Wenn hier von einem Prozeß die Rede ist, dann deshalb, weil die Veränderung zum Teil unwiderstehlich war, Ergebnis säkularer Entwicklungen, die von niemandem beherrscht wurden und von einem Mentalitätswandel begleitet waren, der seinen Niederschlag kaum in der Geistes- und Ideengeschichte finden konnte.
Es gibt allerdings Ausnahmen von dieser Regel. Darauf hat Joachim Fischer unlängst mit seiner Untersuchung zur Philosophischen Anthropologie hingewiesen. Gemeint ist jene in manchem typisch deutsche Frage nach dem Wesen des Menschen und den sozialen wie politischen Implikationen, die deren Klärung nach sich zieht.
Eine zentrale Rolle für die Stellung der Philosophischen Anthropologie in der Nachkriegszeit spielte der Konflikt zwischen Arnold Gehlen und Jürgen Habermas. Die Auseinandersetzung war nicht von Anfang an abzusehen, bedenkt man, daß Habermas zu den Schülern Erich Rothackers gehörte, der selbst zu den Protagonisten der Philosophischen Anthropologie gehörte. Allerdings zählte Rothacker zur älteren Generation und wurde 1954 emeritiert. Habermas wechselte nach Frankfurt, wo er als Assistent zu Theodor W. Adorno kam, neben Max Horkheimer das Haupt der »Frankfurter Schule«. Zu diesem Zeitpunkt stellte sich Adorno deutlicher gegen die Philosophische Anthropologie, und seine Feindseligkeit galt in erster Linie Gehlen, dem er auch sein Engagement für den Nationalsozialismus nachtrug, den er aber vor allem als Konkurrenten um wissenschaftliche und außerwissenschaftliche, politisch-weltanschauliche Positionen betrachtete.
Adorno hat deshalb, wie Fischer darlegt, seinen Einfluß geltend gemacht, um die von Karl Löwith unterstützte Berufung Gehlens auf einen Lehrstuhl in Heidelberg zu hintertreiben. Sein Assistent Habermas mußte dazu Kärrnerarbeit leisten und eine Reihe belastender »Stellen« sammeln, die Adorno nicht nur in seinem eigenen Gutachten verarbeitete, sondern auch Horkheimer zur Verfügung stellte, der gleichfalls um eine Einschätzung gebeten worden war. Die Intrige hatte den gewünschten Erfolg und Gehlens Berufung scheiterte.
Habermas war zu diesem Zeitpunkt längst mit Gehlens Denken vertraut und hat an prominenter Stelle – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – nicht nur das von Gehlen mit Helmut Schelsky herausgegebene Sammelwerk Soziologie besprochen, sondern auch Urmensch und Spätkultur. Zwischen den Rezensionen waren deutliche Akzentverschiebungen feststellbar. Während im ersten Fall der Respekt überwog, Habermas sprach vom »Comeback der deutschen Soziologie«, das mit dem Band eingeleitet worden war, verschärfte sich im zweiten der kritische Ton. Habermas würdigte durchaus Originalität und Qualität des Ansatzes von Gehlen, aber gegen die hier entfaltete Institutionenlehre meldete er prinzipielle Vorbehalte an: »… wie sehr sich Gehlen auch souverän vom ›Pädagogisch-Agitatorischen‹ absetzt, seine prononcierten Kommentare zur gegenwärtigen Lage sind nun einmal tendenziös und implizit auf eine Veränderung dieser Lage abgestellt«, und: »Dieses Buch trägt die Hypothek langfristig angestauter Ressentiments.« Was Habermas besonders aufbrachte, war die von Gehlen skizzierte Ausweglosigkeit der Lage, bedingt durch die Notwendigkeit, dem »Mängelwesen« Mensch eine stabile »zweite Natur« zu vermitteln, einerseits, durch die Formierung in der modernen Gesellschaft, die das Gefühl der Entfremdung notwendig steigern mußte, andererseits. Mit eben dieser tragischen Konstellation wollte Habermas sich nicht abfinden. Wenn in der »konkurrenzgesellschaftlich organisierten Angestelltenzivilisation die … Individuen zu Umschlagplätzen institutioneller Anweisungen« degenerierten und die »Konsumsteigerung entzieht, indem sie gibt«, dann müsse man »diesen Zustand falsch dimensionierter Institutionalisierung« überwinden, »in Richtung auf eine balancierte Vermittlung von Institution und Individuum, nicht in Richtung auf die Liquidation des einen durch das andere«.
