Ein Roman ist dies von seiner Struktur her. Angela Rohrs Lager entbehrt jedoch der Fiktionalität. Eine Autobiographie liegt hier gleichwohl nicht vor, denn die Zeit zwischen Rohrs Verurteilung zu fünfjähriger Lagerhaft und die anschließende»Ewige Verbannung« bis zur Rehabilitierung 1957 umfaßt nicht mehr und nicht weniger als 16 Jahre eines Lebens, das 95 Jahre währen sollte.
Was Angela Rohr hier, in relativer Chronologie geordnet, über ihre Zeit als inhaftierte Lagerärztin in Westsibirien schrieb, entzieht sich der Faßbarkeit. Faßbar ist: Angela Müllner wurde 1890 in Mähren geboren, besuchte die höhere Schule in Wien, verließ als Siebzehnjährige ihre Familie, wurde früh Mutter, studierte Medizin.
Sie veröffentlichte erste literarische Versuche, hatte engen Kontakt zu Dada-Kreisen, befreundete sich mit Rilke, später mit Bertolt Brecht.Sie war oft (schwer)krank, ihrem dritten, deutlich jüngeren Mann Wilhelm Rohr folgte sie nach Moskau.
Eine der Photographien, die dem Roman angehängt sind, zeigt Angela Rohr im Pelzmantel während einer Forschungsreise nach Sibirien: eine schöne dunkelhaarige Frau, ernster Ausdruck, Kinn erhoben. Den klaren, gleichsam unerschütterlichen Blick wird sie noch in ihren Altersporträts zeigen. Rohr spezialisierte sich nach psychoanalytischen Abstechern auf Hämatologie, nebenbei arbeitete sie für lange Jahre als Rußlandkorrespondentin für die Frankfurter Zeitung.
Wie zahlreiche Exildeutsche wurde sie 1941 unter Spionagevorwurf verhaftet. Lagersetzt 1942 ein. Es ist ein Bericht, der nicht nur formal ohne Ausrufezeichen auskommt, er ist vom Inneren her eine nüchterne, nie zynische Dokumentation des Grauens. Das also können Menschen Menschen antun – wenn erstere Rädchen im Getriebe einer Mordmaschinerie sind und letztere als Brennstoff für den Motor begriffen werden. Rohr hält sich weder mit lokalen Gegebenheiten auf – ein Satz reicht ihr hin zur Beschreibung einer Landschaft, zur Bewehrung eines Lagers – noch mit Erklärungs- und psychologischen Ergründungsversuchen.
Sie schildert die Fährnisse. Die Auswirkungen von Hunger in Kombination mit einer unmenschlichen Arbeitsnorm (erst bei Unterschreitung des halben »Normgewichts« gilt man als arbeitsunfähig), dazu katastrophale hygienische Zustände bestimmen ihr Wirken als Ärztin.
Sie erzählt von Frauen, die gefrorene Kartoffeln aus dem Vorjahr ausgruben und den halbaufgetauten Brei aßen, von Häftlingen, die massenweise Kasein tranken, das zur Pappmachéherstellung gedacht war, von Kaugummi aus Steinkohleteer, von Männern, die unverdaute Maiskörner aus dem Klosett klaubten, von anderen, die süße Schierlingswurzeln am Flußufer ausgruben und daran erbärmlich verreckten – dies, obgleich sie diesen grausamen Tod selbst vielfach beobachten konnten. Rohr fand übrigens ein Mittel, Vergiftungen durch Wasserschierling zu kurieren.
Hin und wieder muß Rohr für andere als ärztliche Tätigkeiten herhalten. Einmal fällt sie unter größter Anstrengung 28 Bäume um zu hören, daß 120 die Norm gewesen wären. Es fehlt nicht an absurden Tätigkeiten: das Formen von Papptierchen gehört dazu. Wochenlang sitzt Rohr über fragilen Schwanenhälsen.
Eine – privilegierte – Mitgefangene ist bestellt, mit der Gabel appetitliche Muster in die spärliche Gerstenbreiration zu drücken. Eine spätere Aufgabe der Ärztin wird darin bestehen, wochenlang ausschließlich Fäzes (also: Stuhlgänge) zu begutachten. Ein anderes Mal ist Rohr beordert, aus Waggonladungen von (deutschen) Uniformmänteln Stücke zu reißen. Daraus werden Matratzen gefertigt; Bettlager voll verkrusteten Blutes.
Über all die Jahre ist Rohrs wichtigstes Arbeitsfeld, Arbeitsfähige von ‑unfähigen zu scheiden. Die Gulaginsassen haben normalerweise zwei Interessen: Stillung des Hungers, Entlastung von der Zwangsarbeit. Rohr beschreibt eine Vielzahl von Methoden, sich zu schädigen, ohne den (strafbewehrten) Verdacht der Selbstverletzung auf sich zu ziehen: wie Männer (deren Achselbereich zu mager ist, um ein Thermometer halten zu können) im Wald auf ihr Bein urinieren, um sich Erfrierungen zuzuziehen; wie sich Frauen einen Faden erst durch die kariösen Zähne, dann durch die Brust ziehen, um bestimmte Krankheitssymptome hervorzurufen; wie Zucker als krankmachendes Inhalat hoch gehandelt wird; wie sich Gefangene Hülsenfrüchte in den After stopfen, um nach blutiger Prozedur einen Anusvorfall zu markieren; wie man mit Tintenminenstiften, unters Augenlid gebracht, Blindheit hervorrufen kann.
Hohes Fieber wird erreicht, wenn man kurz einen Teil einer Rizinusbohne in einen Wundschlitz einführt – dumm, wenn das Bohnenstückchen subkutan verschwindet. Zahlreiche Frauen lassen sich »Kinder machen«; erstens, weil Schwangeren eine höhere Brotration zusteht, zweitens, weil das Gerücht geht, Mütter würden entlassen …
Nach der Lektüre denkt man nochmal anders über das vergangene Jahrhundert.
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