Nathalie Quintane: “Wohin mit den Mittelklassen?”

Klassen, Klassentheorien, Klassenkampf – Relikte linken Jargons, sozialistischer Ideologie, marxistischer Terminologie.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Oder? Nicht alle sehen das so. Etwa War­ren Buf­fet, Groß­ka­pi­ta­list und Aktio­när, neu­er­dings auch pro­mi­nen­ter Trump-Gegner.

Die­ser Buf­fett stellt fest: »Es herrscht Klas­sen­krieg, rich­tig, aber es ist mei­ne Klas­se, die Klas­se der Rei­chen, die Krieg führt, und wir gewinnen.«

Wenn man die­se Annah­me ernst nimmt, und die Bot­schaft nicht nur als zuge­spitz­ten Hal­lo-Wach-Effekt ver­bucht, wäre eine der dar­auf anschlie­ßen­den Fra­gen jene nach den Betei­lig­ten in die­sem »Klas­sen­krieg«.

Man käme, zumal in Euro­pa, spe­zi­ell in Deutsch­land und Frank­reich, unwei­ger­lich auf die »Mit­tel­klas­se« bzw. Mit­tel­schich­ten zu spre­chen, die von »oben« aus­ge­quetscht und benutzt wer­den, wäh­rend ihre Ange­hö­ri­gen nach »unten« vor allem in Hin­blick auf die eige­ne Abstiegs­angst blicken.

Die Fran­zö­sin Natha­lie Quin­ta­ne (*1964) macht sich nun auf die Suche nach der Mit­tel­klas­se, über die sie in der recht jun­gen Matthes & Seitz Ber­lin-Rei­he punc­tumeinen kecken, reich bebil­der­ten Essay vorlegt.

Klar dabei ist: Quin­ta­ne, deren Werk­schwer­punkt irgend­wo zwi­schen Poe­tik, Lyrik und poli­ti­scher Essay­is­tik zu ver­or­ten ist, sieht sich als dezi­dier­te Lin­ke aus der Mit­tel­schicht; ihr Stand­punkt ist somit eini­ger­ma­ßen vor­ge­zeich­net, auch wenn sie selbst schreibt, sie nähe­re sich ihrem For­schungs­ob­jekt, der Mit­tel­klas­se, »mit ernst­haf­tem Inter­es­se, aus der Distanz und in aller Freundschaft«.

Damit es die­se zu unter­su­chen­de Mit­tel­klas­se gibt, muß es a prio­ri ande­re Klas­sen geben. Quin­ta­ne bemüht daher zunächst Sta­tis­ti­ken und Defi­ni­tio­nen, das heißt: Sie dekli­niert die bis­her gül­ti­gen wis­sen­schaft­li­chen Ver­su­che durch, den schwam­mi­gen Begriff der Mit­tel­klas­se etwa in Zah­len zu fassen.

Doch weder Ein­kom­men noch Beru­fe oder Paa­rungs­ver­hal­ten geben aus­rei­chend Aus­kunft, blei­ben zu rela­tio­nell. Letzt­end­lich nähert sie sich der Mit­tel­klas­se denn auch weni­ger mate­ria­lis­tisch, also bedingt durch öko­no­mi­sche Rea­li­tä­ten, als idea­lis­tisch, das heißt durch geis­tig-kul­tu­rel­le Merk­ma­le der »Klas­se«:

Während»oben« und»unten« durch­aus unter­schied­li­che Bewußt­seins­stu­fen für Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit auf­tre­ten, wäre die Mit­tel­klas­se sich ihrer Klas­sen­si­tua­ti­on gar nicht bewußt; im Kon­sum­zeit­al­ter fal­le sie eher als »kau­fen­de Klas­se« auf, die poli­tisch pas­siv ist und kein eige­nes refle­xi­ves Bewußt­sein hervorbrächte.

The­men wie die »sozia­le Fra­ge« fän­den schlicht­weg nicht statt – der eige­ne längst ver­ges­se­ne Auf­stieg aus unte­ren Gefil­den in einer Epo­che, als sich die Klas­sen her­aus­bil­de­ten, hat gewis­ser­ma­ßen das Ende der eige­nen per­sön­li­chen Klas­sen­ge­schich­te eingeläutet.

