Angela Rohr: Lager

Angela Rohr: Lager, Berlin: Aufbau 2015. 445 S., 22.95 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Ein Roman ist dies von sei­ner Struk­tur her. Ange­la Rohrs Lager ent­behrt jedoch der Fik­tio­na­li­tät. Eine Auto­bio­gra­phie liegt hier gleich­wohl nicht vor, denn die Zeit zwi­schen Rohrs Ver­ur­tei­lung zu fünf­jäh­ri­ger Lager­haft und die anschließende»Ewige Ver­ban­nung« bis zur Reha­bi­li­tie­rung 1957 umfaßt nicht mehr und nicht weni­ger als 16 Jah­re eines Lebens, das 95 Jah­re wäh­ren sollte.

Was Ange­la Rohr hier, in rela­ti­ver Chro­no­lo­gie geord­net, über ihre Zeit als inhaf­tier­te Lager­ärz­tin in West­si­bi­ri­en schrieb, ent­zieht sich der Faß­bar­keit. Faß­bar ist: Ange­la Müll­ner wur­de 1890 in Mäh­ren gebo­ren, besuch­te die höhe­re Schu­le in Wien, ver­ließ als Sieb­zehn­jäh­ri­ge ihre Fami­lie, wur­de früh Mut­ter, stu­dier­te Medizin.

Sie ver­öf­fent­lich­te ers­te lite­ra­ri­sche Ver­su­che, hat­te engen Kon­takt zu Dada-Krei­sen, befreun­de­te sich mit Ril­ke, spä­ter mit Ber­tolt Brecht.Sie war oft (schwer)krank, ihrem drit­ten, deut­lich jün­ge­ren Mann Wil­helm Rohr folg­te sie nach Moskau.

Eine der Pho­to­gra­phien, die dem Roman ange­hängt sind, zeigt Ange­la Rohr im Pelz­man­tel wäh­rend einer For­schungs­rei­se nach Sibi­ri­en: eine schö­ne dun­kel­haa­ri­ge Frau, erns­ter Aus­druck, Kinn erho­ben. Den kla­ren, gleich­sam uner­schüt­ter­li­chen Blick wird sie noch in ihren Alters­por­träts zei­gen. Rohr spe­zia­li­sier­te sich nach psy­cho­ana­ly­ti­schen Abste­chern auf Häma­to­lo­gie, neben­bei arbei­te­te sie für lan­ge Jah­re als Ruß­land­kor­re­spon­den­tin für die Frank­fur­ter Zeitung.

Wie zahl­rei­che Exil­deut­sche wur­de sie 1941 unter Spio­na­ge­vor­wurf ver­haf­tet. Lagersetzt 1942 ein. Es ist ein Bericht, der nicht nur for­mal ohne Aus­ru­fe­zei­chen aus­kommt, er ist vom Inne­ren her eine nüch­ter­ne, nie zyni­sche Doku­men­ta­ti­on des Grau­ens. Das also kön­nen Men­schen Men­schen antun – wenn ers­te­re Räd­chen im Getrie­be einer Mord­ma­schi­ne­rie sind und letz­te­re als Brenn­stoff für den Motor begrif­fen wer­den. Rohr hält sich weder mit loka­len Gege­ben­hei­ten auf – ein Satz reicht ihr hin zur Beschrei­bung einer Land­schaft, zur Beweh­rung eines Lagers – noch mit Erklä­rungs- und psy­cho­lo­gi­schen Ergründungsversuchen.

Sie schil­dert die Fähr­nis­se. Die Aus­wir­kun­gen von Hun­ger in Kom­bi­na­ti­on mit einer unmensch­li­chen Arbeits­norm (erst bei Unter­schrei­tung des hal­ben »Norm­ge­wichts« gilt man als arbeits­un­fä­hig), dazu kata­stro­pha­le hygie­ni­sche Zustän­de bestim­men ihr Wir­ken als Ärztin.

