Da Tano in Münster lebt und ich nur zwei Dörfer weiter, haben wir uns getroffen und über einen möglichen neuen Ansatz gesprochen.
MEYER: Tano, warum Anbruch und nicht Aufbruch?
GERKE: Aufbrüche haben wir schon viele gehabt, meist versanden sie nach kurzer Zeit. Anbrüche hingegen zeigen etwas auf, was der Aufmerksamkeit sonst entgehen könnte. Sie konfrontieren uns mit etwas, was man nicht übersehen sollte. Wir wollen das Eigene heben.
MEYER: Bei Jünger steht irgendwo der Satz: Bruchstellen sind Fundstellen – meinst du das in diesem Sinn? Wenn ja – was findet sich in den von dir thematisierten Anbrüchen?
GERKE: Wie du bin auch ich kein „Rechter von Haus aus“. Ich bin irgendwann mit Theoretikern in Berührung gekommen, die gemeinhin als eher rechts gelten – also mit Martin Heidegger, Mircea Eliade und dem von dir gerade erwähnten Ernst Jünger. Meine Frage an diese konservativen Geister war aber von Anfang an: Was können die Großen von gestern uns mit auf unseren Weg für morgen geben? Das war mir immer eine dringliche Frage. Denn wenn sie uns nichts für die Zukunft mitgeben können, sind sie nur überflüssiger Ballast.
MEYER: Du meinst: Der lebensweltliche Horizont, in dem ein Heidegger oder meinetwegen auch ein Carl Schmitt oder andere, noch weiter zurückliegenden Vordenker, das ihre bedachten, war ein gänzlich anderer als der unsere. Wir Heutigen sehen uns mit Dingen konfrontiert, die unsere geschätzten Vordenker sich nur in ihren schlimmsten Alpträumen ausmalen konnten und erst recht nicht ahnten, dass diese so schnell zur Realität der heutigen Lebenswelt werden – so wie die Folgen der kultur- und lebensraumzerstörenden Globalisierung oder das Projekt Menschheit 2.0, was in letzter Konsequenz nichts weniger bedeuten würde, als einen kompletten Neustart, bei dem der Mensch als bio- und datentechnologisches Mischwesen eher Frankensteins Labor als einem göttlichen Schöpfungsakt entstammt.
GERKE: Ganz genau. Auf uns kommt etwas zu, was mit den Begrifflichkeiten der großen Geister von einst kaum zu fassen ist. Nun meine ich nicht, dass diese Geister uns nichts mehr zu sagen haben – im Gegenteil. Wir müssen sie allerdings anders lesen und lernen neu zu interpretieren. Wir wollen das virulent machen, was in unser jetzigen Situation helfen kann, unser fast schon verloren gegangenes Eigenes wieder zu entdecken und zugleich mit neuem Leben zu füllen. Das ist ein Grundanliegen von Anbruch.
MEYER: Kurze Zwischenfrage: Ist das eigentlich ein Eigengewächs oder steht noch jemand dahinter?
GERKE: Ein Eigengewächs von mir und meinem Freund Oliver, der ebenfalls als aktiver Autor und Ideengeber mitarbeitet. Wie ein Gewächs Wasser und Dünger braucht, braucht anbruch.info allerdings auch eine wirtschaftliche Basis – also Spenden –, um weiter zu gedeihen.
MEYER: Diesen kleinen diskreten Spendenaufruf wollen wir gern unterstützen – alles Weitere findet sich ja auf der Seite. Reden wir ein wenig über das Eigene. Tano, du studierst Geschichte und Religionswissenschaften in Münster. Münster gibt für mich so eine Art Modell ab, an dem man das Verhältnis zum Eigenen gut studieren kann. Man sieht sich hier gern als eine im Kern zwar grundsolide und wertkonservative, aber ansonsten weltoffen-liberale Stadt: weltlichen Genüssen zugetan, gern jedermanns Freund, kulturell hoch ambitioniert und – der Katholikentag hat’s gerade erst gezeigt – geradezu umarmungssüchtig, solange das zu Umarmende nur weit genug von allem weg ist, was auch nur ansatzweise als irgendwie dissident oder rechts gelten könnte. Was fällt dir persönlich zu Münster ein?
GERKE: Münster verbinde ich mit dem Wort Fassade. Der nach der Zerstörung wiederaufgebaute Prinzipalmarkt, das Epizentrum der vermeintlich besser gesitteten Bürger, wirkt auf viele Menschen authentisch. Doch ist er es auch? Ich meine damit nicht so sehr, dass die Fassaden beim Wiederaufbau stark vereinfacht wiederhergestellt worden, das ist größtenteils weder Gotik noch Renaissance, sondern allenfalls eine auf moderne Konsum- und Freizeitbedürfnisse getrimmte Anmutung, so ähnlich wie im Disneyland.
