bernhard Pörksen hat darüber ein interessantes BUch geschrieben:

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Zei­ten eines grund­stür­zen­den Umbruchs über­haupt als sol­che wahr­zu­neh­men, sie erst recht detail­liert zu ana­ly­sie­ren, ist meist Nach­ge­bo­re­nen vorbehalten.

Der Medi­en­wis­sen­schaft­ler Bern­hard Pörk­sen (*1969) ist nicht der ers­te, der sich als Zeit­ge­nos­se an der Gemenge­la­ge ver­sucht: Es geht um den »kom­mu­ni­ka­ti­ven Kli­ma­wan­del« in Zei­ten des Inter­nets: Heu­te kann jeder­mann zum »Sen­der« wer­den, die Funk­ti­on der Groß­me­di­en als Gate­kee­per hat sich ver­flüs­sigt. Man könn­te das für einen Zuwachs an Demo­kra­tie hal­ten – oder ande­rer­seits kon­sta­tie­ren, daß wir uns einer »Skan­da­lok­ra­tie« nähern.

Was Pörk­sens Pan­op­ti­kum über das Netz und die »gro­ße Gereizt­heit«, die es pro­du­ziert, von ähn­li­chen Inspek­tio­nen unter­schei­det: Er pflegt einen wirk­lich elo­quen­ten Duk­tus; eine Spra­che, eine Glie­de­rung und Gedan­ken­gän­ge, die weder ver­schwur­belt noch all­zu bil­lig daher­kom­men. Man kann ihm gut fol­gen (durch­aus wider­spre­chend), und unter sein Niveau geht Pörk­sen nur dann, wenn er (affir­ma­tiv) all die »Netz­phi­lo­so­phen«, »Netz­pu­bli­zis­ten« und»Netzpsychologen« zitiert, die irgend­wie en vogue sind – Sascha Lobo als Auto­ri­tät, komm! In zahl­rei­chen Punk­ten darf eine selbst­kri­ti­sche Rech­te Pörk­sens Ana­ly­se fol­gen: Eine Men­ge der heu­ti­gen Erre­gungs­zu­stän­de und, ja, auch der Panik­ma­che, die den Popu­lis­ten in die Hän­de spielt, ist netzgemacht.

In der Tat sind die nicht­lin­ken Ver­lin­ker und Wir­bel­ma­cher kei­ne Unschulds­läm­mer; »gefaket« und per­hor­res­ziert wird nach Kräf­ten von allen Sei­ten. Die kru­de Skan­dal­num­mer um die jugend­li­che, rus­sisch­stäm­mi­ge Lisa ist nur ein Bespiel: Das Gerücht, daß die 13jährige von Süd­län­dern ent­führt wor­den sei, dif­fun­dier­te 2016 aus der loka­len Gerüch­te­kü­che ins Netz, dann auf die Stra­ße und aufs Par­kett der inter­na­tio­na­len Diplo­ma­tie. In Wahr­heit hat­te gar kein Ver­bre­chen stattgefunden.

Pörk­sen nimmt sol­che »digi­ta­len Fie­ber­schü­be«, die »Empö­rungs­ky­ber­ne­tik« und hand­ge­mach­te »Empö­rungs­in­dus­trie« recht genau (womög­lich, das ist irri­tie­rend, gar zu genau: Ohne die­ses Buch wür­de man­cher Leser von kri­ti­sier­ten Netz­hy­pes wie Vagi­nal­he­fen im Brot und ande­ren Pos­sier­lich­kei­ten nichts wis­sen) unter die Lupe. Die Anschau­lich­keit und Durch­drin­gungs­tie­fe sei­ner Zusam­men­schau soll­te aller­dings nicht dar­über hin­weg­täu­schen, daß er par­tei­isch argu­men­tiert: Einer­seits lobt er die pul­sie­ren­den Kor­rek­ti­ve und – aber­mals eine schö­ne Wort­schöp­fung – »Kon­nek­ti­ve«, die durch Hash­tags wie #auf­schrei, #metoo und diver­se Umwelt­in­itia­ti­ven im Netz pro­du­ziert wur­den. Hier sieht er eine »auf­rüt­teln­de« und end­lich »mas­sen­wirk­sa­me« Wucht am Wer­ke, die den Anlie­gen zur nöti­gen Durch­schlags­kraft ver­hol­fen haben.