Sie erzählt von Frau­en, die gefro­re­ne Kar­tof­feln aus dem Vor­jahr aus­gru­ben und den halb­auf­ge­tau­ten Brei aßen, von Häft­lin­gen, die mas­sen­wei­se Kase­in tran­ken, das zur Papp­ma­ché­her­stel­lung gedacht war, von Kau­gum­mi aus Stein­koh­le­teer, von Män­nern, die unver­dau­te Mais­kör­ner aus dem Klo­sett klaub­ten, von ande­ren, die süße Schier­lings­wur­zeln am Fluß­u­fer aus­gru­ben und dar­an erbärm­lich ver­reck­ten – dies, obgleich sie die­sen grau­sa­men Tod selbst viel­fach beob­ach­ten konn­ten. Rohr fand übri­gens ein Mit­tel, Ver­gif­tun­gen durch Was­ser­schier­ling zu kurieren.

Hin und wie­der muß Rohr für ande­re als ärzt­li­che Tätig­kei­ten her­hal­ten. Ein­mal fällt sie unter größ­ter Anstren­gung 28 Bäu­me  um zu hören, daß 120 die Norm gewe­sen wären. Es fehlt nicht an absur­den Tätig­kei­ten: das For­men von Papp­tier­chen gehört dazu. Wochen­lang sitzt Rohr über fra­gi­len Schwanenhälsen.

Eine – pri­vi­le­gier­te – Mit­ge­fan­ge­ne ist bestellt, mit der Gabel appe­tit­li­che Mus­ter in die spär­li­che Gers­ten­brei­ra­ti­on zu drü­cken. Eine spä­te­re Auf­ga­be der Ärz­tin wird dar­in bestehen, wochen­lang aus­schließ­lich Fäzes (also: Stuhl­gän­ge) zu begut­ach­ten. Ein ande­res Mal ist Rohr beor­dert, aus Wag­gon­la­dun­gen von (deut­schen) Uni­form­män­teln Stü­cke zu rei­ßen. Dar­aus wer­den Matrat­zen gefer­tigt; Bett­la­ger voll ver­krus­te­ten Blutes.

Über all die Jah­re ist Rohrs wich­tigs­tes Arbeits­feld, Arbeits­fä­hi­ge von ‑unfä­hi­gen zu schei­den. Die Gulag­insas­sen haben nor­ma­ler­wei­se zwei Inter­es­sen: Stil­lung des Hun­gers, Ent­las­tung von der Zwangs­ar­beit. Rohr beschreibt eine Viel­zahl von Metho­den, sich zu schä­di­gen, ohne den (straf­be­wehr­ten) Ver­dacht der Selbst­ver­let­zung auf sich zu zie­hen: wie Män­ner (deren Ach­sel­be­reich zu mager ist, um ein Ther­mo­me­ter hal­ten zu kön­nen) im Wald auf ihr Bein uri­nie­ren, um sich Erfrie­run­gen zuzu­zie­hen; wie sich Frau­en einen Faden erst durch die kariö­sen Zäh­ne, dann durch die Brust zie­hen, um bestimm­te Krank­heits­sym­pto­me her­vor­zu­ru­fen; wie Zucker als krank­ma­chen­des Inha­lat hoch gehan­delt wird; wie sich Gefan­ge­ne Hül­sen­früch­te in den After stop­fen, um nach blu­ti­ger Pro­ze­dur einen Anus­vor­fall zu mar­kie­ren; wie man mit Tin­ten­mi­nen­stif­ten, unters Augen­lid gebracht, Blind­heit her­vor­ru­fen kann.

Hohes Fie­ber wird erreicht, wenn man kurz einen Teil einer Rizi­nus­boh­ne in einen Wund­schlitz ein­führt – dumm, wenn das Boh­nen­stück­chen sub­ku­tan ver­schwin­det. Zahl­rei­che Frau­en las­sen sich »Kin­der machen«; ers­tens, weil Schwan­ge­ren eine höhe­re Brot­ra­ti­on zusteht, zwei­tens, weil das Gerücht geht, Müt­ter wür­den entlassen …

Nach der Lek­tü­re denkt man noch­mal anders über das ver­gan­ge­ne Jahrhundert.

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Ange­la Rohrs Lager kann man hier bestel­len

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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