Es wäre im einzelnen zu prüfen, ob Gehlen tatsächlich die »Liquidation« des Individuums durch die Institution wünschte, aber ohne Zweifel hat er in Urmensch und Spätkultur den Akzent ganz auf die Institution gesetzt, die Notwendigkeit der Einordnung wie des Verzichts mit Nachdruck betont und damit Habermas in besonderer Weise gereizt. Das wird überdeutlich an einem Text, der eine Schlüsselbedeutung für die Auseinandersetzung zwischen beiden gewann: dem Artikel »Anthropologie«, den Habermas für das sehr verbreitete Fischer-Lexikon Philosophie schrieb. Das Bild, das er damit von der Philosophischen Anthropologie als Denkrichtung zeichnete, wird in vieler Hinsicht und vor allem für die jüngere Generation in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften prägend gewesen sein. Dabei lieferte Habermas einen ebenso umfassenden wie kompetenten Abriß der Entwicklung der gesamten Vorgeschichte bis hin zu Max Schelers Annahme der »Weltoffenheit« des Menschen, Helmuth Plessners »Stufen des Organischen« und den besonderen Bedingungen der conditio humana, der Synthese Rothackers und der theoretischen Konzeption Gehlens. In dem Zusammenhang wird dann allerdings auch erkennbar, daß es Habermas weniger um die sachliche Darstellung als um die Möglichkeit zu einem weiteren Angriff auf Gehlen ging.
Dem warf Habermas einerseits Naivität vor – er reklamiere etwas wie das »Bewußtsein überhaupt« – und andererseits Ideologie – er behaupte eine »Grundlagenwissenschaft« zu vertreten, von der alle andere Lehre vom Menschen und seinen sozialen Bezügen abhänge. Wolle die Philosophische Anthropologie »kritisch« sein, müsse sie sich aber über ihre Situation klarwerden, was heiße, daß sie ihre Abhängigkeit von den Bedingungen der kapitalistischen Industriegesellschaft zu erkennen habe. Erst dann könne sie ihre Mittlerstellung zwischen Biologie und Soziologie ausfüllen. Als Modell schlug Habermas ausgerechnet die Verknüpfung von Psychoanalyse und Gesellschaftswissenschaft durch Herbert Marcuse, den Kopf des radikalen Flügels der »Frankfurter«, vor.
Das Fischer-Lexikon Philosophie erschien 1958, zu einem Zeitpunkt, als die Bundesrepublik in die – entscheidende – zweite Phase ihrer Entwicklung eintrat. Der Wiederaufbau war abgeschlossen, das Wirtschaftswunder eingeleitet, die Stabilisierung der politischen Ordnung weit gediehen. In dieser Lage verbreitete sich die Erwartung zunehmender Normalität, die fundiert schien durch den Erfolg der gesellschaftlichen »Restauration« und den Abschluß der großen, noch sehr stark weltanschaulich bestimmten politischen Debatten um Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung. Diese Erwartung trog indes, und den Artikel von Habermas kann man auch als Indikator des allmählichen Klimawandels betrachten, der das Sozialsystem Bundesrepublik erfaßte. Man mochte Vorgänge wie die endgültige Rückkehr Gehlens in die akademische Welt – er übernahm einen Lehrstuhl für Soziologie in Aachen – beruhigend finden, faktisch bahnte sich eine dramatische Veränderung an, und die Erosion des Einflusses konservativer Kräfte war ein Vorzeichen für das, was gesamtgesellschaftlich bevorstand. In den Jahren zwischen zweiter Berlinkrise und Mauerbau fielen jene Entscheidungen, die ganz wesentlich zur Klärung der ideologischen Machtverhältnisse beitrugen.
Wenn Habermas Gehlen also den pessimistischen Grundzug seiner Lehre vorwarf, seine Forderung, Askese zum Prinzip jeder institutionellen Organisation zu machen, so hatte das mit der – berechtigten – Sorge zu tun, hier werde die theoretische Grundlage für ein Programm geschaffen, das Möglichkeit oder Wünschbarkeit der großen Emanzipation nachhaltig in Frage stellte. Die gehörte aber zu den Kernforderungen von Habermas, der in der Frankfurter Schule als »Linker« galt, weil seine Vorstellungen nicht bei einer eher moderaten Kritik der bürgerlichen Gesellschaft stehenblieben, sondern diese prinzipiell in Frage stellten und mit Formulierungen arbeiteten, die wegen ihres egalitären und antikapitalistischen Tenors als verkappte Revolutionsforderungen gelesen werden konnten. Daß die Entwicklung in den sechziger Jahren dem entgegenkam und ihn in die Position eines Vordenkers der Außerparlamentarischen Opposition brachte, war nicht von Anfang an absehbar, und die Auseinandersetzung um die Philosophische Anthropologie trat in den Hintergrund gegenüber anderen Themen, deren Diskussion drängender zu sein schien. Erst die »neokonservative« Gegenbewegung, die intellektuell ganz wesentlich von Soziologen wie Gehlen, Schelsky, Erwin K. Scheuch und Helmut Schoeck getragen wurde, führte dazu, daß die damit zusammenhängenden Fragen wieder aufgenommen werden mußten.