Die nun dro­hen­de Ero­si­on der west­eu­ro­päi­schen Mit­tel­schicht in der Abstiegs­ge­sell­schaft des neo­li­be­ra­len Zeit­al­ters – Quin­ta­ne nennt dies »das Zer­flie­ßen der Mit­tel­klas­sen und ihr Ver­schmel­zen mit dem Neo­pro­le­ta­ri­at« – sei gewis­ser­ma­ßen eine »gerech­te Stra­fe« für poli­tisch-öko­no­mi­sche Apa­thie und bie­te die »Chan­ce auf Gene­sung« im Sin­ne eines Durch­bruchs »zu einer end­lich bewuss­ten Selbstkritik«.

Quin­ta­ne hat somit einen Essay vor­ge­legt, der an man­cher Stel­le zum Nach­den­ken anregt und die Klas­sen­fra­ge im Jahr 2018 wie­der aufs Tapet holt. Doch zugleich ist ihr läs­sig-jovi­al gehal­te­ner Text wohl doch mehr fran­zö­si­sche Lite­ra­tur als gesamt­eu­ro­päi­sche poli­ti­sche Ana­ly­se, zumal sich die Bedeu­tung des Mit­tel­stands dies- und jen­seits des Rheins erheb­lich von­ein­an­der unterscheidet.

– – –

Natha­lie Quin­ta­nes Wohin mit den Mit­tel­klas­sen? aus dem Fran­zö­si­schen über­setzt von Clau­dia Hamm, Ber­lin: Matthes & Seitz Ber­lin 2018. 116 S., 12 € kann man hier bestel­len.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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Kommentare (6)

RMH

6. Juli 2018 07:05

Die Begriffe working-class, middle-class und upper-class sind im anglo-amerikanischem Sprachbereich recht übliche, weit verbreitete Redewendungen bzw. Bezeichnungen ohne tieferen, konkret einer politischen Richtung zuordnungsbaren Sinn (auch wenn sie ihren Ursprung durchaus auch links haben). Insofern hat es sicher keinen marxistischen Unterbau, wenn einer wie Buffet sich dieser Terminologie bedient.

Wenn in Deutschland hingegen jemand von einer Mittelklasse oder Oberklasse spricht, dann meint er zu 90% ein Auto das er fährt oder für das er sich interessiert (gemittelt - in Westdeutschland sind es sicher 95%, in Mitteldeutschland aufgrund der ideologischen Schulung weniger). In Deutschland wird für diese sozialen Umschreibungen und Beschreibungen eher der Begriff der "Schicht" benutzt.

Interessant finde ich den Ausdruck "Neoproletariat", über den ich gerne mehr wissen würde.

Ich persönlich bezeichne alle Hochschulabsolventen der letzten 45 Jahre gerne als akademisches Proletariat und habe auch entsprechendes "Klassenbewusstsein" entwickelt, indem ich mich dieser Schicht des akademischen Proletariats durchaus zuordne.

Die Idee, dass sich Klassen durch ihr unterstelltes Klassenverhalten irgendwie selber "abstrafen" können würden und darin evtl. dann die Chance bestünde, dass sie dann ein neues Klassenbewusstsein oder irgendeine andere Art von "Läuterung" entwickeln würden, halte ich für typischen linken und pseudoreligiösen Mumpitz im Stile einer Art Verelendungstheorie, die dann zum Klassenbewusstsein, zu "Revolution" und mit der Revolution zum "Heil" führen würde. Alles nur Varianten der üblichen, gottlosen Selbst-Apotheose der Atheisten und Materialisten, die bekanntermaßen satanischen Charakter hat. Als ob es irgendwelche gesellschaftlichen Automatismen geben würde, dass Leute nur ganz nach unten kommen müssten, um so dann das Rad wieder anwerfen zu können, welches sie "nach oben" spült. Für mich alles haltlose, linke Spekulation. Ich habe noch bei keinem Menschen, der abgestiegen ist, irgendeine politische Bewusstseinsveränderung feststellen können, allenfalls eine starke Veränderung seiner Leberwerte …

Andreas Walter

6. Juli 2018 18:05

Dann kippen wir doch einfach mal das Bild, um 90°, dann wird daraus Linksextremisten und Rechtsextremisten, Marxisten und (Global-)Kapitalisten, und dazwischen die Mehrheit der Menschen, die tatsächlich Arbeiten, etwas leisten.

