Man war sich doch einig. Vor zehn Jahren hatte Thomas Karlauf die ultimative George-Biographie geschrieben; sie wurde wenig später von Ulrich Raulffs gelehrter Studie über Georges Erben im bundesrepublikanischen Betrieb und durch Ernst Osterkamps tiefsinnige paradigmatische Analyse einiger Gedichte – als Flaggschiffe der postsakralen George-Deutung – kongenial ergänzt, das Kapitel schien vorerst abgeschlossen.
Nun legt Jürgen Egyptien eine neue voluminöse Biographie vor, nachdem bereits Kai Kaufmanns biographischer Beitrag vor vier Jahren, als Beweis obiger These, bedauerlicherweise nahezu unbemerkt vorüberging. Zum 150. Jubiläum, muß man vermuten. Denn eine innere Notwendigkeit kann Egyptien nicht nachweisen, es sei denn, man wolle den Willen, sich des eigenen überbordenden Wissens endlich zu entledigen, gelten lassen.
Der Mann steht im Stoff, daran läßt er keinen Zweifel – jahrzehntelange Beschäftigung mit George, die leitende Arbeit in der George-Gesellschaft, das Wühlen in den Archiven … das alles hat Spuren hinterlassen. In seiner Herleitung steht das Charisma im Zentrum, also just Karlaufs Motiv. Wozu also dieses Buch, was leistet es?
Wissen, Fakten, Daten, Namen – Fülle. Das zuerst. Der Überfluß einer Epoche – eigentlich müßte das Buch »George und seine Zeit« lauten – wird sichtbar, die selbst an ihren intellektuellen und künstlerischen Rändern derart prall und vielfältig und originell war, daß man sich wundert, wie man in heutigen vertrockneten Zeiten überhaupt noch Luft holen kann.
Dann ein paar gute literaturtheoretische Einführungen, die man jenen Studenten des Faches empfehlen darf, die sich nicht durch den Berg Literatur hindurcharbeiten und eigene Urteile bilden wollen oder können – das sind fast servierfertige Exkurse, mit denen man ohne Probleme einen Schein machen könnte, etwa über Symbolismus, Schwabing, Hofmannsthal, Baudelaire, Dekadenz, Parnass, Verslehre etc. Man kann das Buch also »nützlich« nennen: George für Leser in dürftiger Zeit. Ein paar bislang wenig beachtete und überraschende Facetten und Idiosynkrasien werden ebenfalls sichtbar, etwa Georges Humor und sein ausgeprägter Sinn für Selbstironie, und neue, wichtige, wenn auch mikroskopisch kleine Archivfunde werden bekanntgegeben. Und in einigen Passagen gelingt sogar eine Annäherung an das Geheimnis George, wird die Faszination spürbar und das, obwohl die eigentliche Dichtung nur am Rande und in erstaunlich wenigen Beispielen auftaucht.
Allein, diese Stellen sind rar und in der nahezu absatzlosen Bleiwüste in kleiner Schrift – das allein schon ein Sakrileg in diesem Kontext – schwer zu finden, zumal sich Egyptien immer wieder von seinen selbstgewählten thematischen Labyrinthgängen in die Verirrung treiben läßt und dann den Lesefluß mit Gewalt unterbrechen muß und des weiteren sein eigentlicher Schwerpunkt – er selbst scheint das gar nicht zu merken – gar nicht George ist, sondern die enorme Zahl an mehr oder weniger bedeutsamen peripheren Gestalten in dessen Umfeld, die in nahezu lexikalischer Manier abgearbeitet werden. Geschrieben hat er letztlich eine Beziehungs-Geschichte aus Beziehungsgeschichten, aus Anziehungen, Unterwerfungen und Abstoßungen. Wenn George noch durchscheint, dann weniger als Dichter oder Seher oder Führer, sondern als exzellenter Menschenkenner mit ausgeprägtem Gespür für Machtspiele und Verführung. Zufällig aufkommende Dramatik liegt in den spannungsreichen Beziehungen selbst.
Auch das wäre ein faszinierendes Thema – Freund und Feind – nur leider liest sich das Buch in weiten Teilen wie ein Briefmarkenalbum, nein, wie ein Briefmarkenkatalog: es ist alles drin, komplett und systematisch aufgereiht – doch an Seele mangelts. Es wird in Lehrer- und Bürokratendeutsch in kleinen Miniaturen ein scheinbar unendlicher Reigen an Namen – jeder einzelne eigentlich ein mitreißender Solitär – in immer gleichen Formulierungen und in der immer gleichen Tonlage entworfen, so daß weder ein Kreis-Gefühl ermöglicht, noch das dauernd beschworene Charisma in irgendeiner Weise nacherlebbar und begreifbar gemacht wird. Egyptien will an die »entspannte literaturwissenschaftliche und biographische Beschäftigung mit George« anschließen und schafft selbst das Musterexemplar der Entschärfung des Meisters.