Mehr noch finde ich das, was hinter der Fassade geschieht charakteristisch: An die Stelle der alteingesessenen inhabergeführten Geschäfte sind längst die weltweit vertretenen Ketten getreten. Münster verströmt einen Allerweltsflair und ist daher komplett zeitgeistkompatibel. Gleiches gilt für die Bewohner dieser Stadt, von deren Geschichte und Eigenart sie nur Vermutungen aufstellen können. Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele, so die Händler auf dem Wochenmarkt, die wirklich ein positives Verhältnis zu ihrem Handwerk und ihren Waren pflegen.
MEYER: Gewiss: Der Münster-Tatort der ARD mit Axel Prahl und Jan-Josef Liefers und die gleichfalls in Münster spielende Krimiserie „Wilsberg“ im ZDF sind dem heutigen Münsteraner aus Identitätssicht auf jeden Fall deutlich näher, als die hier geborene Annette von Droste-Hülshoff oder der hier immerhin verstorbene Johann Georg Hamann. Man gibt gern vor, eine westfälische Identität zu pflegen, weiß aber tatsächlich in seiner demonstrativ vorgelebten grenzenlosen Weltoffenheit schon lange nicht mehr, wer oder was man eigentlich ist.
Kommen wir wieder auf das Eigene zu sprechen, das, wie du sagst, zu heben ist. Wenn ich das Wort „heben“ höre, denke ich an ein Schiffswrack – das Schiff ist leck geschlagen, folglich untergegangen und muss nun gehoben werden. Ist unsere Identität nur noch ein Wrack?
GERKE: Man könnte diese Metapher wählen. Daran würde sich dann aber die Frage anschließen, kann man das Wrack restaurieren und wieder kursfähig machen? Wir Deutschen haben uns doch bereits vollständig im Weltbürgerlichen eingerichtet, auch wenn das konservative Milieu es nicht wahr haben will. Wir sind weniger daran interessiert zu erfahren, was uns von den anderen Kulturen unterscheidet, als das zu finden, was uns mit allen anderen verbindet.
Letzteres ist selbstverständlich nicht grundsätzlich schlecht, kann allerdings fatale Auswirkungen haben, wenn der Bezug zum Eigenen aufgelöst wurde. Folglich liegt in diesem Verbinden ein Verschwinden: Unser kulturelles Selbstbewusstsein ist nicht mehr tragfähig, weder im täglichen Leben des Einzelnen, noch für eine kulturelle Erneuerung – darin gleicht es dann eben eher einem Wrack.
MEYER: Nun gilt es ja allgemein als konservatives Anliegen, genau dieses kulturelle Selbstbewusstsein zu hegen und pflegen. Wenn wir es aber nur noch mit einem Wrack zu tun haben, scheinen weniger die Konservativen gefragt zu sein, als vielmehr Konservatoren, die das Wrack für künftige Ausstellungszwecke im Museum herrichten. Der Konservative findet sich dann allenfalls in einer Besucher- und Zuschauerrolle wieder, wie in der Münsteraner Innenstadt. Er will, das sollte man auch ehrlich zugeben, das Alte gar nicht zum Zwecke einer kulturellen Neubegründung wiederherstellen. Dazu gefällt ihm seine frisch erworbene, höchst komfortable und moralisch saubere Weltbürgerlichkeit viel zu sehr.
GERKE: Mehr noch. Der Konservative hätte, selbst wenn er wollte, nicht die ausreichenden intellektuellen Mittel. Er zieht es vor, sich seine Puppenstubenwelt zurechtzumachen und ein wenig am Weltgeschehen zu leiden. Auch bei ihm ist viel Fassade. Konservativ sein heißt eben gerade nicht, den Geist von einst wie in Einmachgläsern im Bücherregal aufzureihen, zumal niemand weiß, wie lange das Bücherregal noch hält. Man müsste den Geist vielmehr befreien und ihn mit dem Heute und dem Morgen konfrontieren. Das wäre dann lebendiger Geist.
MEYER: Wie könnte das ganz konkret aussehen?
GERKE: Wir müssen uns fremden Ideen öffnen, die aber näher an der Zeit und der aktuellen Lebenswelt sind. Das heißt, Denker bei uns aufnehmen, die man eher der politischen Gegenseite zuordnet, um dann einen großen Bogen um sie zu machen. Ich will mich hier nicht auf einzelne Personen festlegen, aber man könnte durchaus etwas von Adorno und seiner Theorie der Kulturindustrie lernen. Dabei geht es dann nicht darum, konkrete Inhalte im Sinne einer Welttheorie sich anzueignen, mit der nach linkem Muster alles und jedes erklär- und formbar wäre. Vielmehr geht es darum, sich Analyseinstrumente nutzbar zu machen. So könnten wir einen neuen, etwas anderen als den bloß konservativen Blick auf die Welt entwickeln, in der wir leben.
MEYER: Nun gibt es ja gerade im Bereich der Neuen Rechten durchaus das Bemühen, sich – wo immer es sinnvoll erscheint – der linken Theorie anzunehmen.
GERKE: Aber geschieht dies nicht meist unter der Perspektive, deren Schwachstellen nachzuweisen?