Man könnte sie aber auch die Herde nennen, ohne die weder der Hund noch der Hirte existieren, leben könnten.

https://qpress.de/wp-content/uploads/2015/09/Um-Gottes-Willen-Hermann-Verschwoerungstheorie-Schafe-Hund-Schaefer-Mann-kolaboration.jpg

Bücher wie mit Linken reden sind daher Zeitverschwendung, der falsche Ansatz, ebenso der Versuch von Schafen, mit dem Hirten über Freiheit reden, verhandeln zu wollen. Weil weder der Hund noch der Hirte die Sprache der Schafe verstehen.

Hihihi, doch an wen richtet sich dann dieser Kommentar?

Kositza: Noch so'ne Verschwörungstheorie: Irgendwie denk ich immer, Männer, die hihihi schreiben, sind queer?

quarz

7. Juli 2018 06:29

@RMH

"pseudoreligiösen Mumpitz ... Als ob es irgendwelche gesellschaftlichen Automatismen geben würde, dass Leute nur ganz nach unten kommen müssten, um so dann das Rad wieder anwerfen zu können, welches sie "nach oben" spült"

Das erinnert in der Tat ein wenig an die Existenzialanalyse des Glaubens durch den christlichen Mystiker Johannes vom Kreuz in der "dunklen Nacht des Glaubens" bzw. deren phänomenologische Ausleuchtung durch Edith Stein. Was freilich nichts darüber aussagt, ob die politische Analogie dazu die Wirklichkeit angemessen beschreibt oder nicht.

RMH

7. Juli 2018 09:25

@quarz,
letztlich kann man die Frage, ob eine wie auch immer geartete Verelendung das Bewusstsein (und damit das politische Verhalten) verändern kann (im Beitrag ja für den Mittelstand prognostiziert) auf den uralten Streit um die linke, marxistische These, ob das Sein das Bewusstsein bestimmt, herunterbrechen. Als konservativer/rechter sieht man die Welt aber etwas komplexer als "erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral" und kann in diesem Punkt den neulinken Vorwurf an die neue Rechte, dass die neue Rechte die Komplexität der Welt verweigere, locker zurück spielen. Der gesamte Marxismus und seine kulturellen Epigonen von links-grün-Sozialdemokratie-Herz-Jesu-Sozialisten-Katholiken-Protestanten-CDU-Spiegel-Zeit-FAZ & Co. leben ja gerade davon, dass sie im Grunde simple Welterklärungsmuster anbieten, die bei Bedarf mit bibliotheksfüllenden Papierbergen ("Varianten des Nichts") und der daraus folgenden Möglichkeit, auch dem letzten Honk noch durch bienenfleißiges Wiederkauen desselben einen Doktortitel zu ermöglichen, eben lediglich nur untermauert werden.

Andreas Walter

7. Juli 2018 11:14

@Kositza

Na, ein Querdenker sind Sie aber doch auch, oder? LOL

Kositza: Aber auf "hihihi", das Mädchen vorbehalten sein sollte, können Sie lange warten...

JoachimSondern

8. Juli 2018 17:10

"Die nun drohende Erosion der westeuropäischen Mittelschicht in der Abstiegsgesellschaft des neoliberalen Zeitalters" Genau so ist es. Die Mittelklasse ist sich niemals richtig bewusst geworden, welche Macht sie hat. Sie hat geschwiegen. Folglich keinesfalls verwunderlich, dass eine neue Studie offenbart, wie viele Kinder in Armut leben:

https://www.youtube.com/watch?v=wsQvAJ0azZ0

Der Mittelstand wurde massiv herabgewirtschaftet. Warum wohl?

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