Intern hat Gehlen sein Buch Moral und Hypermoral als Der Mensch III (Der Mensch = I; Urmensch und Spätkultur = II) bezeichnet und mit dessen Erscheinen 1969 nicht nur eine Ethik vorgelegt, die von der Grundannahme ausging, daß die verschiedenen Kreise der Ethik – Familienethik, Politische Ethik, Humanitäre Ethik – von nicht aufeinander zurückführbaren Prinzipien ausgingen. Das eigentliche Skandalon seines Textes war allerdings die Dekadenz-Diagnose, die Behauptung, daß die Industriegesellschaft, verführt durch die Intellektuellen, einer eudämonistischen Tendenz zum Opfer falle, die letztlich in die Auflösung führen werde. Angesichts dessen veröffentlichte Habermas im Merkur einen Aufsatz, der unter dem Titel »Nachgeahmte Substantialität« erschien und eine prinzipielle Kritik mit dem – jetzt ganz offen geäußerten – Vorwurf verband, hier werde die Konterrevolution vorbereitet: »Ein im Dreieck Carl Schmitt, Konrad Lorenz, Arnold Gehlen entwickelter Institutionalismus könnte leicht das Maß an Breitenglaubwürdigkeit erhalten, das kollektiven Vorurteilen genügt, um virulente Aggressivität zu entbinden und gegen innere Feinde mangels äußerer zu richten.«
Das war angesichts der kaum abgeebbten Empörung über die Notstandsgesetze und des universitären Jargons, der permanent von der »protofaschistischen«, »faschistischen« oder »faschistoiden« Bundesrepublik sprach, nicht einfach dahingesagt, sondern eine gezielte Denunziation, die Habermas nur deshalb nicht als solche empfand, weil er sich in der Position des moralisch überlegenen Mahners und Warners sah. Rüdiger Altmann, den die Redaktion des Merkur um eine Stellungnahme zur »Sache Habermas contra Gehlen« bat, wies allerdings darauf hin, daß Habermas die Denunziation auch als Teil einer Rundumrückversicherung sah: Sollte die Linke das System wider Erwarten doch ernsthaft in Gefahr bringen und eine entsprechend heftige – von Gehlen offenbar gewünschte – Reaktion erfolgen, blieb Habermas noch die Rolle als Weltkind in der Mitten.
Habermas’ Entwurf der nachkapitalistischen Gesellschaft, die von Diskurs und Öffentlichkeit und gesellschaftlicher Kontrolle der Produktion bestimmt sein sollte, bot zwar wenig konkrete Anhaltspunkte für politische Verwirklichung und den Achtundsechzigern kaum die Parolen, die sie begehrten, spielte aber für das Bewußtsein der neuen »liberalen« Mittelschichten eine erhebliche Rolle. Der Aufstieg von Habermas zum einflußreichsten Intellektuellen der Bundesrepublik beruhte ganz wesentlich auf dieser Affinität und dem gemeinsamen Widerwillen gegen das, was er als »Institutionalismus« apostrophiert hatte. Denn das »Dreieck Carl Schmitt, Konrad Lorenz, Arnold Gehlen« bezeichnete tatsächlich die Konturen eines alternativen Denkmodells, dem – so oder so – die Einsicht Schmitts vom elementaren Zusammenhang zwischen Anthropologie und Politik zugrunde gelegen hätte: »Man könnte alle Staatstheorien und alle politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen, ob sie, bewußt oder unbewußt, einen ›von Natur bösen‹ oder einen ›von Natur guten‹ Menschen voraussetzen. … Entscheidend ist die problematische oder unproblematische Auffassung des Menschen als Voraussetzung jeder weiteren politischen Erwägung, die Antwort auf die Frage, ob der Mensch ein ›gefährliches‹ oder ungefährliches, ein riskantes oder ein harmlos nicht-riskantes Wesen ist.« Wobei alle »echten politischen Theorien« den Menschen selbstverständlich als »böse« voraussetzten.
Man wird den ganzen Konflikt zwischen Habermas und Gehlen, der wesentlich aus den Angriffen von Habermas und der Verweigerung jeder Replik durch Gehlen bestand, als Teil jenes Prozesses betrachten müssen, mit dem die »Verwestlichung« Nachkriegsdeutschlands abgeschlossen wurde. Das ging noch über die Intention hinaus, die intellektuelle Rechte zu entmachten und ihr Erbe – die »echten politischen Theorien« – des Einflusses zu berauben. Vielmehr sollten jene Elemente in der geistigen Tradition getroffen werden, die in der Vergangenheit immer wieder eine Reserve gegenüber dem angelsächsischen und französischen Modell begründet hatten. Sowenig die APO und die Neue Linke antiamerikanisch au fond waren – sie kopierten noch in ihrer Kritik Amerikas das amerikanische Vorbild –, sowenig darf man sich von den Marxismen in den Texten von Habermas irritieren lassen. Letztlich ging es ihm darum, das zu treffen, was er als gefährliches und unerträgliches, weil deutsches Denken empfand.