MEYER: Natürlich gibt es auch das. Doch hat man sich ja auf Seiten der Rechten längst beispielsweise die Vorgehensweise der linken Kommunikationsguerilla angeeignet und geht damit höchst produktiv und provokativ um. Auf der Winterakademie 2018 etwa wurde sogar angeregt, Marx für die rechte Seite fruchtbar zu machen. Da ging es – leider durchaus zum Unwillen von Teilen des Auditoriums – eben nicht darum, Marx vorzuführen. Sondern man ist sich hier einer eigenen Theorie- und vielleicht auch Charakterschwäche durchaus bewusst und sucht Schützenhilfe von drüben – rechte Theoretiker haben oft keinen Blick für ökonomische Probleme, soziale Fragen und das, was man „Gesellschaft“ nennt.
Empathie geht vielen hier völlig ab. Die sehen meist nur den Staat, sehen die Ordnungsprinzipien, sehen sich als so eine Art Polytechniker der Macht. Linke Theoretiker können uns helfen, die Prinzipien der Unordnung, die im Leben ja mindestens so stark wirken wie Ordnungsprinzipien, zu verstehen. Ich selbst komme ja mehr aus der anarchistischen Ecke und habe dort genau das gefunden: ein Gespür und eine Zuneigung für das, was sich eben nicht in eine Form pressen lässt, für wildes Wachstum, für den gern auch chaotischen Drang ins Freie und die Abneigung gegen anmaßend Begrenzendes.
Kurzum: die Liebe zum Leben. Bei Martin Heidegger und Ernst Jünger habe ich unterschwellig übrigens genau das auch gefunden – bei beiden spürte ich immer etwas Anarchisches im Untergrund. Bei vielen anderen Autoren der Rechten eher nicht. Der Ansatz von Anbruch.info geht da ja durchaus in eine ähnliche Richtung.
GERKE: Man könnte sogar noch eine weitere Schwäche der rechten oder konservativen Theorie benennen. Man redet gern von Gottes Schöpfung oder dem eigenen Verhältnis zur Natur und Umwelt, überlässt zugleich aber die ökologische Frage weitgehend den Linken.
MEYER: Weitgehend, aber nicht vollständig. Es gibt ja durchaus die ökologisch Bewegten in diesem Umfeld. Sie dehnen den biologischen Naturschutzgedanken und den auch sozial aspektierten Umweltschutzgedanken auf den kulturell begründeten Heimatschutzgedanken aus, das ist der wesentliche Unterschied zwischen linken und rechten Ökos. Was durchaus konsequent ist – Grüne bekämpfen zwar Neobioten wie den Waschbären oder das indische Springkraut, sind zugleich aber vehemente Befürworter kultureller Einwanderung. Hier gilt der Schutzgedanke für das Eigene, das schon immer – oder zumindest seit dem Ausgang der letzten Eiszeit – hier Behauste und Heimische nicht.
GERKE: Selbstverständlich kann man den Anbruch-Gedanken auch in diese Richtung ausdehnen. Mit Anbruch-Konzept geht es mir aber eben nicht so sehr um aktuelle politische Fragen, um das politische Tagesgeschäft. Das kann man mir ruhig als Kritikpunkt vorwerfen, dass wir uns da raushalten. Wir suchen nach Möglichkeiten, einen neuen, eigentlichen Blick auf zu Welt zu erarbeiten.
MEYER: Damit besetzt du eine Position, die eigentlich traditionell von der Sezession gepflegt wurde.
GERKE: Aber seit zwei, drei Jahren weniger gepflegt wird, wie mir scheint. Und zwar zugunsten eines konkreten, gewissermaßen natürlich gerechtfertigten, politischen Engagements. Das aber führt uns nach meinem Empfinden weg von unserem Kernanliegen: Der Fruchtbarmachung der eigenen Wurzeln, die Ausgrabung der verschütteten Quellen, der Freilegung unserer Fundamente und vor allem, die Wiederbelebung all dieser Elemente, um sie zukunftsfähig zu machen. Diesen Ansatz sehe ich aber nicht als Konkurrenz, sondern eher als etwas, was sich sinnvoll ergänzen läßt.
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Netzseite: anbruch.info
RMH
Sehr interessantes Gespräch! Werde mir den Blog auf jeden Fall einmal näher anschauen.
Zitat
"aber man könnte durchaus etwas von Adorno und seiner Theorie der Kulturindustrie lernen."
Hier fühle ich mich ein bisschen bestätigt - habe ich doch schon seit Jahren hier mehrfach geschrieben, dass das Werk "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer/Adorno geradezu nach einer rechten Entdeckung/Aufarbeitung ruft - zumal es angeblich ein "Kultbuch" der 68er war, von denen die Masse es offenbar gar nicht gründlich gelesen oder verstanden zu haben scheint.
Alleine die raunenhafte Sprache des Kapitels "Odysseus oder Mythos und Aufklärung" zeigt die tiefe Verwurzelung der Denker im Abendland und allem, was vor dem Kriege war. Da lässt sich Honig daraus saugen.