Von »Schwarm­d­umm­heit« und»digitalem Mao­is­mus« will er hin­ge­gen spre­chen, wenn die Strahl­kraft des Net­zes nicht­lin­ken Anlie­gen zur Rele­vanz ver­hilft. Das eine Mal han­delt es sich laut Pörk­sen um not­wen­di­ge Viru­len­zer­zeu­gung, das ande­re Mal um »desta­bi­li­sie­ren­de Bedro­hungs­sze­na­ri­en«. Für bei­de Sei­ten trifft zu, daß Goog­le ihnen ein »Geheim­re­zept der Wirk­lich­keits­kon­struk­ti­on« zube­rei­tet. Die Such­ma­schi­ne erzeugt für jeman­den, der öfter »Lege­hen­nen­bat­te­rie« und»Rechtsterror« recher­chiert, ande­re Ergeb­nis­se als für den, der nach »lin­ker Gewalt« und»Jagdschein« goo­gelt – Wirk­lich­keit, sagt Pörk­sen, wird kuratiert.

Eine »Gna­de des Ver­ges­sens« gibt es nicht mehr, weder für Sucher noch Gesuch­te. Gera­de das Flüch­ti­ge, die zufäl­li­ge Äuße­rung, kön­ne man heu­te fixie­ren und bar­rie­re­frei ver­brei­ten. Mus­ter­gül­tig wer­den ver­schie­de­ne For­men der »Kon­text­ver­let­zung« dekli­niert, ein Mecha­nis­mus, der dafür sorgt, daß das Reden und Han­deln einer Per­son durch zusam­men­hang­lo­se Per­p­etu­ie­rung in einen Kon­text ver­setzt wird, über die der eigent­li­che Sen­der nicht mehr ver­fü­gen kann. Laut Pörk­sen sind wir heu­te mit fün­fer­lei Kri­sen kon­fron­tiert: Der Wahrheits‑, der Diskurs‑, Autoritäts‑, Behag­lich­keits- und Repu­ta­ti­ons­kri­se. Wo er for­mi­da­bel aus­führt, was die­se Kri­sen im ein­zel­nen­be­deu­ten, ist Pörk­sen doch selt­sam ver­stockt bei der For­mu­lie­rung eines Wegs hinaus:

Wir bräuch­ten end­lich eine »redak­tio­nel­le Gesell­schaft«, man müß­te die »Play­er der öffent­li­chen Welt ins­ge­samt invol­vie­ren« und eine »Platt­form-Ethik« ent­wi­ckeln, die einer a) wahr­heits­ori­en­tier­ten, b) skep­ti­schen, c) dis­kurs­ori­en­tier­ten [war­um fällt mir hier der mit Ver­ve vor­ge­tra­ge­ne, aber letzt­lich furcht­bar frucht­lo­se Cla­im »Mit Rech­ten reden« ein?, E.K.] d) an Rele­vanz­ka­te­go­rien sich anschmie­gen­den, e) kri­tisch-kon­trol­lier­ten, f) ethisch fun­dier­ten und g)transparenten Netz­öf­fent­lich­keit dienten.

Na klar! Auch die For­de­rung nach einem eige­nen Schul­fach »Medi­en­mün­dig­keit« darf nicht feh­len. Hübsch gesagt! Pörk­sen spricht »Auto­no­mie und Selbst­ver­ant­wor­tung« der Netz­nut­zer an. Das ist ein so gutes wie nai­ves Menschenbild.

– – –

Bern­hard Pörk­sens Die Gro­ße Gereizt­heit. Wege aus der kol­lek­ti­ven Erre­gung, Mün­chen: Han­ser 2018. 255 S., 22.70 € kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (5)

Martin Heinrich

16. Juni 2018 11:44

"Medienmündigkeit."
Das gibt es längst. Zwar nicht als Schulfach, aber als Unterrichtsteil an gymnasialen Oberstufen, wenn es darum geht, Internet für wissenschaftliche Zwecke zu benutzen.
Ähnliche Kurse gibt es an Universitätsbibliotheken. Das heißt dann Vermittlung von "Informationskompetenz".