Ein faktensattes George-Buch mehr, das bleibt löblich, aber neue begeisterte Leser wird es kaum gewinnen.
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Jürgen Egyptien: Stefan George. Dichter und Prophet, Darmstadt: Theiss 2018. 472 S., 29.95 € kann man hier bestellen.
Maiordomus
Ich habe das Buch von Egyptien vor ungefähr zwei Wochen als Urlaubslektüre gelesen und fand insbesondere die Darstellung von Georges Kindheit, seinem für seine Entfaltung wichtigen Urszene vom "kindlichen Königreich", einem Hauptschlüssel zu vielen seiner Gedichte, wie überhaupt die weinbäurische Herkunft anregend und mit Gewinn lesbar, wiewohl ich das Wichtigste darüber schon 1972 in einer brillanten Vorlesung von Peter von Matt in Zürich vernommen hatte. Klar, wird von Jürgen Egyptien jede Menge Umfeld aufgearbeitet, nicht zuletzt das Tessin betreffend, u.a. die Zeugnisse und die Lebensgeschichte von Clothilde Schlayer als quasi Georges letzter Haushälterin in Minusio, darüber war ich bis anhin nicht in diesem Ausmass im Bild. Aus meiner Sicht alles andere als Banalitäten, auch Georges Beziehungen zu seiner Familie, etwa seiner Schwester Anna Maria Ottilie. Nicht erwähnt ist bei Egyptien freilich, dass eine weitere Verwandte Georges in Schaffhausen mit einem deutschnational gesinnten Chefingenieur der Grossfirma Georg Fischer verheiratet war, die sich dann nach der Scheidung ebenfalls nach Minusio begab, dies als Ergänzung, wenn schon in Details gekramt wird, die grundsätzlich keineswegs belanglos sein müssen.
Das Buch enthält nicht weniges Informative über die letzten Lebenstage von George. Von Bedeutung, wenngleich tatsächlich nicht ganz neu (darüber hat schon Edwin Maria Landau geforscht, welcher dem erweiterten späten George-Kreis angehörte) ist die Darstellung von Georges Beziehung zu Karl Wolfskehl und generell nicht zu unterschätzen sind die jüdischen Aspekte des Kreises, wiewohl es in Georges Umfeld natürlich immer auch Antisemitismus gab. Egyptien hebt sich scharf ab von den Germanisten der Zeit um 1968, deren wichtigstes Anliegen es war, den Meister zu "entlarven". Natürlich gehört die Verstossung von Friedrich Gundolf zu den unerschöpflichen Themen der George-Rezeption, nicht zu vergessen die Freundschaft mit Waclav Rolics-Lieder und Richard Perls, worüber Egyptien sich informativ auslässt.. Aus Schweizer Sicht war für mich der Berner Schriftsteller Michael Stettler, geb. 1913, der später u.a. mit dem marxistischen Berner Nonkormisten Franz Keller Kontakt hatte, als George-Jünger eine Entdeckung, etwas weniger neu die Bedeutung, die der deutsche Botschafter Ernst von Weizsäcker George von Anfang an gab, wohl nicht nur im Auftrag seiner Regierung. Gottfried Benn nannte George in seiner Akademierede kurz nach dem Tod des Meisters "das grossartigste Durchkreuzungs- und Ausstrahlungsphänomen, das die deutsche Geistesgeschichte je gesehen hat", ein Zitat, dem Autor Egyptien nicht nur nicht widerspricht, sondern dem er durch eine Darstellung der Georgeschen Netzwerke gerecht zu werden versucht. Im Hinblick auf die Nachwirkung hätte man noch vertieftere lyrische und poetologische Analysen erwarten können, bis hin etwa zu Erwin Jaeckle, der als einer der fruchtbarsten und sprachmächtigsten Lyriker der Schweiz ("Eineck-Gedichte") stark von George geprägt war. Eher widersprechen würde ich Egyptiens aus nachträglicher Perspektive aufgestellten Behauptung, der im Prinzip unpolitische George sei von der damaligen politischen Situation "überfordert" gewesen. So etwas hätte man sogar von Thomas Mann schreiben können, zu schweigen davon, welcher heutige Autor ist nicht von der politischen Situation überfordert?
Über alles gesehen bleibt das Buch für denjenigen, der sich für George interessiert, zumal das Ästhetische von dessen Existenz, durchaus lesenswert und durchaus reich an Anregungen.