Genauso wichtig wie Informationskompetenzvermittlung ist die Notwendigkeit, Kinder schon im frühen Alter zum Lesen zu bewegen. Da hilft meistens nur das Elternhaus weiter. Dass Kinder am unbewegten Text, am Buch "dranbleiben" dürfte in unserer multimediaverseuchten Zeit eine der größten Herausforderungen sein.

Monika

16. Juni 2018 13:34

Daß es Wege aus der kollektiven Erregung gibt, hat Herr Lichtmesz in dem Beitrag " Susanna Feldmann, die Hierarchie der Opfer" sehr überzeugend ausgeführt: haarscharfe , saubere Analyse und Recherche, die aus einer großen, individuellen Erregung und Empörung resultiert. Und gerade nicht aus einer "Betroffenheit".

Eine Versachlichung findet statt. Etwa durch die Ethnologin Susanne Schröter, die feststellt : "Das ist jetzt kein Einzellfall mehr" (gemeint, der Fall Susanna). Zwischen höchster Erregung und der Erkenntnis: "In Wahrheit hat gar kein Verbrechen stattgefunden", gibt es allerdings eine große Bandbreite möglicher und tatsächlicher Tatabläufe. Die "krude Skandalnummer" um die russischstämmige Lisa hat so nicht stattgefunden, allerdings war das zur damaligen Zeit minderjährige Mädchen über Nacht verschwunden und zuvor bei jungen Männern, die die Grenzen des Erlaubten überschritten haben sollen. Hier muß man sehr genau hinschauen.

In diesem Zusammenhang verweise ich auf den Film der BBC "Three Girls", über die skandlösen Vorgänge in Rotherham, Rochdale usw. Der Film ist sehr beklemmend, weil gerade niemand den Mädchen Glauben schenkt und das Böse nicht sofort erkennbar ist.
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/serien/three-girls-in-arte-serie-ueber-missbrauch-skandal-15638136.htm
Der Film sollte an Schulen gezeigt werden. Er basiert auf den Aussagen der betroffenen Mödchen. Erzählte Erfahrungen überzeugen m. E. mehr als alle Theorien über "kollektive Erregungen".

Nordlicht

16. Juni 2018 17:24

Sehr geehrte Frau Kositza,

herzlichen Dank für diesen Artikel. Ich las den Namen und das Interesse war erwacht - dem Autor fühlte ich mich auf Grund der gemeinsamen Heimat verbunden, und seine Bücher las ich mal mehr, mal weniger fasziniert. Aber dann merkte ich: Nein, ich hatte den Vater gelesen, Uwe Pörksen, Jahrgang 1935, Sprachwissenschaftler, Romancier, und auch in seinen Themen heimatverbunden.

Nun also der Sohn, Medienwissenschaftler, Jahrgang 1967. Was Ihre Beobachtung angeht, dass bei aller Mühe um Ausgewogenheit die Rechten-Argumente doch irgendwie "bäh" sind ... das ist sicherlich angesichts seiner Sozialisierung nicht überraschend. Er ist mit 50 in der Mitte seiner Karriere und "wird den Teufel tun, sich in die Nesseln zu setzen".

Freundlichen Gruss aus dem Norden Deutschlands

Stil-Bluete

16. Juni 2018 23:21

Schade, daß dieser Buchempfehlung Ihre optische und akustische Präsenz über 'Kanal Schnellroda' fehlt. Sie hatten uns damit schon ganz schön verwöhnt.

Louise

17. Juni 2018 18:09

Zum Fall Lisa: das hier in "Wahrheit gar kein Verbrechen stattgefunden hat" sehe ich anders. Erstens hatten diese erwachsenen Ausländer mit einem dreizehnjährigen Kind Geschlechtsverkehr - das ist nach StGB immer strafbar. Zudem wurde dem Mädchen Gewalt angetan, es waren Anzeichen von Mißhandlung vorhanden, das hat die Mutter bestätigt. Im Fall Lisa waren vielleicht Anfangs unrichtige Anschuldigungen in der Öffentlichkeit ausgebreitet worden, doch die Staatsmedien haben widerum alles heruntergespielt. Ein Verbrechen hat allemal stattgefunden, wie immer auch die Rechtssprechung am Ende geurteilt hat. Das in Deutschland nicht mehr "Recht" gesprochen wird, ist wohl eine Tatsache, die uns inzwischen allen klar sein sollte.